Vom "gerechten Krieg" zur Schutzverantwortung: Eine poltische Bewertung

Die Lehre vom Gerechten Krieg erlebte in den 1990er Jahren parallel zu den westlichen Interventionskriegen im Irak 1991, im Kosovo 1999, in Afghanistan 2001, im Irak 2003 und zuletzt in Libyen 2011 eine Art "Renaissance" und ist unter ist unter den Stichworten  "humanitäre Intervention" und Schutzverantwortung in der heutigen Diskussion wieder aktuell.

Bereits 2001 veröffentlichte die International Commission on Intervention and State Sovereignty einen Bericht mit dem Titel Responsibility to protect, in dem die Einbeziehung der Kriterien vom Gerechten Krieg für eine humanitäre Intervention ausdrücklich gefordert wird.

Für mich als Abgeordneten, der über den Einsatz der Bundeswehr als Parlamentsarmee bei jeder Mandatsverlängerung mit entscheidet, geht es weniger um "gerechte" als um rechtmäßige und gerechtfertigte Kriege. Notwendige rechtliche und politische Voraussetzung für eine Entsendung deutscher Streitkräfte bleibt ein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.

Die internationale Politik ist voll von "gerechten Kriegen". Die Figur des "gerechten Krieges" dient dabei in erster Linie der (Selbst-)Rechtfertigung. Kriege sind dabei nie gerecht - sie töten immer auch Unschuldige - dies gilt auch und in besonderer Weise für den Prototyp des "gerechten Krieges", den Krieg der Alliierten gegen Nazideutschland. Es gibt in der internationalen Politik viele Rechtfertigungen für Kriege: die Intervention auf Ersuchen, präemptive Militärschläge, wie die der israelischen Luftwaffe gegen die im Bau befindlichen Reaktoren im Irak und Syrien, das Recht auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charte, welches für den Krieg in Afghanistan herangezogen wurde und die sogenannte "humanitäre Intervention" in der Regel mit - im Falle Irak und Kosovo auch ohne - ein entsprechendes Mandat des UN-Sicherheitsrates.

Intervention auf Ersuchen

Während des Kalten Krieges erlangte die Intervention auf Ersuchen traurige Berühmtheit: Beispiele sind die von Moskau angeordneten Militäraktionen gegen Ungarn 1956 und gegen die Tschechoslowakei 1968. In beiden Fällen wurden die behaupteten Hilfsersuchen "ex post"abgegeben, das heißt von moskautreuen Kräften nachgereicht . Auch in Afghanistan intervenierte die Sowjetunion 1980 auf Bitte der afghanischen Regierung.

Auf wenig positives internationales Echo stießen auch die US-Interventionen in der Dominikanischen Republik 1965, auf der Karibikinsel Grenada 1983 und in Panama 1989. In allen diesen Fällen behauptete die US-Regierung das Vorliegen eines Hilferufes der amtierenden Regierung.

Humanitäre Interventionen und die Responsibility to protect

Seit Ende des Kalten Krieges hat es die internationale Gemeinschaft bzw. der Westen besonders mit sogenannten "humanitären Interventionen" zu tun. Diese sind heftig umstritten.

Der häufigste Vorwurf an die Adresse der "Interventionisten" ist der der Doppelmoral. Dieser gipfelt zumeist in der Frage: Warum interveniert ihr im Kosovo und in Libyen aber nicht in Syrien, in Tschetschenien, Tibet oder in den afrikanischen Bürgerkriegsgebieten? Diese Argumentation folgt der Logik, wenn ihr nicht überall intervenieren könnt, dann dürft ihr nirgendwo eingreifen und ist die gesinnungsethische Moral des Absoluten. Hierzu Max Weber: ""Verantwortlich" fühlt sich der Gesinnungsethiker nur dafür, dass die Flamme der reinen Gesinnung (...) nicht erlischt. (...) Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, dass die Erreichung "guter" Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, dass man sittliche bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf nimmt, und keine Ethik der Welt kann ergeben: wann und in welchem Umfang der ethisch gute Zweck die ethisch gefährlichen Mittel und Nebenerfolge "heiligt".- Gesinnungsethik habe deshalb "nur die Möglichkeit: jedes Handeln, welches sittlich gefährliche Mittel anwendet, zu verwerfen. (...) Der Gesinnungsethiker erträgt die ethische Irratonalität der Welt nicht. Es ist kosmisch-ethischer "Rationalist"."

Verantwortungsethisch muss sich der Gesinnungsethiker die Frage gefallen lassen, warum derjenige, der einem Verbrechen tatenlos zuschaut, mehr Respekt verdienen sollte, als der andere, der versucht es zu verhindern? Wer nicht eingreift, kann nicht viel falsch machen, aber unschuldig bleibt er nicht. Nichthandeln führt ebenso zu Konsequenzen wie Handeln.

Und schon ist man bei einem zentralen Problem. Humanitäre Interventionen bleiben den absoluten Erfolgsbeweis schon deshalb schuldig, weil sie im Zweifelsfall genau das verhindert haben, was zu ihrer Legitimation herangezogen wurde: einen Genozid, ein Massaker oder andere schwerste Menschenrechtsverletzungen. Hätte eine NATO-Koalition 1994 rechtzeitig in Ruanda eingegriffen, wäre sie mit Sicherheit nicht für die Verhinderung eines Völkermordes gefeiert, sondern für die Einmischung in einen Bürgerkrieg kritisiert worden. Die Interventionen, denen im Rückblick auch beinharte Pazifisten zustimmen würden, sind immer die, die nicht stattgefunden haben.

Paradigmenwechsel im Völkerrecht

Es ist eine Tatsache, dass seit den UN-Einsätzen in Bosnien und Somalia ein Paradigmenwechsel im Völkerrecht stattgefunden hat, nachdem Menschenrechte nicht mehr zu den "inneren Angelegenheiten" eines Staates gehören. Diese Entwicklung wird zweifelsohne verstärkt durch die Rolle der Medien. Konstruktionen einer Fortentwicklung des Völkerrechts weg von einem "Recht der Staaten" hin zu einem "Recht der Menschen" bündeln in dem Schlagwort: "Menschenrecht bricht Völkerrecht". Hier besteht jedoch die Gefahr, dass man einen unauflösbaren Gegensatz zwischen Menschenrechten und dem herrschenden Völkerrecht konstruiert. Demnach würde das mühsam über ein Jahrhundert entwickelte Völkerrecht zur beliebigen Manövriermasse, welches jeder Staat oder jede Staatengruppe nach Gutdünken interpretieren und auslegen könnte.
Aus den o.g. Gründen müssen deshalb die Bedingungen, die eine humanitäre Intervention rechtfertigen, klar festgelegt werden.

Dazu gehören:
-  alle diplomatischen und politischen Mittel der friedlichen Streitbeilegung müssen ausgeschöpft worden sein oder sich als offensichtlich aussichtslos erweisen, um die Gewaltanwendung als ?ultima ratio? als gerechtfertigt erscheinen zu lassen;

- der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein, d.h. eine zur Abwehr völkerrechtswidriger Handlungen ergriffene Maßnahme muss geeignet und verhältnismäßig sein, um die völkerrechtswidrige Handlung zu unterbinden und
- die Maßnahme muss von einem ?legitimen? Organ beschlossen werden, wobei ein kollektives Vorgehen von Staaten eine höhere Glaubwürdigkeit besitzt als unilaterale Aktionen und Beschlüsse der UNO eine höhere Autorität genießen als Aktionen von Bündnissen oder "coalitions of the willing".

Das Prinzip der Schutzverantwortung ist bislang nur in wenigen Fällen in einer Resolution des Sicherheitsrates explizit aufgenommen worden, am deutlichsten bei drei Resolutionen aus 2011: in den UN-Sicherheitsratsresolutionen 1970 und 1973 zu Libyen sowie in der Sicherheitsratsresolution 1975 zur Beendigung der Gewalt in der Elfenbeinküste. Konsens besteht demnach weitgehend darüber, dass es eine Primärverantwortung der Staaten gibt, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, systematischer Gewalt gegen Minderheiten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Kann oder will ein Staat dies nicht leisten, geht die Schutzverantwortung auf die internationale Gemeinschaft über.

Der Fall Libyen

Seit der Intervention in Libyen ist die Schutzverantwortung oder Responsibility to Protect (R2P) wieder in aller Munde. Für die einen ist Libyen der Durchbruch des Konzeptes und ein wichtiger Schritt hin zu einer völkerrechtlichen Norm. Für die Kritiker ist R2P von der NATO lediglich dazu instrumentalisiert worden, um einen unliebsamen Diktator loszuwerden.

Positiv zu vermerken bleibt, dass durch die Einstimmigkeit der UN-Resolution 1970 der Internationale Strafgerichtshof eine deutliche Aufwertung erfuhr.  Bemerkenswert war insbesondere die Zustimmung der USA. Diese sind wie auch Russland und China nicht Vertragsstaat des Internationalen Strafgerichtshofes. (Zwar hatte Präsident Clinton das Rom-Statut noch unterzeichnet, Präsident Bush hatte diese Unterschrift 2002 jedoch wieder zurückgenommen.) Zudem suspendierte - auf ebenfalls einstimmige Empfehlung des Menschenrechtsrats selbst hin - die 192 Mitglieder umfassende UN-Generalversammlung die Mitgliedschaft Libyens im Menschenrechtsrat im Konsensverfahren. Dies wurde möglich, da sowohl im Menschenrechtsrat als auch in der Generalversammlung die libyschen Vertreter, die sich zuvor von Gaddafi losgesagt hatten, für den Ausschluss ihres Landes stimmten.

Die UN-Resolution 1973 vom 17. März 2011 ist jedenfalls schon jetzt ein Dokument für die Geschichtsbücher. Gareth Evans, ehemaliger australischer Außenminister und einer der Architekten des Prinzips der Schutzverantwortung ist davon überzeugt, dass eine ähnlich schnelle und robuste Antwort seinerzeit 8.000 Menschenleben in Srebrenica und 800.000 in Ruanda gerettet hätte. Letzte Gewissheit kann es dabei naturgemäß nicht geben, denn dazu müsste man definitiv wissen, wie sich die Lage in Libyen darstellen würde, wenn das westliche Bündnis nicht eingegriffen hätte.

Ursprünglich sollte die Militärintervention dem Schutz der Zivilbevölkerung dienen - de facto ging es am Ende um einen Regimewechsel. Es führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass die UN-Resolution 1973 von der NATO sehr weit interpretiert wurde. Sie hat das Mandat des UN-Sicherheitsrates instrumentalisiert, um den libyschen Machthaber Gaddafi zu stürzen. Es darf daher bezweifelt werden, dass China und Russland, aber auch andere Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, künftig eine ähnliche UN-Resolution passieren lassen werden. 

Ohne Zweifel spielte das humanitäre Motiv die entscheidende Rolle für den Beschluss des UN-Sicherheitsrates. Sowohl für die französische - aber besonders für die amerikanische Regierung -  waren die Erfahrungen aus Ruanda 1994 und Srebrenica 1995 entscheidend. Wichtige Akteure der Regierung Obama, wie die UN-Botschafterin Susan Rice und besonders Außenministerin Clinton, waren deutliche Befürworter eines militärischen Eingreifens. Die Besonderheit der Krise in Libyen hat sicher dazu beigetragen. Bereits Anfang März 2011 gingen unabhängige Beobachter von mehreren Tausend toten Zivilisten aus. Der von Gaddafi explizit angedrohte und unmittelbar bevorstehende Angriff auf Bengasi mit seinen mehr als 600.000 Einwohnern, hätte mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Massaker mit Tausenden von Opfern geführt. Nachdem sich sogar die Arabische Liga, die Organisation der islamischen Konferenz und der Golf-Kooperationsrat für ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft ausgesprochen hatten, enthielten sich die Vetomächte Russland und China und machten dadurch den Sicherheitsrat handlungsfähig. Eine deutliche Mehrheit seiner Mitglieder kam zu dem Ergebnis,  dass die Schutzverantwortung auf die internationale Gemeinschaft überzugehen habe. Der Text der Resolution 1973 weist folglich ein breites Handlungsspektrum auf, das auch den Einsatz militärischer Mittel zum Schutz der Zivilbevölkerung einschließt.

Die Intervention hat tatsächlich die Eroberung Bengasis durch Gaddafis Truppen und das angekündigte Massaker in der Stadt verhindert und damit das erste Ziel der Resolution erreicht. Der erfolgreiche Regimewechsel und das Ende Gaddafis sollte die NATO jedoch nicht zu falschen Schlüssen verleiten: Die Möglichkeit, mit begrenzten militärischen Luftschlägen einen Regimewechsel zu unterstützen und anschließend entscheidenden politischen Einfluss auf die Nachkriegsordnung zu nehmen, ist als Modell durchaus attraktiv, besonders weil es ohne Bodentruppen auszukommen scheint. Dies ist jedoch die Ausnahme und nicht die Regel, wie nicht nur der andauernde Krieg in Afghanistan zeigt. Die zentrale Erfahrung, die der Westen in Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Irak und Afghanistan gemacht hat, lautet vielmehr: Wenn das Bündnis mit militärischen Mitteln interveniert, muss es auch darauf vorbereitet sein, in eine potentiell langwierige und risikobehaftete Nachkriegs- und Stabilisierungsphase hineingezogen zu werden.

Auch wenn man das humanitäre Eingreifen der NATO zum Schutz der Zivilbevölkerung für richtig hält, verwundert doch die Selbstzufriedenheit mit der auf Seiten des Bündnisses der Krieg gegen Libyen als Erfolg verkauft wurde - zumal eine abschließende Bilanz immer noch aussteht. Einzig der Internationale Strafgerichtshof hat bislang klargemacht, dass er die Verbrechen aller Seiten untersuchen will. Vom UN-Sicherheitsrat und der NATO war dazu bislang nur wenig zu hören.

Fazit

Der Zielkonflikt zwischen Menschenrechten und staatlicher Souveränität wird uns auch nach Libyen erhalten bleiben. Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen zur Durchsetzung des Rechts Gewalt angewendet werden soll, gehört zu den schwierigsten und umstrittensten Fragen ? auch und gerade in meiner eigenen Partei und Fraktion. Während die einen in der Schutzverantwortung nicht anderes, als den altbekannten Neoimperialismus des Westens unter dem Deckmantel der Humanität sehen, werfen deren Befürworter den Gegnern vor, sich hinter dem Mantel der Souveränität zu verschanzen. 

Die UN-Charta verkörpert sicherlich nicht die beste aller Welten. Sie ist ausgelegt auf die Nationalstaaten als die einzig relevanten Völkerrechtssubjekte. Deshalb sollte man sich auch über den Charakter der Vereinten Nationen keinen Illusionen hingeben. Sie sind eben kein weltweites "System Kollektiver Sicherheit", sondern nach wie vor in erster Linie ein Konzert der Groß- und insbesondere der Vetomächte.

Die Akzeptanz und die Implementierung der internationalen Schutzverantwortung auf globaler, regionaler und nationaler Ebene voranzutreiben, wird nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, darüber einen breiten internationalen Konsens herzustellen.  Der Begriff der R2P bedarf dringend einer nachvollziehbaren Operationalisierung. Es ist zweifelsohne ein Fortschritt, wenn blutige Unterdrückung von Diktatoren nicht mehr durch die Immunität staatlicher Souveränität geschützt ist. Wird diese Norm jedoch willkürlich angewendet, büßt sie ihre Glaubwürdigkeit ein. Ob der Libyenkrieg diese Norm nun befördert oder behindert hat, wird wohl erst die Zukunft zeigen.
 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Veröffentlicht: 
Rede anläßlich der Hagener Hochschulgespräche, FH Südwestfalen, 09.01.2012
Thema: 
Dürfen "gerechte" Kriege möglich sein?