Plenarrede anlässlich der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zu Lage in Afghanistan, Bundeswehreinsatz zur Evakuierung aus Afghanistan
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die meisten Deutschen und Afghanen teilen in diesen Tagen den Schmerz und das Entsetzen über die Machtübernahme der Taliban.
(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Die meisten Afghanen nicht!)
Die Ereignisse werden für immer tief in unserem kollektiven Gedächtnis eingebrannt bleiben. Dazu gehören die Bilder und Schilderungen aus Kabul, wie auch die Fehler und Versäumnisse der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der afghanischen Regierungen. Für meine Fraktion sage ich klipp und klar: Wir werden die Geschehnisse schonungslos aufklären und Konsequenzen für die Ausrichtung internationaler Einsätze und die Arbeit der Ressorts ziehen.
(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie regieren doch!)
Das kann man am besten in einer Enquete-Kommission mit Abgeordneten, Wissenschaftlern und Praktikern tun.
(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie regieren! – Weitere Zurufe von der AfD)
Deswegen, meine Damen und Herren, lade ich Sie ein, dieses Gremium nach der Konstituierung des neuen Deutschen Bundestages mit uns gemeinsam einzusetzen.
(Beifall bei der SPD)
Wenn bereits heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, einige glauben, Antworten auf die vielen Fragen geben zu können, so ist das vermessen. Angeblich gut klingende geschlossene Expertenzirkel wie ein Nationaler Sicherheitsrat können die Herausforderungen nicht meistern. Eine demokratische, von den Vielen getragene Außen- und Sicherheitspolitik ist anspruchsvoller, als manche meinen. So was kann man nicht delegieren. Unser Engagement ist nicht die Quersumme verschiedener Meinungen. Was wir vielmehr brauchen, ist ein Regierungschef mit Augenmaß, gestützt auf langjährige Erfahrung und Kompetenz, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD – Dr. Marie-Agnes StrackZimmermann [FDP]: Wirecard lässt grüßen!)
Die Situation in Afghanistan bleibt auch in diesen Stunden brandgefährlich. Wir danken den Bundeswehrsoldaten für den noch nicht abgeschlossenen Rettungseinsatz. Für sie entscheiden wir heute über die Rechtssicherheit der notwendigen Maßnahmen. Ich bitte daher alle Fraktionen, sich hier heute nicht zu verweigern.
(Beifall bei der SPD)
Gleichzeitig, meine Damen und Herren, danke ich den Polizistinnen und Polizisten und den Diplomaten vor Ort, die derzeit alles für die Ausreise derjenigen tun, die bedroht sind. In diesen Dank möchte ich die einschließen, die freiwillig in Afghanistan bleiben und ihre Arbeit fortsetzen wollen. Auch ihnen gilt unsere Anerkennung.
(Beifall bei der SPD)
Wie Sie wissen, ist die deutsch-afghanische Geschichte von längerer Dauer und reichhaltiger als die bitteren Ereignisse der letzten Wochen. Vor 100 Jahren wurde die Deutsch-Afghanische Handelsgesellschaft gegründet. 270 000 Afghanen leben derzeit in Deutschland. Viele bekennen sich zu ihrer neuen Heimat, darunter Ärzte, Pflegekräfte und Industriearbeiter. Sie arbeiten mit in Vereinen und Nachbarschaftshilfen.
Und es gibt noch viele andere, scheinbar unbedeutende Geschichten, so etwa die langjährige Partnerschaft zwischen dem Kölner und dem Kabuler Zoo. Das Schicksal eines Löwen, den ein Talibankämpfer beim Abzug 2002 absichtlich verletzte, berührte damals, vor 20 Jahren, viele Menschen auch in Deutschland. Das Foto wurde zum Sinnbild für die Brutalität und die Sinnlosigkeit des Krieges; aber es stand auch für die Notwendigkeit der internationalen Hilfe und Zusammenarbeit.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Daran hat sich nichts geändert. Von uns wird es abhängen, ob wir aus den Fehlern, aber auch aus besseren Zeiten lernen wollen, meine Damen und Herren. Lieber Herr Kollege Gauland, Peter Struck ein Zitat in den Mund zu legen, das anders ist als das, was er damals gesagt hat, verbitte ich mir. Vergreifen Sie sich nicht an meinem ehemaligen Kollegen Peter Struck!
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der AfD)
Ich sage Ihnen: Gegenwärtig müssen wir uns jedoch auf die aktuellen Herausforderungen konzentrieren; die Bundeskanzlerin hat es gesagt. Die weitere Evakuierung und Politik schließen Gespräche mit den Taliban ein. Um das zu erkennen, braucht man keine Nachhilfe in Diplomatie. Ich hätte mir gewünscht, dass diese Einsicht bereits 2007 bestanden hätte, als Kurt Beck, wohlgemerkt in einer Schwächephase der Taliban, diese Möglichkeit erwogen hatte. Ich erinnere mich noch gut: Mit welchem Hohn und welcher Häme wurde er von denjenigen überschüttet, die heute leider schon wieder alles besser wissen. Es ist und bleibt ein Trauerspiel, aber auch ein Lehrstück über die Empörungsreflexe unserer Zeit.
Deswegen sage ich: Vielleicht wäre es angemessen, wenn die sogenannten Experten außerhalb des Parlaments ebenso wie diejenigen, die ihnen oft eine Bühne geben, einmal innehalten und ihre Fehler reflektieren würden, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD)
Insofern warten auch noch viele weitere Aufgaben auf die deutsche Außenpolitik. Die Bundeskanzlerin hat einige Fragen aufgeworfen, aber auch Herausforderungen benannt. An vorderster Stelle steht, einen weiteren Bürgerkrieg in Afghanistan zu verhindern; darauf ist auch die deutsche Außenpolitik ausgerichtet. Der Außenminister ist neben der Krisenbewältigung bemüht, diese Übergangsregierung, die sich in Afghanistan zumindest anbietet, als Chance für die internationale Politik zu begreifen. Das ist die Kunst der Diplomatie; sie versucht, vielleicht nur den Bruchteil eines Momentes zu schaffen, damit die Menschen vor Ort zumindest eine Chance haben.
Dazu gehört, weiterhin humanitäre Hilfe zu leisten. 3,5 Millionen Binnenflüchtlinge, 2,6 Millionen Flüchtlinge in den Nachbarländern – für meine Fraktion sage ich: Diese Mittel werden wir aufbringen. Als Haushaltsgesetzgeber stellen wir sie auch in Zukunft bereit. Das Gleiche gilt für das Resettlement-Programm des UNHCR. Meine Damen und Herren, das ist gut investiertes Geld in Humanität.
(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. ArminPaulus Hampel [AfD])
Gleichzeitig spielen auch strukturelle Bedingungen eine große Rolle. Seit mehreren Jahren herrscht in Afghanistan eine große Dürre. Viele Dörfer sind unbewohnbar, und ohne langfristige Hilfe haben die Menschen dort keine Chance auf Rückkehr; auch das sollten wir wissen. Aber auf der anderen Seite müssen wir auch das Gegeneinander von Indien und Pakistan sehen, die Afghanistan leider seit Jahrzehnten in ihrer Machtauseinandersetzung missbrauchen. Es handelt sich immerhin um zwei Atommächte. Deswegen sage ich: Ja, wir müssen mit diesen Nachbarländern nicht nur in Gespräche kommen, sondern auch in Verhandlungen; das schließt den Iran ein, meine Damen und Herren.
Schließlich haben wir sozusagen aktuell vor Augen geführt bekommen, dass auch die Umwälzungen der internationalen Beziehungen in Afghanistan mit Händen zu greifen sind. Das Foto einer afghanischen Delegation, die vom chinesischen Außenminister empfangen wurde, wird sich möglicherweise in zehn Jahren in den Schulbüchern als Beispiel für eine Umwälzung in den internationalen Beziehungen wiederfinden. Das ist erneut ein Beleg dafür, dass die Außenpolitik großer Mächte – dabei meine ich auch die USA – zuerst und allein den eigenen Interessen dient. Auch daraus müssen wir lernen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Angesichts dieser Komplexität wie die Grünen zu behaupten, ein Antrag hätte viele Probleme gelöst, ist Augenwischerei.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf der Abg. Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Die Forderungen Ihres Antrags waren zum Zeitpunkt der Abstimmung schon nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Das wissen Sie gut; denn 16 Innenminister – auch Innenminister der von Ihnen mitregierten Länder – hatten zu diesem Zeitpunkt bereits einen ganz anderen Beschluss gefasst. Ich kann nur sagen: Ich vermute, dass es Ihnen um etwas ganz anderes ging.
(Zuruf des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Sie wollten die Konfusion in Ihrer Afghanistan-Politik überspielen. Die letzte Abstimmung im März: 14 Jastimmen, 14 Enthaltungen, 32 Neinstimmen.
(Zuruf des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Aber die Heuchelei wird erst dann deutlich, wenn man sieht, dass Sie bis zum letzten Augenblick, bis zur letzten Stunde in den Regierungen vertreten waren, die Menschen nach Afghanistan abschieben wollten; das werde ich Ihnen nicht vergessen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deswegen mein Rat: Helfen Sie dabei, die Versäumnisse, egal ob auf Bundes- oder Landesebene, aufzuarbeiten,
(Widerspruch des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
und ziehen Sie mit uns die richtigen Konsequenzen für eine zukünftige gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Innenpolitik!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.