Ein Jahr Zeitenwende
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin froh, dass der Bundeskanzler diese Regierungserklärung für die Regierung, aber auch für die drei Koalitionsfraktionen abgegeben hat. Ich will betonen: Ich ging davon aus, dass in der Debatte heute versucht wird, auch vor dem Hintergrund der Aggression Russlands über eine Neuvermessung der internationalen Ordnung ein bisschen nachzudenken und Rechenschaft abzulegen.
Deswegen ist meine erste Bemerkung, dass überhaupt gar kein Zweifel daran bestehen kann, dass der Überfall russischer Streitkräfte auf die Ukraine ein tiefer Einschnitt in die europäische Sicherheitsordnung ist. Es ist der größte Landkrieg nach dem Zweiten Weltkrieg, und dieser Krieg ist errichtet worden auf Demagogie, auf Lügen, auf Toten, auf Verletzten, auf Vertreibungen und letztlich auch auf einer Katastrophe, der die Ukraine gegenübersteht. Deswegen war es richtig, dass der Bundeskanzler vor einem Jahr diesen Einschnitt in die europäische Sicherheitsordnung eine „Zeitenwende“ genannt hat. Damit wird auch dieser Begriff in Zukunft das fassen, was unsere Aufgabe ist, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Umso mehr will ich aber auch sagen: Der Begriff muss über den 24. Februar hinausgehen. Nach meinem Dafürhalten ist der Begriff „Zeitenwende“ auch für die gesamten anderen Herausforderungen, denen sich die Bundesregierung, denen sich unser Land, denen sich Europa, aber auch die Welt gegenübersieht, zu gehaltvoll, zu notwendig. Zeitenwende ist auch die nationale und internationale Entwicklung, ist aber letztlich auch das, was wir in unserem Land in den nächsten 20 Jahren tun, nämlich den Umbau einer Industriegesellschaft – auch und genau wegen des Klimas –, damit Deutschland stark bleibt. Das ist sozusagen als Zeitenwende zu verstehen.
Die Zeitenwende findet auch in der internationalen Ordnung statt, meine Damen und Herren. Neue Gestaltungsmächte beanspruchen, die internationale Ordnung mitzuprägen. Auch das ist eine Zeitenwende. Deswegen glaube ich: Wir befinden uns in Zeitenwenden in der Zeitenwende, die durch Russland hervorgerufen worden ist. Das ist eine große Aufgabe, und ich finde, darüber müssen wir heute, aber auch in Zukunft Rechenschaft ablegen.
Deswegen bin ich froh, dass die Koalition in dieser Zeit Verantwortung übernommen hat, dass diese Koalition unser Land durch diese Krisen führen will. Was wurde in den letzten Monaten nicht alles vorhergesagt: Energieknappheit, Betriebsschließungen. Einige haben gesagt: Es ist gar kein Problem, mal den Schalter von eins auf null umzulegen. Nein, das war ein Problem. Das haben wir erkannt, und deswegen haben wir gegengesteuert und gleichzeitig hier im Deutschen Bundestag auch noch neue soziale Rechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verabschiedet. Das war wichtig. Auch das ist eine Zeitenwende, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Einige meinen – deswegen möchte ich diese Debatte auch zum Anlass nehmen, über das eine oder andere zu reflektieren, was manchmal vielleicht auch etwas leichtfertig in den öffentlichen Raum geworfen wird –, mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sei der Kalte Krieg zurückgekehrt. Es ist ja mittlerweile Mode geworden, dem neue Begrifflichkeiten zu widmen, nämlich einen Kalten Krieg 2.0. Das ist unzutreffend. Ich glaube, der Kalte Krieg – wir können froh sein, dass wir ihn überwunden haben, meine Damen und Herren – war gezeichnet von Bipolarität und von einem einzigen Macht- und Ideologiekonflikt.
Heute, meine Damen und Herren, ist die Situation eine andere. Deswegen empfehle ich wirklich, sehr gut auf die Debatte zu achten, die wir auch hier in Deutschland führen, weil der Kalte Krieg woanders ganz anders wahrgenommen wird. Früher ist der Kalte Krieg auf dem Rücken anderer Länder ausgetragen worden. Deswegen dürfen wir nicht mit der Hybris des Kalten Krieges versuchen, die internationale Ordnung neu zu gestalten. Wir müssen darauf aufpassen, dass sich andere Länder in der internationalen Politik nicht ausgegrenzt fühlen, schon gar nicht durch uns. Die Gestalt der Welt ist zu kompliziert, als dass man sie einfach auf ein neumodisches Wort zurückführen könnte.
Deswegen bevorzuge ich das, was vor einiger Zeit der deutsche Friedensforscher Dieter Senghaas „eine Gestalt der internationalen Ordnung“ genannt hat. Er hat von einer „zerklüfteten Welt“ gesprochen. Diese Welt besteht darin, dass 16 Prozent der Weltbevölkerung in der OECD-Welt leben, in unserer Welt. Die mag gut vernetzt, die mag manchmal auch sehr bequem sein, aber das ist nicht die Welt, die da draußen ist.
Die andere Welt besteht aus 37 Prozent der Weltbevölkerung in 130 Staaten, die versuchen, sich leidlich zu entwickeln, oder die kippten. 10 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren Staaten, die schon längst zerbrochen sind. Und dann – das ist das Novum für die internationale Ordnung, meine Damen und Herren –: Allein in zwei Großstaaten leben weitere 37 Prozent der Weltbevölkerung. Ich finde, wir müssen uns mit dieser Gestalt genauso auseinandersetzen wie mit der Situation, die durch Russland hervorgerufen worden ist.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Aber wenn ich betone: „Das ist nicht der Kalte Krieg“, dann wundere ich mich manchmal schon, welche Sprachmuster aus dem Kalten Krieg in unsere deutsche Diskussion wieder Eingang finden. Da gibt es Expertinnen und Experten, die uns glauben machen wollen, ein nuklearer Krieg sei beherrschbar. Da gibt es Wissenschaftler, die Begriffe wie „Kriegsfähigkeit“ und letztlich „Pazifismusweltmeister“ in die Debatte bringen. Sweatshirts mit Leopardenmustern werden als öffentliche Manifestation getragen, oder Leopardenwitze machen die Runde. Das ist nicht angemessen vor dem Hintergrund der Zeitenwende, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Wir brauchen nicht ständig einen permanenten Ausnahmezustand in der Diskussion, sondern wir brauchen Klarheit und Vernunft.
Ja, ich bedauere sehr, dass Denkanstöße dann, wenn es sie mal wie den von Jürgen Habermas gibt, übergangen werden, zur Seite gelegt, abgeheftet werden oder der Autor sogar mit Geschrei und übler Nachrede verfolgt wird. Ich glaube, Deutschland ist erwachsen genug, sich mit diesen manchmal auch sehr komplizierten Fragen auseinanderzusetzen, auch hier im Deutschen Bundestag.
Deswegen habe ich im letzten Jahr versucht, die Gestalt der Welt vor dem Hintergrund des Abstimmungsergebnisses in der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit einer Weltkarte auszudrücken. Ja, die Mehrheit von 141 Staaten hat diesen Angriffskrieg verurteilt, genauso wie vor zwei Wochen wieder. Es war gut, dass die Bundesregierung – die Außenministerin, der Bundeskanzler – die Länder überzeugt hat, weiterhin zu dieser großen Koalition der Länder zu stehen. Aber auf der anderen Seite müssen wir uns auch mit den anderen Ländern befassen. Es sind zwar weniger Länder, aber es ist trotzdem der größere Teil, wenn man ihn an der Weltbevölkerung, am Bruttosozialprodukt und vielen anderen Dingen misst.
Deswegen ist es gut, dass der Bundeskanzler auch gegen manchen vielleicht gutgemeinten Hinweis trotzdem nach Südafrika, nach China und vor wenigen Tagen nach Indien gereist ist. Man muss mit diesen Ländern darüber reden, wie sie diese Welt sehen und ob sie an unserer Seite sind, um diesen Krieg endlich zu beenden. Ich kann nur sagen, Herr Bundeskanzler: Das ist aller Mühen wert. Ich weiß und merke auch, wie anstrengend das ist. Aber ich will nur sagen: Es ist auch im Interesse Deutschlands. Und dafür ganz herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
1937 schrieb Antonio Gramsci: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster.“ Wie aktuell ist dieses Zitat, und was hat Antonio Gramsci damals vorausgesehen! Deswegen sollten wir uns vielleicht auch an dieses Zitat halten, weil in diesem Zitat eines klar wird: Ja, wir müssen den Monstern entgegentreten. Deswegen ist das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine, solange der Sicherheitsrat nicht bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, gerechtfertigt. Deswegen unterstützen wir auch die Ukraine: mit militärischen Mitteln, mit wirtschaftlicher Hilfe, mit humanitärer Hilfe. Das ist auch völkerrechtlich verankert. Trotzdem müssen wir darauf achten, dass das humanitäre Kriegsvölkerrecht nicht verletzt wird. Deswegen war die Reaktion der Bundesregierung damals richtig, als Streumunition angefragt worden war. Wir verfügen gar nicht darüber, aber wir müssen das in der internationalen Debatte mit einbringen.
Ich will noch mal sehr deutlich sagen: Ja, wir müssen dem Monster Putin entgegentreten. Aber wir müssen genauso versuchen, ihm auch mit den Möglichkeiten des Völkerrechts entgegenzutreten. Deswegen bin ich der Bundesaußenministerin dankbar, dass sie beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag versucht hat, eine Plattform zu finden, ein Monster aus dieser Realität zu verbannen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Zum anderen: Wenn wir neue Monster aufhalten wollen, müssen wir natürlich auch Rechenschaft über das ablegen, was in der Vergangenheit war. Das tue ich auch. Ich will hier sehr freimütig sagen: Ja, ich habe damals den Artikel von Putin – ich glaube, das war in der Zeitschrift „Osteuropa“ – gelesen. Vielleicht habe ich ihn nicht richtig verstanden, oder vielleicht habe ich den Inhalt unterschätzt; das gebe ich zu.
Aber ich will mal sagen: Auch in deutschen Zeitungen ist über diesen Artikel im Feuilleton berichtet worden und nicht in dem großen Teil vorne, wo es um Nachrichten geht. Deswegen bin ich manchmal etwas verwundert über diejenigen in Deutschland, die angeblich immer alles gewusst haben. Ich habe nicht alles gewusst.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU)
Ich finde, diese Demut sollten auch alle anderen haben, die in den letzten Wochen und Monaten immer meinten, alles richtig zu machen.
(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Wir wussten es vorher schon!)
Zum Schluss. Heftige Reaktionen hat es auch mir gegenüber gegeben – ich will das bekennen –, wenn ich den Begriff der „Diplomatie“ in den Mund genommen habe. Ich habe ihn deswegen erwähnt, weil er genauso wie das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine Bestandteil der Charta der Vereinten Nationen ist.
Diplomatie muss mit den anderen Mitteln gleichrangig behandelt werden. Anders ist internationale Politik unter dem Aspekt des Völkerrechts nicht möglich. Aber warum habe ich von Diplomatie gesprochen? Doch nicht, um mit Putin zu verhandeln, sondern um das zu unterstützen, was der Bundeskanzler getan hat: Er will dem russischen Präsidenten Eskalationsmöglichkeiten nehmen, die Eskalationsdominanz verringern. Deswegen war es gut, dass China sich dabei angeschlossen hat, zu sagen: „Das nukleare Tabu muss erhalten bleiben“; denn das hat uns erst die Möglichkeit gegeben, so zu handeln, wie wir es getan haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)
Meine Damen und Herren, kluge Diplomatie schafft neue Räume für entsprechende Möglichkeiten. Ich finde, das können wir auch von allen anderen Regierungen verlangen, insbesondere von denen, die im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sind. Herr Kollege Merz, ich mache mir gar keine Gedanken darüber, warum der Bundeskanzler nicht mit Journalisten reist. Ich finde es nicht falsch, mit Journalisten zu reisen. Aber wenn er einen Arbeitsbesuch bei Präsident Biden macht: Was spricht denn dagegen, diese Gespräche in den nächsten Stunden mit dem wichtigsten Partner in der transatlantischen Allianz zu führen?
(Zuruf des Abg. Thomas Rachel [CDU/CSU])
Es ist sozusagen eine Existenzversicherung für Deutschland, dass diese Gespräche geführt werden, und es ist gut, lieber Olaf Scholz, dass Sie das tun.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Umso wichtiger ist es, dass auch China Verantwortung übernimmt. Ja, ich bin enttäuscht über diesen Plan. Aber im Gegensatz zu vor einem Jahr steht China nicht mehr am Rande. Wir dürfen es auch nicht mehr loslassen, in dieser Situation immer wieder neu zu fordern. Wir dürfen die Welt nicht in Schwarz-Weiß aufspalten. Wir müssen jeden Tag nach Gemeinsamkeiten suchen und mehr miteinander teilen, meine Damen und Herren – auch NordSüd-Politik gehört dazu –; sonst werden sich noch mehr Monster unserer Welt bemächtigen.
Vielen Dank.