Plenarrede anlässlich der Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Alle Erfahrungen und Zahlen der letzten Wochen bestätigen: Die Pandemie bleibt eine folgenschwere, umfassende, existenzielle Herausforderung für unser Land und die Welt. Die Krankheit wird nicht von alleine verschwinden. In der Not rücken die Menschen zusammen, auch wenn wir Abstand halten müssen.

(Norbert Kleinwächter [AfD]: Sie wird gar nicht verschwinden! – Weiterer Zuruf von der AfD: Sollen sie ja nicht!)

Das ist die paradoxe, aber beste Antwort auf die Pandemie, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Und ja, gleichwohl muss der Staat die erforderlichen Maßnahmen immer wieder überprüfen und gegebenenfalls neu justieren. Meine Fraktion unterstützt die Beschlüsse,

(Armin-Paulus Hampel [AfD]: Armutszeugnis!)

die gestern die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten und die Bundesregierung zusammen getroffen haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die befristeten Maßnahmen sind dringend erforderlich und verhältnismäßig. Wie im Frühjahr müssen wir die Gesundheitsversorgung sichern und die Infektionsketten unterbrechen. Zugleich schaffen wir große finanzielle Auffanghilfen. Die Balance, meine Damen und Herren, zwischen notwendigen Eingriffen und Hilfen wurde gewahrt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Von Anfang an war die weitreichende Ermächtigung der Exekutive im Infektionsschutzgesetz eine Möglichkeit auf Zeit. Liegen neue, unbekannte Bedrohungslagen vor, ist diese breite Ermächtigung für eine Übergangszeit nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zulässig, um Gefahren von der Bevölkerung abwehren zu können. Die Zeit, in der wir eine maximale Flexibilität der Exekutive benötigen, ist noch nicht vorbei. Das gegenwärtige Infektionsgeschehen ist durch ein rapides Ansteigen der Zahlen gekennzeichnet. Die Infektionswege lassen sich nicht mehr richtig nachverfolgen. Insbesondere kann die Erkrankung unbemerkt erfolgen, und es kann hier nicht mit effektiven Schutzmaßnahmen entgegengearbeitet werden.

(Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD])

Vor diesem Hintergrund, finde ich, sind nicht nur die Maßnahmen, sondern ist das, was der Deutsche Bundestag beschlossen hat, richtig. Deswegen ist eine starre Festlegung auf wenige Befugnisse zum jetzigen Zeitpunkt nicht angezeigt.

(Beifall bei der SPD)

Gleichwohl: Es ist richtig, dass wir die Erfahrungen aus der Pandemie auch als Gesetzgeber weiter aufarbeiten und in Gesetze umsetzen müssen. Deshalb streben wir nach einer siebenmonatigen Pandemielage eine weitere Konkretisierung im gesetzgeberischen Bereich an. Wir können da zusammen in den nächsten Wochen einen Antrag stellen, ob und wie wir zusätzliche Bestimmungen brauchen. Ich biete das den demokratischen Fraktionen ausdrücklich an.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, in meiner Fraktion gibt es erste Überlegungen, wie diese konkreteren rechtlichen Leitplanken für die Exekutive aussehen könnten.

(Sebastian Münzenmaier [AfD]: Das fällt Ihnen aber früh ein!)

Dazu gehören die Präzisierung der Generalklausel im Infektionsschutzgesetz sowie, Voraussetzungen und Grenzen von Standardmaßnahmen auszubuchstabieren. Und wenn es bundesländerüberschreitende Verhaltensregeln gibt, wollen wir diese bundeseinheitlich zusammenfassen. (Beifall bei der SPD) Zusätzlich brauchen wir Zustimmungsvorbehalte für das Parlament, regelmäßige Berichtspflichten des Bundesgesundheitsministers und eine Begründungs- und Befristungspflicht für Rechtsverordnungen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, dass das der richtige Rahmen für diese Situation ist. Im Kern wollen wir eine breitere Legitimität und Flexibilität schaffen. Ich bestreite nicht, dass auch nach den gestrigen Maßnahmen Ungewissheiten bleiben. Wir wissen mittlerweile vieles, aber eben nicht alles über den Krankheitserreger. Ich war deshalb überrascht, mit welcher Absolutheit und welch flotten Ideen einige in den vergangenen Wochen formuliert haben und anderntags davon nichts mehr wissen wollten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jan Korte [DIE LINKE]: Das stimmt allerdings!)

Gleichzeitig empfand ich es als beunruhigend, mit welcher Attitüde schwierige Entscheidungen und Aushandlungsprozesse unseres parlamentarischen und föderalen Staatsaufbaus immer wieder infrage gestellt werden. Ich finde, das kann man so nicht machen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Eines der Wesensmerkmale unseres Grundgesetzes, meine Damen und Herren, ist die Mitbestimmung und Mitverantwortung vieler, hervorgegangen aus freien und demokratischen Wahlen. Dazu gehört auch die freiheitssichernde Wirkung einer föderalen Machtbegrenzung. Selbst in unsicheren Zeiten ist der Reflex zum Durchregieren keine Alternative zum mühsamen Konsensprozess.

(Beifall bei der SPD)

Deswegen, meine Damen und Herren, möchte ich zum Schluss daran erinnern, dass die ARD vor einigen Wochen eine beeindruckende Dokumentation des Journalisten Arnd Henze mit dem Titel „Ich weiß nicht mal, wie er starb“ ausgestrahlt hat. In einem Heim in Wolfsburg starben im Frühjahr 47 Bewohner an oder infolge von Covid-19. In der Dokumentation werden die Erfahrungen der Angehörigen, Pflegekräfte und Ärzte ungeschönt und zuweilen schmerzlich beschrieben. Darin berichtet ein Pfleger – und ich möchte mit Erlaubnis des Präsidenten zitieren –: Aber natürlich haben wir noch die Angst …, dass das Virus wiederkommt. … Wenn es noch einmal passieren würde, ich würde auch in ein anderes Heim gehen … um zu unterstützen, weil ich weiß, was ich durchgemacht habe. Meine Damen und Herren, allein um seinetwillen und der vielen, die Ähnliches erleben mussten, müssen wir uns weiter der Pandemie entgegenstemmen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir, der Gesetzgeber, sind zwar nur ein Teil der Antwort, aber unabdingbar.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Veröffentlicht: 
Berlin, 29.10.2020
Thema: 
Plenarrede