Sicherheitsrisiken und regionale Sicherheitsprozesse in Ostasien

Ostasien im 21. Jahrhundert

In Ostasien kreuzen sich gegenwärtig zwei Entwicklungen. Einerseits trägt die Region immer stärker zur Weltwirtschaft bei. Die VR China ist seit Jahren der Motor dieser Entwicklung. Vergleichbar der industriellen Revolution in Europa haben sich auch hier Wachstums- und Finanzzentren gebildet. Derzeit entscheidet sich, ob heute noch unterentwickelte Gebiete Anschluss an diese Dynamik erhalten. Gleichzeitig bestehen in Ostasien klassische Sicherheitsprobleme. Hierzu gehören Konflikte wie der um Taiwan oder der zwischen Nord- und Südkorea. Daneben bestehen weiterhin offene Grenzfragen.  Es gibt verdeckte Machtrivalitäten wie die zwischen Japan und China. Immer mehr asiatische Staaten besitzen Atomwaffen und Trägermittel. Drei Länder  gehören nicht dem Atomwaffensperrvertrag an. Auch die konventionelle Aufrüstung schreitet voran.

Während sich also einerseits weitere Handelsstaaten herausbilden gibt es zugleich eine Vielzahl ungelöster Sicherheitsprobleme. Die wirtschaftliche Dynamik ist aber auf ein zuverlässiges und friedliches Umfeld angewiesen. Ostasien und die Welt haben daher ein existentielles Interesse an der Bearbeitung der Konflikte.

Welche Strategien bieten sich für die Konfliktbearbeitung an? Gibt es Erfahrungen, die für Ostasien geeignet wären? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um friedliche Koexistenz in einen dauerhaften Frieden umzuformen? Als Europäer möchte ich Ihnen unsere Einsichten näher bringen. Dabei geht es mir nicht um eine Lobrede auf Europa. Denn die Geschichte Europas ist nicht nur die Erfolgsgeschichte der Europäischen Integration, sondern auch eine Geschichte verheerender Kriege. Es bedurfte eines langen Lernprozesses und kluger politischer Entscheidungen, um in Europa eine Zone dauerhaften Friedens zu schaffen.

Regionale Kooperation: Das Beispiel Europa

Europa ist heute ein komplexes Gebilde. Dazu zählt eine hohe Interdependenz, eine Arbeitsteilung, vergleichbare politische, soziale und ökonomische Strukturen, der freie Austausch von Menschen, Gedanken und Gütern und ein gemeinsamer institutioneller Rahmen. In dieser Form schadet konfrontatives Verhalten nicht nur den anderen. Vielmehr bewirkt Gegnerschaft Selbstschädigung. Vergleichbare Kompetenzen und Wissen tragen in der Region zu Austausch und Arbeitsteilung bei. Regionale Kooperation ist also mehr als sicherheitspolitische Verständigung und Zusammenarbeit. Genau so wichtig sind regionale Arrangements in den Bereichen Wirtschaft, Soziales, Umwelt, Justiz und Menschenrechte mit entsprechenden Institutionen und internationalen Regeln. Die Beachtung von Verfahren, Grundsätzen und Normen waren die entscheidende Voraussetzung für die europäische Integration. Die Selbstbindung der Staaten an das Recht ist der Kern des europäischen Friedens. Daraus erwachsen Stabilität und Verlässlichkeit. Meines Erachtens ist es für die Friedensrelevanz unerheblich, welche Bereiche zuerst zum Vergemeinschaftungsprozess beitragen. Die kollektive Erkenntnis, dass Kooperation, Verteilungsgerechtigkeit, Demokratisierung und Verträge eine Friedensstruktur schaffen, ist nicht mehr rückgängig zu machen.

Der Teilbereich regionale Sicherheitsarchitektur muss nicht sofort in feste Institutionen gegossen werden. Vielmehr ist dies ein politischer Prozess. Beginnend mit sicherheitspolitischen Dialogen über vertrauensbildende Maßnahmen kann langsam eine Institutionalisierung einsetzen. Die Erfolge dieses Prozesses führen schließlich zu einer Transformation der Beziehungen zwischen den Staaten. Gleichzeitig kann er auch zu einem innerstaatlichen Wandel beitragen.

Karl W. Deutsch und das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft

Die Gestalt der Europäischen Integration kann als "Sicherheitsgemeinschaft" beschrieben werden. Den Begriff entwickelte Karl Wolfgang Deutsch 1957 in seinem viel zitierten Standardwerk von 1957 "Political Community and the North Atlantic Area. International Organization in the Light of Historical Experience, New York 1957". Deutsch war 1938 vor den Nationalsozialisten in die USA geflohen. Von dort prägte er die Politikwissenschaft nachhaltig.

Nach Karl W. Deutsch zeichnet sich eine "pluralistische Sicherheitsgemeinschaft" dadurch aus, dass

  • in ihrem Rahmen Gewalt als Mittel zwischenstaatlicher Interessendurchsetzung überwunden ist (gewaltfreie Problemverarbeitung),
  • ihre Teilnehmer in den grundlegenden politischen Werten übereinstimmen (Wertekonsens)
  • und das wechselseitige Verhalten berechenbar ist (Erwartungsverlässlichkeit).

Die Folge ist eine Zivilisierung des Umgangs zwischen Staaten.

Sicherheitsgemeinschaften sind also enge, institutionalisierte Beziehungen zwischen Staaten, die nicht nur auf wechselseitigen Interessen, sondern auf geteilten Werten und wechselseitigen Sympathien beruhen. Ein intensives Geflecht von Interessen, Kommunikationen und Organisationen hält ihre Mitglieder zusammen. Sicherheit wird als ein kollektives Gut verstanden. Die Möglichkeit eines bewaffneten Zusammenstoßes liegt jenseits der Vorstellungskraft.

Neben der "pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft" identifiziert Deutsch die "verschmolzene Sicherheitsgemeinschaft". Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass pluralistische Sicherheitsgemeinschaften aus mehreren souveränen Staaten bestehen, während verschmolzene Sicherheitsgemeinschaften aus einem staatlichen oder staatsähnlichen Gebiet mit einer zentralisierenden Gewalt bestehen. Die Europäische Union ist demnach heute mehr als eine "pluralistische Sicherheitsgemeinschaft" aber noch keine "verschmolzene Sicherheitsgemeinschaft".

Im Zusammenhang mit der Herausbildung einer regionalen Sicherheitsarchitektur in Asien stellt sich die Frage, ob Sicherheitsgemeinschaften nur zwischen Demokratien gebildet werden können? Oder anders gefragt: Ist ein demokratisches System für die Bildung einer Sicherheitsgemeinschaft lediglich eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung?

Wenn man den Kriterienkatalog von Deutsch anwendet zeigt sich: Für die Herausbildung einer pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft sind Gewaltverzicht, Wertekonsens und Erwartungsverlässlichkeit ausreichend. Im Hinblick auf die Mitgliedschaft der damaligen Militärdiktaturen Griechenland, Spanien und Portugal in der NATO könnte man sogar argumentieren, dass die Teilnahme an einer Sicherheitsgemeinschaft den Prozess der gesellschaftlichen Teilhabe beschleunigen kann. Dennoch: Partizipation, soziale Gerechtigkeit und Rechtssicherheit können den Prozess der regionalen Integration befördern. Denn die Sozialisationsfunktion von Institutionen ist umso höher ist, je mehr Mitglieder Demokratien sind. So sind Demokratien eher dazu bereit, Sicherheitsgemeinschaften zu bilden als Nicht-Demokratien.

Fazit

Die USA prägen derzeit die Weltordnung. Sie verfügen über eine herausragende Position in wirtschaftlicher, kultureller und militärischer Hinsicht. Es gibt zurzeit kein anderes Land, das die weltweite Rolle und Wirkung der USA übernehmen könnte. Der Multilateralismus kann für die Vereinigten Staaten keine Alternative sein. Wie frühere Hegemonialmächte verfolgt das Land zwischen den Ozeanen einen eigennützigen Kurs. Das eigene Gesellschaftskonzept wird zum weltweiten Ordnungskonzept. Die Politiker in Washington begreifen deshalb den europäischen Einigungsprozess auch als alternatives Weltordnungskonzept. Die europäische Integration fordert den amerikanischen Führungsanspruch heraus. Zurückhaltung und die Bereitschaft Partner durch Kooperation zu binden sind ein alternatives Weltordnungskonzept. Eine tief greifende Zusammenarbeit mit anderen Regionen wäre daher eine zusätzliche Herausforderung gegenüber einer hegemonialen Ordnung.

Für eine Vertiefung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Ostasien spricht die bereits recht intensive wirtschaftliche Verflechtung der ostasiatischen Volkswirtschaften. Gegen eine Vertiefung sprechen die ausgeprägten Souveränitätsvorbehalte und nationalistischen Reflexe in einigen Gesellschaften. Ostasien wird diese Beschränkungen überwinden müssen und sich noch sehr viel intensiver als bisher auf regionale wie internationale Kooperation einlassen müssen. Meiner Überzeugung nach können Sicherheitsgemeinschaften  entscheidend dazu beitragen, das im Entstehen begriffene internationale System zu stabilisieren. Gerade in Ostasien sind angesichts der vorhandenen territorialen und ideologischen Konflikte Schritte in Richtung Kooperation und Vertrauensbildung umso wichtiger. Am Ende dieses Prozesses, der auch in Europa Jahrzehnte gedauert hat, könnte auch in Ostasien eine regionale Sicherheitsgemeinschaft entstehen. Gemeinsame Normen und Identitäten sind vorhanden. Regionale Kooperationen bleiben eine Chance für die Zivilisierung internationaler Politik. Es gehören Mut und Klugheit dazu, die Gelegenheiten auch zu nutzen.

 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Veröffentlicht: 
Rede auf dem 4. Chinesisch-Deutschen Symposium über Internationale Sicherheit, Bejing, 16 November 2004
Thema: 
Ostasien im 21. Jahrhundert