Welche Rolle kann die UNO bei der Gestaltung einer neuen Weltordnung spielen?

Sehr geehrte Damen und Herren,

Totgesagte leben länger. Dies gilt auch für die Vereinten Nationen. Zu ihnen gibt es nach wie vor keine Alternative. Vielmehr werden die Vereinten Nationen wichtiger denn je sein:

  • Für die entwickelten Staaten, weil nur die Vereinten Nationen einen Ordnungsrahmen bieten, um weltweit gegen Terror und Staatszerfall vorzugehen.
  • Für die armen Länder, weil nur die Vereinten Nationen die Beharrlichkeit aufbringen, gegen Armut und Unterentwicklung anzukämpfen.
  • Und für die ganze Welt, weil nur die Vereinten Nationen als Völkerforum verhindern können, dass sich neue Blöcke in Konfrontation gegenüberstehen.
  • Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts gibt es endlich wieder eine Chance für die Vereinten Nationen. Wir haben die Verantwortung, diese Chance zu ergreifen. Vor allem so große und wichtige Nationen wie die VR China sollten aktiv hieran mitwirken. Die Folgen der Globalisierung lassen sich ohne enge Kooperation nicht meistern. Neben dem Willen, Verantwortung zu übernehmen muss es eine weitere Konsequenz gezogeb werden: Die Vereinten Nationen müssen reformiert werden.

UN-Reform

Der Reformbedarf ist offenkundig. Nicht nur die Charta, sondern auch die Organe und die Sonderorganisationen müssen verändert und verbessert werden. Im Mittelpunkt der gegenwärtigen Debatte steht der Weltsicherheitsrat. Trotz Kosovo und Irak - es bleibt dabei: Die letztendliche Verantwortung für Sicherheit und Frieden liegt nach wie vor beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Mächtige Staaten, Regionalorganisationen und "coalitions of the willing" können nicht für sich in Anspruch nehmen, über Krieg und Frieden zu entscheiden. Sie dürfen nur dann handeln, wenn eine entsprechende Ermächtigung des Sicherheitsrates vorliegt. Dabei dürfen wir nicht vergessen: der Sicherheitsrat ist nicht in erster Linie dafür da, Gewalt zu legitimieren. Seine Funktion besteht darin, Konflikte friedlich beizulegen.

Wir dürfen das Erreichte nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Die Übertragung des Gewaltmonopols vom Nationalstaat auf eine internationale Organisation war die richtige Konsequenz aus zahllosen Kriegen. Dahinter dürfen wir nicht mehr zurückfallen  Nur der Sicherheitsrat hat die völkerrechtliche Legitimation, um Gefährdungen des Weltfriedens entgegenzutreten. Hierfür muss man ihm aber auch die entsprechenden Mittel zur Verfügung stellen. Die Klagen über die Schwächen des Sicherheitsrates sind berechtigt - die Ursachen dieser Schwächen sind allerdings die Staaten selbst. Die Reform des Rates muss deshalb auch als Chance begriffen werden, die Autorität des Systems wieder herzustellen.

Die Zusammensetzung des Sicherheitsrates spiegelt nicht mehr die Gestalt des internationalen Systems wider. Weder der Süden - Lateinamerika, Afrika, Südostasien - noch Industriestaaten wie Japan und Deutschland sind dauerhaft vertreten. Die Folge: Die Welt wird vom Rat nicht adäquat repräsentiert. Eine Reform der Vereinten Nationen muss daher den Sicherheitsrat um neue ständige Mitglieder erweitern  Deshalb sollten wir jetzt den Sicherheitsrat in seiner Gestalt verändern.

Ein ständiger Sitz für Deutschland?

Wie sie wissen, strebt auch Deutschland in einer reformierten Weltorganisation einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat an. Deutsche Außenpolitik steht für Multilateralismus, Interessenausgleich und für das Völkerrecht. Als drittgrößter Beitragszahler der Vereinten Nationen muss und will Deutschland daher seiner Verantwortung auch im Sicherheitsrat, gerecht werden.

Ein "europäischer Sitz" im Sicherheitsrat hätte zwar einen größeren Fortschritt bedeutet. Mit dem europäischen Außenminister hätte eine ganz neue Art von Vertretung am Tisch Platz genommen. Aber: wir verfügen noch längst nicht über eine effektive und einheitliche europäische Außenpolitik.  Auch erlaubt die heutige Charta der Vereinten Nationen nur Staaten einen Sitz in der Weltorganisation. Zudem betrachten Großbritannien und Frankreich ihren Stuhl als unverzichtbar. Gegenwärtig ist deshalb nicht zu sehen, wie sich diese Interessen zugunsten eines europäischen Sitzes auflösen lassen.

Etwas Weiteres sollte zudem nicht vergessen werden: So wichtig eine Reform des Sicherheitsrates meiner Überzeugung nach auch ist - man darf die Debatte nicht auf die Erweiterung des Sicherheitsrates verengen. Zudem bestehen begründete Zweifel, ob es tatsächlich zu einer Veränderung des Sicherheitsrats kommen wird. Erforderlich ist hierfür die Zustimmung von zwei Dritteln der 191 Mitgliedsstaaten, darunter aller fünf ständigen Mitglieder. Bedauerlicherweise haben aber genau jene Staaten, deren Zustimmung für eine Reform unabdingbar ist, offenbar das geringste Interesse an einer solchen. Keines der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates ist derzeit bereit, sein Vetorecht aufzugeben und selbst die Zustimmung zu seiner Erweiterung ist alles andere als gesichert.

Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der immer wieder betont werden muss. Die Vereinten Nationen bestehen nicht nur aus der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat. Sie beheimaten vielmehr zahlreiche Organisationen, die für eine friedliche und humane Entwicklung unverzichtbar sind. Besonders diese Institutionen müssen in Zukunft handlungsfähiger werden. Nur dann können die Vereinten Nationen ihren Auftrag erfüllen, "die Menschheit von der Geißel des Krieges zu befreien".

Regionalisierung

Ein weiterer Baustein für die neue Weltordnung und die Vereinten Nationen ist der fortschreitende Trend zur Regionalisierung. Regionale Zusammenschlüsse sind wichtige Faktoren globaler Stabilität - die Charta erkennt das auch ausdrücklich an. Die Vereinten Nationen müssen deshalb zunehmend durch Regionalorganisationen unterstützt und entlastet werden. Dort wo regionale Bündnisse und Wirtschaftsorganisationen ihren Beitrag leisten können, sollten sie dies auch tun. Aufgrund ihrer historischen Erfahrung haben sich die Staaten Europas zur Europäischen Union zusammengeschlossen. Sie haben eine neue Dimension des Multilateralismus erreicht. Sie bilden heute eine Sicherheitsgemeinschaft, in der Konflikte nicht mehr gewaltsam ausgetragen werden. Die ASEAN-Staaten könnten in Zukunft eine ähnliche Rolle spielen. Erforderlich sind Multilateralität und die Notwendigkeit zur regionalen und globalen Kooperation. Angesichts der weltweiten Abhängigkeiten und Verflechtungen sind wir auf eine Weltorganisation angewiesen, die mit diesen Regionalorganisationen eng verzahnt ist.

Welche Rolle für die UN?

Welche Rolle sollen die Vereinten Nationen in der Welt von heute und morgen spielen? In dieser Frage sollte man Realist bleiben: Die Vereinten Nationen werden weder in der Bedeutungslosigkeit versinken, noch werden sie eine neue Weltregierung sein. Die Charta verkörpert auch sicherlich nicht die beste aller Welten. Sie ist ausgelegt auf die Nationalstaaten. Deshalb sollte man sich über den Charakter der Vereinten Nationen keinen Illusionen hingeben. Sie sind eben noch kein weltweites "System Kollektiver Sicherheit". Sie bleiben in erster Linie ein Konzert der Großmächte. Auch das "Gewaltmonopol" der Vereinten Nationen bleibt entwicklungsfähig. Die Vergleiche mit dem national-staatlichen Gewaltmonopol greifen zu kurz. Die Vereinten Nationen sind kein Weltstaat. Der Sicherheitsrat ist keine Weltregierung. Zugleich ist das Pochen auf die Einhaltung rechtlicher Verfahren alles andere als reiner Formalismus, sondern unabdingbare Voraussetzung für ein internationales Rechtssystem. Der Internationale Gerichtshof und der Internationale Strafgerichtshof leisten hierfür unverzichtbare Beiträge.

Die Vereinten Nationen müssen effizienter werden. Es mangelt auch nicht an entsprechenden Reformvorschlägen. Wir sollten die Chance, die sich uns bietet deshalb ergreifen. Doch so wichtig die Reform und die Erweiterung des Sicherheitsrates auch sein mögen, die eigentlichen Kernfragen zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind meiner Überzeugung nach folgende:

  • Wie können wir Hunger und Krankheiten erfolgreich bekämpfen?
  • Welche Institutionen und Instrumente brauchen wir, um Krisen zu bewältigen?
  • Wie können wir Problemen und Konflikten bereits im Entstehen, d.h. präventiv entgegentreten?
  • Wie können mehr als sechs Milliarden Menschen auf dieser Erde friedlich miteinander leben?

Zur Lösung dieser Fragen brauchen wir ein System globaler kooperativer Sicherheit. Und diesen Rahmen können die Vereinten Nationen bieten. Denn nur die Weltorganisation verfügt mit ihren zahlreichen Unterorganisationen über die Instrumente, die wir brauchen, um Sicherheit, Frieden und Entwicklung auf der Welt zu gestalten. Sie hat über Jahrzehnte Erfahrung in Konfliktprävention, Krisenmanagement, "nation building" und Wiederaufbau gesammelt.

Ich bin überzeugt, dass die Entwicklung eines solchen Sicherheitssystems die zentrale politische Aufgabe für das 21. Jahrhundert sein wird. Die Lösung dieser Aufgabe kann nur in der Zusammenarbeit der Nationen liegen. Nur wenn die wichtigen Staaten der Welt eng zusammenarbeiten, werden wir in Zukunft Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, wirtschaftlichen Fortschritt fördern und die Achtung der Menschenrechte auf allen Kontinenten sichern können.

Die Vereinten Nationen müssen die zentrale Rolle in einer neuen Weltordnung spielen. Sicherheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind nur gemeinsam erreichbar. Die Vereinten Nationen stellen hierfür den Rahmen bereit. Die Nationalstaaten hingegen müssen ihnen die dafür notwendigen Mittel anbieten. 

Mit diesem Bekenntnis zu einer multilateralen Außenpolitik möchte ich meine Bemerkungen beenden und Ihnen ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit danken.

 

 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Veröffentlicht: 
Peking, 18.10.2004
Thema: 
Welche Rolle spielen die UN in der Welt von Morgen?