Plenarrede zum Antrag "Hilfe für irakische Flüchtlinge ausweiten - im Irak, in Nachbarländern und in Deutschland"

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ohne die folgenschwere Entscheidung der US-Regierung, im Irak zu intervenieren, müssten wir heute nicht über die Situation der Flüchtlinge reden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Noch vor wenigen Tagen hat der frühere Pressesprecher des amerikanischen Präsidenten, McClellan, eingeräumt, dass der Krieg gegen den Irak ein ernsthafter strategischer Missgriff war. Mehr als 4 Millionen Menschen sind noch heute, fünf Jahre nach Beginn des Irak-Kriegs, auf der Flucht. Nach 1948 ist dies die zweite große Flüchtlingswelle in der Region. Allein 2 Millionen Iraker leben in Syrien, Jordanien und dem Libanon. Nur etwa ein Drittel der ehemals 1,2 Millionen Christen im Irak sind heute noch im Land. Fünf von zehn Irakern müssen täglich mit weniger als einem Euro überleben. Das ehemals vorbildliche Gesundheits- und Bildungssystem ist zusammengebrochen. 60 000 Iraker sind inhaftiert, die Mehrzahl von ihnen ohne Prozess oder Anklage. Die schreckliche Bilanz lautet: 1,2 Millionen Menschen sind getötet worden. Genauso viele Menschen wurden verwundet. Die Folgen des Irak-Kriegs sind desaströs. Schlimmer noch: Die angeführten Gründe für den Einmarsch waren eine niederträchtige Manipulation.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

McClellan zieht ein verheerendes Fazit: Der Zusammenbruch der Kriegsgründe hätte keine Überraschung zu sein brauchen. Damit bezichtigt der ehemalige Pressesprecher im Weißen Haus nicht allein seinen ehemaligen Vorgesetzten der Selbsttäuschung. Auch denjenigen, die vor fünf Jahren den US-Streitkräften in den Irak gefolgt waren oder folgen wollten, schreibt er ins Zeugnis, sie hätten es bereits damals besser wissen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb bin ich stolz darauf, dass die von Gerhard Schröder geführte Bundesregierung den Irak-Krieg von Anfang an abgelehnt hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Obwohl einzelne Medien sowie politische und gesellschaftliche Meinungsführer eine Beteiligung Deutschlands forderten, haben wir uns nicht beirren lassen. Damals hat die SPD in einem geschichtlichen Moment wieder richtig gehandelt.

(Beifall bei der SPD)

Auch wenn wir nicht alle furchtbaren Entwicklungen vorhersehen konnten, wussten wir, dass dieser Krieg falsch war. Wir befürchteten auch, dass die Invasion im Irak die Region destabilisieren und die europäische Sicherheit bedrohen würde.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, obwohl wir gegen den Krieg waren, hat Deutschland sogleich geholfen. Wir haben bisher rund 300 Millionen Euro für den Wiederaufbau und die Stabilisierung des Iraks bereitgestellt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In den letzten beiden Jahren haben wir allein für die Flüchtlingshilfe 8 Millionen Euro verausgabt. Im Jahre 2008 sind bereits 4 Millionen Euro in Projekte der humanitären Hilfe geflossen. Ein Großteil der Leistungen kam den Aufnahmeländern direkt zugute.

Vor allem Syrien hat irakische Flüchtlinge aufgenommen. Viele der 1,3 Millionen Iraker leben im Großraum Damaskus. Nahezu jeder dritte Bewohner der Hauptstadt ist ein Flüchtling. Man kann sich die daraus erwachsenden Herausforderungen für das Schul- und Gesundheitswesen, für den Wohnungsmarkt und für die Strom- und Wasserversorgung nur ansatzweise vorstellen. Deshalb war es richtig, dass wir in den vergangenen Monaten vor allem Syrien bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme geholfen haben.

(Beifall bei der SPD)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Besuche des Außenministers und der Entwicklungshilfeministerin in Damaskus dienten vor allem diesem Ziel. Deswegen ist es verwunderlich, dass diejenigen, die heute weitere Anstrengungen verlangen, diese Besuche damals kritisiert haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich denke, Frank-Walter Steinmeier und Heidemarie Wieczorek-Zeul haben mit ihren Gesprächen und ihren konkreten Hilfszusagen einiges für die Stabilisierung der Situation und der Region getan.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Neben den staatlichen Instanzen in den arabischen Nachbarstaaten des Iraks haben insbesondere Hilfsorganisationen versucht, die Probleme der Flüchtlinge zu lindern. So haben das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, das Internationale Rote Kreuz und der Rote Halbmond eine Menge bewegen können. Gleichzeitig haben Menschen und private Organisationen in Syrien, Jordanien und Libanon geholfen. Ihnen allen sei hiermit ganz herzlich gedankt!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, dass bereits heute 73 000 irakische Staatsangehörige in Deutschland leben, darunter viele Jesiden und Christen. Ich würde mir wünschen, dass weitere Iraker bei uns Schutz finden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir begrüßen den Vorstoß des Innenministers, sich dafür einzusetzen, dass in Deutschland und in den anderen EU-Mitgliedstaaten weitere irakische Flüchtlinge aufgenommen werden. Jetzt geht es darum, diesen Vorschlag rasch umzusetzen. Im Sinne der notleidenden Menschen wäre es daher wünschenswert, wenn die EU-Innenminister bereits auf der morgigen Ratstagung einen Beschluss über die Zahl der aufzunehmenden Flüchtlinge und über die EU-interne Lastenverteilung fassen würden.

(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Die Sitzung war heute Mittag!)

- Das werden Sie uns gleich berichten. Ich freue mich auf Ihre Rede, Herr Innenminister. Die SPD-Fraktion unterstützt Ihre Initiativen. Darüber hinaus tritt die SPD-Fraktion dafür ein, das Programm zur Wiederansiedlung des UNHCR in Deutschland zu etablieren.

(Beifall bei der SPD)

Nunmehr findet eine Debatte darüber statt, ob wir irakische Christen nach Deutschland holen sollten. Ich bezweifle, dass die Konzentration allein auf irakische Christen den Herausforderungen angemessen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE] und des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Verschärft nicht bereits die Aufteilung entlang ethnischer und religiöser Trennlinien die Konfliktsituation im Irak und in der Region? Ist eine Frauenrechtlerin muslimischen Glaubens in Deutschland weniger willkommen als eine engagierte Politikerin christlichen Glaubens? Ist nicht ein Arzt muslimischen Glaubens genauso mit tödlicher Verfolgung konfrontiert wie sein Kollege christlichen Glaubens?

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Dürfen wir die Beweggründe für Flucht anhand des Glaubens relativieren?

(Zuruf von der SPD: Nein!)

Selbst wenn christlichen Flüchtlingen die Aufnahme in Deutschland erleichtert werden sollte, könnten wir nicht mit der Unterstützung des UNHCR rechnen. Denn ich glaube, dass die Einzelschicksale im Vordergrund stehen und nicht die Zugehörigkeit zu einer Religion.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP - Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Zu Recht!)

Was wir brauchen, ist eine Flüchtlingspolitik, die auf die individuellen Schicksale und nicht auf bestimmte Merkmale Bezug nimmt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Flüchtlingsproblem ist leider nur ein Problem von vielen. Deshalb hat sich Deutschland auf die Ausbildungshilfe im Berufs- und Sicherheitssektor konzentriert. Deutsche Institutionen haben irakische Sicherheitskräfte aus- und fortgebildet. Wir haben bei der Minenräumung geholfen. Schließlich haben wir den politischen und administrativen Wiederaufbau unterstützt, bei der Wahlbeobachtung geholfen und die föderale Entwicklung begleitet. Der Schuldenerlass beläuft sich gegenwärtig auf 5 Milliarden Euro. Angesichts der schwierigen Situation sind dies nur geringe Beiträge. Wir sollten uns darauf einstellen, dass die Hoffnungen und Anforderungen gegenüber Deutschland wachsen werden.

Es ist gut, dass wir in der vergangenen Woche zwei hochrangige Besucher aus dem Irak empfangen durften. Diese Konsultationen sollten fortgesetzt werden, auch im Irak. Angesichts der Sicherheitslage, aber auch angesichts der engen Beziehungen ist es derzeit durchaus angemessen und sinnvoll, sich auf den kurdischen Teil des Iraks zu konzentrieren. Zweifellos wäre die rasche Eröffnung eines Konsulats in Erbil ein wichtiges Zeichen. Ich würde dies begrüßen. Zugleich wäre es falsch, die anderen Regionen des Landes außer Acht zu lassen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland hat in den vergangenen Jahren dem Irak geholfen. Wir werden dies auch in Zukunft tun müssen. Wir sollten dabei eine Politik unterstützen, die den ganzen Irak und alle Menschen in den Blick nimmt. Vor allem gegenüber den arabischen Nachbarstaaten und dem Iran sollten wir deutlich machen, dass nur verlässliche, regionale Lösungen einen Sicherheitsgewinn für alle bringen können. Der Irak wird nur in einem so gesicherten Umfeld eine Zukunft haben können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Veröffentlicht: 
Berlin, 05.06.2008
Thema: 
Debatte zur Aufnahme christlicher Flüchtlinge aus dem Irak in Deutschland