Die Rolle Europas im Nahen Osten
Meine Damen und Herren, vielen Dank für die Einladung.
Ich freue mich sehr, heute an diesem historischen Tag vor Ihnen sprechen zu dürfen. Die konstituierende Sitzung des Parlaments ist ein großer Tag für Palästina und die palästinensische Demokratie. Ich hoffe, dass dieser 18. Februar ein Schritt in Richtung Frieden, Demokratie und Wohlstand für das palästinensische Volk bedeutet.
Der Nahe und Mittlere Osten steht vor neuen Herausforderungen. Diese wurden durch den Irak-Krieg noch zusätzlich verschärft. Die Region wird deshalb in den nächsten Jahren im Zentrum internationaler Ordnungsbemühungen liegen. Hierbei wird sich auch erweisen, ob die Europäische Union, zusammen mit den USA und Russland, in der Lage sein wird, eine gemeinsame und stimmige Politik zu entwickeln. Es gibt zweifellos Probleme und Risiken. Aber es gibt auch neue Chancen für eine kooperative Sicherheitsstruktur des erweiterten Mittleren Ostens.
Die größte Bedrohung für unsere regionale und globale Sicherheit zu Beginn dieses Jahrhunderts ist der internationale Terrorismus. Er ist nicht nur eine Bedrohung für die Gesellschaften des Westens, sondern vor allem auch für die muslimische und arabische Welt. Denn hinter dem neuen Terrorismus verbirgt sich auch eine tiefe Modernisierungskrise in weiten Teilen der islamisch-arabischen Welt.
Eine auch nur in Ansätzen positive Gestaltung der Globalisierung ist in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens bisher leider kaum gelungen. Einer vorwiegend jungen Bevölkerung muss dringend eine Perspektive aufgezeigt werden.
Europa ist unmittelbarer Nachbar dieser Region. Entwicklungen in beiden Räumen haben gegenseitige Reaktionen ausgelöst - im Positiven wie im Negativen. Deshalb ist eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union gerade für diese Region dringend notwendig. Was können wir als Sozialdemokraten dazu beitragen? Sicherheit ist wichtig. Sie darf aber nicht nur militärisch definiert werden: soziale und kulturelle Modernisierungsfragen sind, genauso wie die Fragen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Frauenrechten und guter Regierungsführung von ebenso großer Relevanz.
Das Thema, welches mir gestellt wurde, ist sehr allgemein gehalten. Auch wenn es um die Rolle Europas im Nahen und Mittleren Osten gehen soll, möchte ich hier nicht aus den unzähligen Dokumenten und Strategiepapieren der Kommission zitieren. Es wäre jedoch sicher hilfreich, den Barcelonaprozess der Europäischen Union, die Greater Middle East Initiative der USA und den Mittelmeerdialog der NATO enger abzustimmen und miteinander zu vernetzen.
Ich möchte im Folgenden vielmehr vier Beispiele nennen, wie die Europäische Union mit einer eng abgestimmten gemeinsamen Politik auf die Probleme und Konflikte im Nahen und Mittleren Osten reagiert hat.
Es handelt sich dabei um teils eng verzahnte Bereiche
- "iranische Atomkrise",
- "Wahlsieg der Hamas".
- der eskalierende "Karikaturenstreit" sowie
- die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
Dabei geht es nicht nur um die Entwicklung einer gemeinsamen Politik nach Außen, sondern diese Politik dient wiederum auch der Herausbildung einer gemeinsamen Position nach Innen. Die Europäische Union ist - wie Sie wissen - kein einheitlicher Akteur, sondern besteht aus mittlerweile 25 Staaten und muss ihrerseits oft um eine gemeinsame Position ringen. Deshalb wird die Europäische Union auch nie so mit einer Stimme sprechen können wie die USA oder Russland.
Das Erstaunliche dabei ist, dass der Union dennoch ein relativ einheitliches Auftreten nach Außen gelingt. Und dies trotz des Scheiterns der Verfassung und trotz schwieriger Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, Bulgarien und Rumänien.
1. Der Wahlsieg der Hamas
Die Europäische Union hat im Rahmen des so genannten Nahost-Quartetts, zusammen mit den USA, Russland und den Vereinten Nationen eine gemeinsame Linie zum Wahlsieg der Hamas in den palästinensischen Gebieten vereinbart: Bewaffnete Gewalt und Demokratie sind nicht vereinbar. Hier hat die Europäische Union sehr schnell und sehr klar Position bezogen und Bedingungen für eine weitere Zusammenarbeit mit der palästinensischen Autonomiebehörde nach dem Wahlsieg der Hamas formuliert. Das Existenzrecht Israels muss anerkannt werden. Zudem muss jeglicher Gewaltanwendung abgeschworen und die Waffen niedergelegt werden. Ferner sind alle geschlossenen Vereinbarungen im Rahmen des Friedensprozesses einzuhalten.
Der Wahlsieg der Hamas hat viele Gründe. Das Nein zu Fatah bedeutet nicht unbedingt ein Ja zu Hamas. Ein Großteil der Wähler ist offenbar die Misswirtschaft leid, die sich seit den letzten Parlamentswahlen von 1996 ausgebreitet hatte. Die Korruption hat ein so großes Ausmaß angenommen, dass die Hamas von Menschen gewählt wurde, die nicht unbedingt und in allen Punkten hinter deren radikalem Programm stehen: Hamas muss zeigen, ob sie verantwortungsvoll Palästina aufbauen können. Dabei geht es um Toleranz, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, staatliches Gewaltmonopol und Rechtstaatlichkeit.
Die Europäische Union ist im Nahen Osten lange nicht mehr der zahnlose Tiger, als der sie nach wie vor oft dargestellt wird. Mit über einer halben Milliarde Euro jährlich unterstützen die 25 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die palästinensischen Gebiete. Tatsächlich ist die Garantie dieser Finanzierung das wirksamste diplomatische Druckmittel der Europäischen Union.
Dabei ist zu beachten: Nur ein Teil der 500 Millionen Euro fließt in die Verwaltung. Das übrige Geld geht in Infrastruktur und humanitäre Projekte. Ein komplettes Einfrieren der Gelder könnte somit die Atmosphäre weiter anheizen. Was wäre, wenn Iran fortan bezahlt? Es ist also ein schmaler Grat, auf dem sich die Diplomatie bewegt.
Es stimmt hoffnungsvoll, dass die Hamas seit August 2004 keinen Terroranschlag mehr gegen Israel verübt hat. Hamas-Politiker müssen sich endgültig von einer Strategie verabschieden, die Gewalt nicht ausschließt. Sie müssten handeln wie einst die PLO unter Yassir Arafat und das Existenzrecht Israels anerkennen. Sie sollten der klugen Zurückhaltung nach dem 25. Januar nun auch Taten folgen lassen.
Die Europäische Union kann dabei ihre Hilfe anbieten. Denn vermutlich kann die Europäische Union in dieser komplizierten Gemengelage weit mehr als die in der arabischen Welt diskreditierten USA den Fortgang der Friedensgespräche positiv beeinflussen. Die EU wird sich auch in Zukunft darum bemühen, alle Konfliktparteien zur Abkehr von der Gewalt und zum politischen Dialog zu bewegen. Dazu aber bedarf es Einigkeit. Der Wahlsieg der Hamas hat ein politisches Erdbeben ausgelöst. Die Europäische Union steht nun vor der schwierigen Frage, was sie für den Friedensprozess im Nahen Osten jetzt tun kann. Europa, das ist meine Antwort, kann und muss seine Rolle verstärken: Vom Geldgeber zum Akteur, der Akzente setzt.
2. Die Rolle Europas in der iranischen Atomkrise
Ein weiteres Beispiel, bei dem es der Europäischen Union gelungen ist einheitlich nach Außen aufzutreten, ist die iranische Atomkrise. Dabei haben die Außenminister Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands zusammen mit dem Vertreter Solanas und in enger Absprache mit den übrigen EU-Staaten, den USA und Russland die Position Europas formuliert. Das Scheitern der Gespräche bedeutet nicht, dass der mit der Teheraner Erklärung von 2003 eingeleitete Weg grundsätzlich falsch war. Wie sie alle wissen, droht die iranische Atomkrise dennoch weiter zu eskalieren.
Eines ist mir wichtig: Die Anrufung des UN-Sicherheitsrates bedeutet keinesfalls, dass nun Sanktionen verhängt oder gar Militärschläge gegen den Iran angedroht werden. Einen solchen Automatismus gibt es nicht und darf es nicht geben. Iran hat vielmehr eindrücklich vor Augen geführt bekommen, dass sich die internationale Gemeinschaft nicht auseinanderdividieren lässt. Teheran hat jetzt die Möglichkeit, auf die weit reichenden Kompromissvorschläge der Europäischen Union und Russlands einzugehen. Wir bieten Schritte zur Vertrauensbildung an. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist das legitime Forum, in das der Atomkonflikt mit dem Iran nun gehört. Denn die IAEA kann lediglich die Regelverletzungen feststellen. Weiterreichende Schritte können nur mit der Autorität des UN-Sicherheitsrates und im rechtlichen Rahmen der UN-Charta beschlossen werden.
Die Befassung des Sicherheitsrates signalisiert der Teheraner Führung, dass die internationale Gemeinschaft nicht gewillt ist, eine Atommacht Iran zu akzeptieren. Sie zeigt aber auch, dass man nach wie vor bereit ist, eine diplomatische Lösung zu suchen. Voraussetzung bleibt aber, dass sich Iran von seiner "Alles-oder-Nichts-Strategie" verabschiedet und wieder als ernstzunehmender Partner an den Verhandlungstisch zurückkehrt.
3. Die Eskalation im Karikaturenstreit
Seit mehreren Wochen empören sich Muslime in aller Welt ihrer über die dänischen Mohammed-Karikaturen. Im Laufe der Zeit sind die Proteste eskaliert: Erst waren es nur Demonstrationen, dann wurden Fahnen verbrannt, schließlich Botschaften attackiert und in Brand gesetzt. Inzwischen sind sogar Todesopfer zu beklagen.
In Afghanistan, Iran, Pakistan, Syrien, Libanon und auf den Philippinen waren die Ausschreitungen am schlimmsten. In jedem dieser Länder liegt der Fall ein bisschen anders: Mal hat die Staatsspitze die Wut noch geschürt, manchmal haben hohe Religionsführer den Protest zur muslimischen Pflicht erklärt, in wieder anderen Fällen mag es einfach nur der Ausdruck der persönlichen Frustration gewesen sein.
Es ist nicht Sache des Westens, den Islam in unserem Sinne zu reformieren. Europa sollte kein zu kurzes Gedächtnis haben. Im christlichen Europa sind Religionskriege geführt, Ketzer verbrannt und Bücher verboten worden. Es hat sehr lange gedauert bis Toleranz, Gewaltlosigkeit und Teilhabe in Europa verankert wurden. Muslime haben für ihre Glaubensüberzeugungen Anspruch auf Respekt. Auch im Westen und in den westlichen Medien existiert vielfach ein Zerrbild. Nicht "der" Islam steht hinter dem Aufruhr, vielmehr sind es islamistische Gruppierungen. Diese verfolgen nicht religiöse, sondern politische Ziele.
In der aktuellen Kontroverse über die Karikaturen kann es aus Sicht der Europäischen Union nicht um Drohungen gehen. Im Vordergrund muss es darum gehen, die Aufregung zu bremsen und den Dialog zu erneuern. Ein wichtiger diplomatischer Schritt in diese Richtung ist die gemeinsame Erklärung des UN-Generalsekretärs, der EU und des Generalsekretärs der Organisation der Islamischen Konferenz. Auch hier zeigt sich einmal mehr, dass die EU sehr wohl in der Lage ist, mit einer Stimme zu sprechen ? zusammen mit anderen.
4. Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
Auch in der Frage eines EU-Beitritts der Türkei konnte sich die Europäische Union auf die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen einigen. Dies war zugegebenermaßen ein schwieriger Prozess. Dies zeigt aber auch, dass sich Europa nicht als christliche, sondern als demokratische Wertegemeinschaft versteht. Mit der Türkei bekommt erstmals auch ein islamisches Land eine konkrete Mitgliedsperspektive. Wichtig ist dabei nicht die Religion. Es geht vielmehr um Menschenrechte, Gewaltenteilung und freie Wahlen. Die Türkei hat auch gezeigt, dass der politische Islam und Demokratie zueinander passen. Auch die moderate muslimisch-konservative AKP entstammt ursprünglich einer radikal islamistischen Partei. Wenn die Türkei die Kriterien erfüllt und EU-Mitglied werden sollte, wird auch die Europäische Union davon profitieren. Die Türkei kann als Brücke zum Nahen und Mittleren Osten und zum Islam dienen.
Resümee
Die Tatsache, dass die Europäische Union mittlerweile 25 Mitglieder hat, kompliziert ihre Außenpolitik zweifellos. Aber sie stattet sie gleichzeitig mit einer beträchtlichen Flexibilität aus. Historische, kulturelle, wirtschaftliche und politische Beziehungen zwischen Europa und den Nahost-Staaten können die notwendigen politischen und wirtschaftlichen Reformen vorantreiben. Viele Staaten der Region sind stark von ausländischen Investitionen abhängig. Ein Beharren der Investoren auf einer gewaltlosen Konfliktlösung, funktionierenden Gerichten, politischer Transparenz und einer zurückgedrängten Bürokratie könnte dazu beitragen, echte Reformen einzuleiten.
Es wird für unsere gemeinsame Sicherheit von strategischer Bedeutung sein, ob der Nahe Osten im 21. Jahrhundert zu einem Raum der Kooperation oder der Konfrontation wird.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.