Ein tiefer Einschnitt in die deutsch-russischen Beziehungen

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es besteht heute kein Zweifel: Dies ist eine ernste internationale Krise, und sie stellt einen tiefen Einschnitt in den Beziehungen zu Russland dar. Genau darauf muss das Schwergewicht in unseren Reden heute liegen, und wir dürfen nicht einem innenpolitischen Reflex folgen, wenn wir über Außenpolitik reden. Wir müssen dieser Situation gerecht werden, indem wir berücksichtigen, über wen wir hier sprechen, und indem wir darüber nachdenken, welche Auswege bestehen, um unser Verhältnis zu Russland letztlich wieder in eine friedliche Kooperation münden zu lassen.

Es ist angemessen, auch von dieser Stelle aus zu sagen: Es ist absehbar, dass durch die Vorgänge, die wir auf der Krim und in der Ukraine sehen und in den Beziehungen zu Russland erleben, Unsicherheit und neue Spannungen in Europa leider wieder wachsen werden. Ich persönlich hätte diesen Rückfall in Chauvinismus und das Denken in Einflusszonen nicht erwartet. Gerade von deutscher Seite haben wir viel dafür getan, um der Entspannungspolitik zum Durchbruch zu verhelfen und letztlich eine Verhaltensänderung in der Politik zu erreichen.

Insofern müssen wir den Bundesbürgern sagen: Es gibt unterschiedliche Dimensionen. Nicht nur die Ukraine ist unmittelbar betroffen - die Bundeskanzlerin hat es gesagt -; es geht auch um andere Länder, in denen russische Minderheiten wohnen und wo die Unsicherheit möglicherweise wächst, etwa in Bulgarien, im Baltikum, aber auch in Ländern Zentralasiens. Um diese Länder herum werden sich Spannungen aufbauen.
Außerdem werden die Vorgänge in der Ukraine - das muss man auch dem russischen Präsidenten sagen - auch Auswirkungen auf Russland selbst haben. Auch dort leben viele Minderheiten, die sich von Putins Politik möglicherweise beeinflussen lassen und eigene Forderungen in Richtung nationale Unabhängigkeit stellen. Natürlich legt auch die russische Politik heute eine andere Messlatte an. Sie spricht nicht mehr allein von russischen Staatsbürgern, sondern mittlerweile auch von ethnischen Russen, vom Slawentum. Das bringt die Gefahr zum Ausdruck, die für unseren Kontinent an dieser Stelle herrscht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir machen uns insbesondere darüber Sorgen, dass sich Regierungen in anderen europäischen Ländern das Vorgehen Russlands möglicherweise zum Vorbild nehmen. Wir dürfen nicht vergessen: Selbst innerhalb der Europäischen Union und auch außerhalb der Europäischen Union gibt es Regierungen, die sich in diesen Denkstrukturen bewegen und überlegen, eigene politische Hasardeurritte in Europa zu unternehmen. Deswegen müssen wir von hier aus sehr deutlich machen: Es ist auch in unserem eigenen Interesse, zu versuchen, diesen Konflikt so gut wie möglich zu bewältigen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Folglich ist die Frage angemessen: Hat der russische Präsident eine Strategie, oder ist er angesichts schwerwiegender innenpolitischer Probleme ein von Schwäche und Willkür Getriebener? Für beides gibt es Hinweise; für beides sprechen Fakten. Genau das ist das große Problem: Jemand, der innenpolitisch getrieben ist und sozusagen Innenpolitik über Außenpolitik machen will, birgt in sich die Gefahr, möglicherweise internationale Spannungen zu produzieren, um von innenpolitischen Problemen abzulenken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Auf der einen Seite scheint es aber in der Tat eine Strategie zu geben; die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen. Die von ihr genannten Daten deuten darauf hin, dass möglicherweise bestimmte Gruppen auf der Krim die Ereignisse frühzeitig für ihre politischen Ziele genutzt haben.

Auf der anderen Seite dürfen wir nicht verkennen: Russland ist in einer schweren Wirtschafts- und Modernisierungskrise. Der russische Präsident selbst hat im letzten Jahr in der Rede zur Lage der Nation auf diese Probleme hingewiesen. Hier bietet sich die Möglichkeit, Angebote zu unterbreiten, um ihm bei der Bewältigung der Wirtschafts- und Modernisierungskrise zu helfen und im Grunde genommen also die innenpolitischen Herausforderungen aufzugreifen. Das schlägt uns auch aus der russischen Bevölkerung entgegen. Wir kennen doch die Meinungsumfragen. Das, was die russische Politik heute macht, ist gar nicht so unumstritten. Wir wissen, dass die Bürger in Russland mittlerweile auch Angst vor dieser Situation haben. Nach meinem Dafürhalten sollten wir uns dies in weiteren Gesprächen mit Russland zunutze machen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ein weiterer Aspekt. Ich wäre froh, wenn wir nicht immer über die Ukraine reden würden und Vorschläge machen würden, wie zukünftig ihre Verfassung aussehen soll oder wie sie sich zukünftig verhalten soll, ob es also zwei Präsidenten und eine Föderalregierung oder anderes geben soll.

(Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Das hat doch die Bundesregierung die ganze Zeit gemacht!)

Ich würde mich vielmehr freuen, wenn wir die Integrität dieses Landes und die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger in der Ukraine anerkennen würden, egal welche politische Verantwortung wir heute im Deutschen Bundestag sehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es geht deswegen hauptsächlich darum, zu beobachten, was in der Ukraine passiert. Die Proteste waren am Anfang friedlich. Sie waren auch der Ausdruck von Findung einer Nation, die über Sprache, gemeinsames Verhalten und natürlich auch Hoffnungen Orientierung hatte. Natürlich ist Europa für viele dort Vorbild. Aber in erster Linie müssen wir die nationale Identität der Ukraine respektieren; daran müssen wir auch unser politisches Handeln messen lassen.

Natürlich hat die Regierung Janukowitsch zur Brutalisierung der Verhältnisse auf dem Maidan beigetragen. Das müssen doch auch Sie vonseiten der Linken anerkennen. Staatliche Institutionen haben mit Brutalisierung und Gewalt auf dem Maidan, aber auch in der Ukraine insgesamt begonnen. Deswegen unterstützen wir die Bundeskanzlerin, wenn sie in ihrer Regierungserklärung fordert: Darüber muss aufgeklärt werden. Auch eine Übergangsregierung muss die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Das ist aber eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft in der Ukraine und eben nicht nur für die Regierung alleine.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ich bedanke mich ganz herzlich für das, was die Bundesregierung in den vergangenen Tagen und Wochen unternommen hat. Das war Krisenmanagement. Man hat versucht, das Blutvergießen auf dem Maidan und in der Ukraine zu stoppen. Hier haben wir versucht, unsere moralischen Kategorien einzubringen und auch auf diplomatischem Wege den Konflikt auf dem Maidan zu beenden, der möglicherweise zu Schlimmerem geführt hätte. Wir wollten Schlimmeres verhindern. Die Bundeskanzlerin und insbesondere der Außenminister haben das zusammen mit anderen, aber nicht über die Köpfe anderer hinweg unternommen. Dafür gebührt der gesamten Bundesregierung Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Beide haben in den vergangenen Tagen - auch das gehört zu einem Krisenmanagement - versucht, die verschiedenen Interessen der Europäischen Union zusammenzuhalten, zu bedenken und sozusagen auch zum Ausdruck zu bringen. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben das in Telefonaten, aber auch bei Besuchen wie gestern in Polen getan. Der Außenminister war im Baltikum. Gerade das sind ja Länder, die sich von dieser Situation international herausgefordert fühlen.

Im Nachhinein kann man natürlich immer sagen, was falsch gemacht worden ist. Aber dass das Blutvergießen gestoppt worden ist, müssen doch auch Sie, Herr Kollege Gysi, an dieser Stelle anerkennen. Genau das hat die Bundesregierung in den Gesprächen mit dem polnischen und dem französischen Außenminister erreicht. Dafür geführt ihr in der Tat Anerkennung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir dürfen nicht verkennen: Putin kann drohen, aber er kann auf die zivilgesellschaftliche Entwicklung in der Ukraine langfristig keinen Einfluss nehmen. Auch das muss Präsident Putin und den handelnden Akteuren in Moskau klar werden. Deswegen hätte ich mir gewünscht, dass auch die russische Regierung an ihren Worten gemessen worden wäre, auch in der Auseinandersetzung über all das, was falsch gelaufen ist. Auch Präsident Putin hat für Deeskalation geworben, und trotzdem hat er Manöver abgehalten, trotzdem hat er eine Interkontinentalrakete getestet, trotzdem ist er nicht auf den Vorschlag eingegangen, eine Kontaktgruppe zu bilden. Er hat sozusagen all die Wege, die von hier aufgezeigt worden sind, nicht angenommen. Er war eben nicht an Deeskalation interessiert. Ich finde, das, lieber Kollege Gysi, hätte man dem Präsidenten genauso vorhalten müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In der Tat: Nach dem Ende des Kalten Krieges hat es Entwicklungen gegeben, bei denen die Interessen Moskaus missachtet wurden - Sie, Herr Kollege Gysi, haben darüber gesprochen -: die NATO-Osterweiterung und vieles andere. Aber es war die letzte Große Koalition, die damals in schwierigen Gesprächen verhindert hat, dass neue Mitgliedstaaten in die NATO aufgenommen werden, weil wir eben die Sicherheitsinteressen Russlands beachtet haben. Ich glaube, man muss doch würdigen, dass das gerade von hier, von der Bundesregierung und vom Deutschen Bundestag, ausgegangen ist. Deswegen bin ich der Meinung: Wir müssen aus beiderseitigem Verhalten lernen. Russland hat eben nicht die Hand ausgestreckt: Bezüglich eines Assoziierungsabkommens traf man in allen Gesprächen, die geführt worden sind, auf Ablehnung von russischer Seite.

Insofern will ich Ihnen sehr deutlich sagen, Herr Kollege Gysi: Die Kritik der Linken allein um der Kritik willen wird den außenpolitischen Herausforderungen nicht gerecht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE): Das macht doch niemand!)

Ich habe mir mal die Mühe gemacht, nachzulesen, welche Hinweise Sie in der letzten Legislaturperiode dazu gegeben haben, was wir nach Ihrer Meinung alles falsch gemacht haben: Sie haben keine einzige Frage, keinen einzigen Antrag gestellt und keine Debatte im Plenum beantragt, um über die Ukraine und ihr schwieriges Verhältnis zu Russland zu diskutieren. Das ist Ihr Versagen als Opposition an dieser Stelle.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist gut, dass wir auf Konfliktvermeidung achten, dass wir weiter den diplomatischen Weg gehen. Für diejenigen, die immer auch das Empfinden Russlands in ihre Arbeit einbezogen haben, waren die letzten Wochen ein herber Rückschlag; es waren Tage der Verunsicherung und Enttäuschung. Dennoch bin ich der Überzeugung: Wir brauchen eine Entspannungspolitik in Zeiten neuer Spannungen, vor allem über den Tag hinaus. Der Kalte Krieg war ein Übel, das nicht nach Europa zurückkehren darf. Dafür werden wir uns weiter einsetzen.

Vielen Dank.
 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Veröffentlicht: 
Berlin, 13.03.2014
Thema: 
Plenarrede zur Lage in der Ukraine