Versöhnen, Gedenken und Mitschuld

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wer alles gelesen hat, weiß, dass der heutige Antrag auf Bundestagsdebatten aus dem Jahr 2005, aus dem letzten Jahr und aus diesem Jahr basiert. Ich bin froh, dass wir einen gemeinsamen Antrag formuliert haben. Persönlich sage ich: Ich hätte mir einen Antrag aller Bundestagsfraktionen gewünscht. Aber anscheinend schwingt in dieser Debatte nicht nur ein Tabu mit, sondern noch ein weiteres. Deswegen sage ich: Ich hoffe nicht, dass dem erneut ein Handschlag vorausgehen muss, aber irgendwann wird es so sein, dass wir zumindest bei diesen Themen einen gemeinsamen Antrag formulieren. 

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, der Antrag ist keine Klageschrift. Ich sage sehr deutlich für meine Fraktion: Demonstrationen sind zulässig, aber genauso zulässig ist, dass der Deutsche Bundestag aus den Debatten über den Völkermord politische Schlussfolgerungen zieht. Das steht einem selbstbewussten Parlament gut zu Gesicht, und deswegen sage ich sehr eindeutig: Wir als Abgeordnete lassen uns nicht einschüchtern, und zwar - das sage ich gleichzeitig - egal von welcher Seite. 

(Beifall im ganzen Hause)

Dieser Antrag ist in der Tat auch ein Appell zur Aufarbeitung und zur Selbstverantwortung der Türkei. Letztlich gehört aber eben auch die armenische Seite mit dazu - ich finde, auch das wird in diesem Antrag sehr deutlich -; denn wir wollen zukünftig in der Region des größeren Kaukasus keine weiteren Spannungen sehen. Deswegen bieten wir als Deutscher Bundestag gemeinsam mit der Bundesregierung Unterstützung an, damit dort, wo der Versuch unternommen wird, Schritte zur Entspannung zu gehen, dies auch geschehen kann. Das halte ich für legitim. Ich glaube, dazu muss auch der Deutsche Bundestag etwas sagen dürfen und können,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

insbesondere weil Deutschland zurzeit den Vorsitz bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hat. Im Grunde genommen ist der Kern der Entspannungspolitik, die auch den Kalten Krieg überwunden hat, dass viele Länder versuchen, über ihre Streitpunkte hinaus internationale und regionale Institutionen zu nutzen, um Versöhnung zu schaffen.

Zweiter Punkt. Wir wollen, dass gerade junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler - ich sage ganz offen, dass ich große Hoffnung in die junge Generation habe, die oft viel bereiter ist, in diese Richtung zu gehen - zum Beispiel mit Stipendien unterstützt werden, um die gemeinsame historische Aufarbeitung voranzubringen.

Dritter Punkt. Dies möchte ich auch an die Repräsentanten der beiden Länder sagen: Im Jahre 2009 sind unter Schweizer Vermittlung die Zürcher Protokolle zustande gekommen, wo es eben diesen Aussöhnungsprozess gegeben hat. Ich bitte darum, dass beide Parlamente demnächst versuchen, endlich eine Ratifikation dieser Protokolle vorzunehmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Letzter Punkt. Der Deutsche Bundestag stellt sich der Verantwortung und hat auch das Recht, die deutsche Mitschuld zu betonen. Auch deswegen reden wir heute darüber. Wir erinnern daran, dass es mutige Diplomaten waren, Krankenschwestern, aber eben auch Politiker wie Eduard Bernstein und Karl Liebknecht, die auf die Verfolgungen hingewiesen haben. Deswegen, finde ich, ist es das Recht und auch die Pflicht des Deutschen Bundestages, über dieses Thema zu reden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Vertreibung der armenischen Volksgruppe während des Ersten Weltkrieges wurde „in der Absicht begangen ..., eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Das ist ein Zitat aus der Völkermordkonvention, die - das ist richtig; dies wird uns oft vorgehalten - eben nicht gilt, weil sie erst 35 Jahre später in Kraft getreten ist und erst 1954 durch den Deutschen Bundestag ratifiziert worden ist. Aber sie hat Relevanz, weil der maßgebliche Autor Raphael Lemkin gerade vor dem Hintergrund der Verfolgung der Armenier zu der Schlussfolgerung gekommen ist: Internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen müssen gegen Völkermord aufstehen. Deswegen, glaube ich, ist es legitim, auf diese Relevanz hinzuweisen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ein weiterer Punkt. Die Konvention definiert Völkermord unabhängig davon, ob es „im Frieden oder im Krieg begangen“ wurde. Auch das greift eine Diskussion auf, die uns oft begegnet, wenn wir über den Völkermord sprechen und gesagt wird: Das ist im Krieg passiert. - Ich sage sehr eindeutig: Krieg relativiert nichts, wenn die Menschenrechte verletzt werden. Das hat auch einen aktuellen Bezug. Wie sollten wir in Zukunft gegen diejenigen vorgehen, die schwerste Menschenrechtsverletzungen zum Beispiel in Syrien begehen, wenn der Krieg relativieren würde?

(Beifall im ganzen Hause)

Deswegen sage ich sehr eindeutig: Wenn wir heute Völkermord mit den Mitteln des internationalen Rechts bestrafen wollen, so spricht nichts dagegen, die Konvention aus ihrer Entstehung heraus zu würdigen.

Ich würde gerne eine weitere grundsätzliche Bemerkung machen. Gegenstand der Debatte ist der Völkermord an den Armeniern und nicht die Beurteilung Präsident Erdogans.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich denke, in dieser Debatte sollte man das auseinanderhalten. Ich weiß, Max Weber würde ihn vielleicht als Prototypen des autoritären Herrschers sehen, aber das sei dahingestellt. Ich glaube, diese Debatte hilft so nicht weiter. Sie hilft nicht weiter, weil man Außenpolitik nicht mit Schaum vor dem Mund machen darf. Ich gebe insbesondere zu bedenken, dass dies vielleicht die Allmachtsfantasien von geglaubten Alleinherrschern befördert. Deswegen sage ich sehr deutlich: Wir müssen aufpassen, nicht nur eine Person verantwortlich zu machen. Es gibt mehrere, die willfährig sind. Wir brauchen deshalb eine differenzierte Debatte, insbesondere wenn wir versuchen, mit der türkischen Republik auf gleicher Augenhöhe manches aufzuarbeiten, was in dieser Zeit geschehen ist. Nur die Widersprüche, die es in diesem Land gibt, machen einen Präsidenten Erdogan erst möglich. Deswegen sage ich als Demokrat sehr deutlich: Wir dürfen nicht vergessen - egal, wie wir das beurteilen -, dass er immerhin die Mehrheit der Wählerstimmen bekommen hat. Dennoch gibt es manche Bedenken, die wir offen genug formuliert haben. 

Ich will eine Sorge, die im Hinblick auf die Außenpolitik nicht ganz uninteressant ist, hinzufügen: Präsident Erdogan und seine AKP repräsentieren den politischen Islam. Der politische Islam wird in der Türkei teilweise als Vorbild gesehen. Deswegen appelliere ich sehr deutlich an die AKP: Wenn sie irgendwann einmal nicht mehr die Mehrheit in der Türkei hat, muss sie andere politische Kräfte an die Regierung lassen. Ich finde, das ist der Auftrag, der von dieser Seite zumindest angesprochen werden muss.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Dennoch, glaube ich, sind Veränderungen möglich. Sie kommen natürlich insbesondere aus der türkischen Gesellschaft. Wir können von außen wenig beeinflussen, aber ich bin zuversichtlich; denn das, was ich vonseiten der Zivilgesellschaft, in den Medien und in vielen Gesprächen erlebe, zeigt eine viel größere Differenzierung. Als Sozialdemokrat sage ich: Natürlich irritiert es mich, wenn auch die Partei, zu der wir in der Vergangenheit enge Kontakte gehalten haben, im Parlament der Aufhebung der Immunität zustimmt.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Ja, das stimmt!)

Auch deswegen müssen wir das eine oder andere hier durchaus ehrlich benennen.

(Beifall im ganzen Hause)

Wenn wir nur wenige Möglichkeiten haben, dann müssen wir sie nutzen. Ich bin der Bundeskanzlerin dankbar, dass sie bei ihrem letzten Besuch endlich mit Vertretern der Zivilgesellschaft zusammengetroffen ist. Aber ich hätte mir viel mehr gewünscht, dass sie - genauso wie bereits der deutsche Außenminister - frühzeitig auch mit der Opposition und insbesondere mit Mitgliedern der HDP-Fraktion zusammengetroffen wäre. Das wäre möglich gewesen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, sie sollte sich überlegen, ob sie das nicht nachholen kann.

Ich finde, umso mehr müssen wir auf die Regeln der Zusammenarbeit achten. Es ist unsere Aufgabe - das ist genauso wichtig -, uns frühzeitig gegen autoritäre Ansprüche in der Europäischen Union zu wehren. Nur das ist nach meinem Dafürhalten das richtige Signal an die Türkei.

Meine Damen und Herren, wir wissen aus Erfahrung, wie mühevoll und schmerzlich die Aufarbeitung der eigenen Geschichte sein kann. Dennoch sollten auch die politisch Verantwortlichen in Ankara und Eriwan wissen: Ein solches gemeinsames Vorhaben ist kein Zeichen von Schwäche. Im Gegenteil, nur so können neues Vertrauen und menschliche Stärke wachsen. Die Türkei hat Juden vor dem von Deutschland entfachten Holocaust gerettet. Wir Sozialdemokraten erinnern uns mit Dankbarkeit an die Aufnahme politisch Verfolgter; ich denke etwa an Ernst Reuter. Heute wünschen wir uns eine Türkei, die in vergleichbarer Offenheit und Größe einem dunklen Kapitel ihrer Geschichte gerecht wird.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Veröffentlicht: 
Berlin, 02.06.2016
Thema: 
Plenarrede zum Antrag „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916“