Europa als politische Union
Europa von Kurt Tucholsky (1932)
Am Rhein, da wächst ein süffiger Wein
Der darf aber nicht nach England hinein
Buy British!
In Wien gibt's herrliche Torten und Kuchen,
Die haben in Schweden nichts zu suchen ?
Köp svenska varor!
In Italien verfaulen die Apfelsinen
Laßt die deutsche Landwirtschaft verdienen!
Deutsche, kauft deutsche Zitronen!
Und auf jedem Quadratkilometer Raum
Träumt einer seinen völkischen Traum.
Da liegt Europa. Wie sieht es aus?
Wie ein bunt angestrichnes Irrenhaus.
Nationen schufen auf Rekord:
Export! Export!
Die andern! Die andern sollen kaufen!
Die andern sollen die Weine saufen!
Die andern sollen die Schiffe heuern!
Die andern sollen die Kohlen verfeuern!
Wir? Zollhaus, Grenzpfahl und Einfuhrschein:
Wir lassen nicht das Geringste herein.
Fahnen und Hymnen an allen Ecken.
Europa? Europa soll doch verrecken!
Und wenn alles der Pleite entgegentreibt:
Daß nur die Nation erhalten bleibt!
Menschen braucht es nicht mehr zu geben.
England! Polen! Italien muß leben!
Es lodern die völkischen Opferfeuer:
Der Sinn des Lebens ist die Steuer!
Der Himmel sei unser Konkursverwalter!
Die Neuzeit tanzt als Mittelalter.
Die Nation ist das achte Sakrament
Gott segne diesen Kontinent!
Die Europäische Union (EU) hat derzeit alles andere als einen guten Ruf. Das tiefe Zerwürfnis im Zuge des Irak-Krieges und das Scheitern des Verfassungskonvents im Dezember 2003 scheinen zu bestätigen, dass die EU eine machtlose und uneinige Institution ist. Mit der Erweiterung um zehn Mitglieder zum 1. Mai diesen Jahres werde die Europäische Union - so die immer zahlreicher werdenden Kritiker - endgültig zu einer besseren Freihandelszone degenerieren. Die Strukturen der EU sind mittlerweile derart komplex geworden, dass selbst Experten kaum noch alle Bereiche der europäischen Integration durchschauen.
Die EU stellt eine Mischform aus intergouvernementalem Staatenbund und suprantionalem Bundesstaat dar. Dies verdeutlicht ein Blick auf die Struktur der EU, dem so genannten "Drei-Säulen-Modell":
1. Erste Säule: Europäische Gemeinschaft (supranational)
2. Zweite Säule: GASP/ESVP (intergouvernemental)
3. Dritte Säule: Zusammenarbeit Innen- und Justizpolitik (intergouvernemental)
Fest steht, dass mit dem Beitritt der zehn Neumitglieder zum 1. Mai 2004 die Überwindung des Ost-West-Gegensatzes innerhalb der EU zur zentralen Aufgabe wird. Damit werden auch die Ungleichgewichte und die Verteilungskonflikte innerhalb des größeren Europas zunehmen. Nach wie vor umstritten bleibt auch das Verhältnis zur amerikanischen Weltmacht. Neben dem strategischen Konflikt zwischen altem und neuem Europa wird nach der Erweiterung ein ökonomischer Konflikt zwischen West- und Osteuropa treten. M.a.W. Ein Kampf ums Geld und die Strukturfonds ist zu erwarten, zumal. die bisherigen Empfänger offenbar nicht bereit sind, ihre Privilegien mit den Neumitgliedern zu teilen.
Wird die EU also nur geographisch größer, aber zugleich ökonomisch ärmer und institutionell schwächer? Der europäische Integrationsprozess ist zweifellos in einer schwierigen Phase.
Krisensymptome:
- Zu den Krisensymptomen gehören in der Wahrnehmung der meisten kleineren Mitglieder die angebliche Dominanz der größeren Mitgliedsstaaten. Gemeinsame Treffen und Absprachen britischen, französischen und deutschen Regierung nehmen die politischen Akteure der kleineren Staaten als Versuch der Etablierung eines "Dreierdirektorium" misstrauisch bis ablehnend wahr. In der Diskussion um die Zukunft der EU suggeriert der Begriff "Direktorium" eine verschworene Gemeinschaft der drei mächtigsten Mitgliedstaaten, die den Rest der erweiterten Union immer häufiger vor vollendete Tatsachen stellen wollten. Hinzu kommt, dass die großen EU-Länder von den Neumitgliedern die Einhaltung von Regeln verlangen, über die sie sich selbst hinwegsetzen. Berlin und Paris - weniger London - sind immerhin die größten Sünder bei der Missachtung von EU-Richtlinien.
- In allen Hauptstädten macht sich überdies ein Anti-Brüssel-Populismus breit. Hinter den verschlossenen Türen des Ministerrats stimmt man EU-Maßnahmen zu, nur um sie später öffentlich zu diskreditieren.
- Eine grundlegende Reform des überdimensionierten Agrarmarktes scheitert bislang an den Widerständen v.a. in Frankreich und Spanien. Ohne die notwendigen inneren Reformen wird die Integration der Neumitglieder jedoch scheitern.
- Hinzu kommt die Weigerung der sechs Nettozahler, die Ausgaben für das künftige Europa über ein Prozent des Bruttonationaleinkommens steigen zu lassen. Die EU-Kommission klagt gegen die nationalen Regierungen wegen Missachtung des Stabilitätspakts. Die Nationalstaaten kämpfen um Geld, Strukturfonds und Agrarsubventionen. Es stehen Verteilungskämpfe an: Groß gegen Klein, Reich gegen Arm, West gegen Ost. Und es besteht die Gefahr und die Tendenz einer zunehmenden Renationalisierung. M.a.W.: Das Ansehen der EU bei ihren Bürgern sinkt.
- Im Streit um die Verfassung spaltet sich Europa in alte Allianzen und neue Zweckbündnisse. Ausgerechnet mit Spanien, das besonders halsstarrig seine Privilegien gegen die osteuropäischen Neuankömmlinge verteidigte, verbündet sich mit Polen im Verfassungsstreit. Die neue sozialistische Regierung scheint hier allerdings eine Korrektur zu betreiben.
Hinter dem erbitterten Streit verbergen sich auch verschiedene Europakonzepte:
- Einerseits das karolingische Europa: Ziel ist die Schaffung einer politischen Union, eines europäischen Bundesstaates, der auf gleicher Höhe mit den USA auch die sicherheitspolitischen Probleme der Zukunft angeht.
- Europa als Binnenmarkt und Freihandelszone: Hierbei geht es um eine Art modernisierter Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft. Sicherheitspolitische Angelegenheiten sollen demnach nur mit den USA bearbeitet werden.
Die entsprechenden Überschriften finden sich dann schnell: Keine weitere Erhöhung der Beiträge der Nettozahler, Drohung mit einer Avantgarde, einem Kerneuropa oder gar einem deutsch-französischen Bund.
Versuch einer Ehrenrettung
Über all der Kritik sind die unzweifelhaften Erfolge der EU immer mehr in den Hintergrund, wenn nicht in Vergessenheit geraten. Europa ist mehr als nur eine Freihandelszone. Die EU ist ein in der Staatengeschichte einzigartiges zivilisatorisches Projekt - eine Erfolgsgeschichte ohne Gleichen. Noch vor sechzig Jahren lag Europa nach Jahrhunderten von blutigen Hegemonialkriegen in Trümmern. Deutschland hatte daran - wie wir alle wissen - einen wesentlichen Anteil. Die Aussöhnung und Integration Westeuropas (mit amerikanischer Hilfe und unter dem Eindruck der sowjetischen Bedrohung) und die Erweiterung der EU nach Osten zeigt, dass ?Frieden durch Integration? ein Projekt ist, dessen Anziehungskraft ungebrochen ist. Europäische ?soft power? hat sich als außerordentlich wirkungsvoll erwiesen. Europa als Friedensprojekt bedeutet die Schaffung einer überstaatlichen Friedensordnung. Diese friedensstiftende Funktion der Europaidee gilt mittlerweile als selbstverständlich. Das ist sie jedoch nicht. In historischer Perspektive wird deutlich, dass die Periode von Frieden und Stabilität, wie sie die EU in den letzten 50 Jahren geschaffen hat, ihresgleichen sucht. Europa als Werte- und Schicksalsgemeinschaft bleibt alternativlos. Es kann auch nicht durch ein Militärbündnis oder eine Freihandelszone ersetzt werden.
Europa als Sicherheitsgemeinschaft
Der Prozess der europäischen Integration entstand aus der Erfahrung von Unfrieden und Unsicherheit - eine Erfahrung, die die Geschichte der meisten heutigen EU-Mitglieder geprägt hat. Zuerst ist es die Erfahrung des Krieges, der ungebremsten Machtkonkurrenz und des zerstörerischen Herrschaftsanspruchs, im Zweiten Weltkrieg noch einmal gesteigert um die Dimension des Völkermordes und eine ?totale? Kriegführung, die in völliger Zerstörung endete. Eine andere, für den Durchbruch des Konzeptes der Integration, dessen konkrete Anfänge Jahrzehnte zurück reichten, vielleicht wichtigste Erfahrung wurde die des Zwangs zum Miteinander: Da keiner der großen Staaten durch äußeren Druck auf Dauer unterhalb seiner Möglichkeiten zu halten war, lag in vielen der Kriegsausgänge der europäischen Geschichte zugleich der Keim zur Vorbereitung des nächsten. Vor diesem Hintergrund konnte sich das Konzept der Integration entfalten: Als Strategie der Verflechtung zuvor kriegswichtiger Machtressourcen, als System der Einbindung früherer Kriegsgegner über die Bündelung von Souveränität statt ihres Entzugs, als Programm der Wohlstandsentwicklung über den Aufbau eines Gemeinsamen Marktes. Von Anfang an brach der Integrationsprozess zudem mit einer weiteren Lektion europäischer Geschichte - dass kleine Staaten Objekte der Machtpolitik ihrer größeren Nachbarn seien. Im Aufbau Europas wurden sie zu Subjekten der Integrationspolitik. Das Engagement und das Profil der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs bieten dazu reiche Anschauung. Europäische Integration hat sich in diesem Sinne als eine Sicherheitsgemeinschaft entwickelt, die ihren Mitgliedern Schutz vor Hegemonie und Bevormundung durch die unmittelbaren Nachbarn versprach. Was Anfang der 50er Jahre kaum mehr als eine Erwartung sein konnte, erscheint heute bereits so sehr als Selbstverständlichkeit, dass es in kaum einer Bilanz noch eigens genannt wird.
Die Europäische Union stellt - neben der NATO - die einzige real existierende Sicherheitsgemeinschaft auf der Welt dar. Nach Karl W. Deutsch zeichnet sich eine ?pluralistische Sicherheitsgemeinschaft? dadurch aus, dass in ihrem Rahmen Gewalt als Mittel zwischenstaatlicher Interessendurchsetzung überwunden ist (gewaltfreie Problemverarbeitung), ihre Teilnehmer in den grundlegenden politischen Werten übereinstimmen (Wertekonsens) und das wechselseitige Verhalten berechenbar ist (Erwartungsverlässlichkeit). Sicherheitsgemeinschaften sind also enge, institutionalisierte Beziehungen zwischen Staaten, die nicht nur auf wechselseitigem zweckrationalem Interessenkalkül, sondern auf geteilten Werten und wechselseitigen Sympathien aufruhen. Ein intensives Geflecht von Interessen, Kommunikationen und Organisationen hält ihre Mitglieder zusammen. Sicherheit wird als ein kollektives Gut verstanden. Die Möglichkeit eines bewaffneten Zusammenstoßes liegt jenseits der Vorstellungskraft. In der Geschichte ist ein solches Gebilde außergewöhnlich. Gleichwohl sollte man diese Sicherheitsgemeinschaft nicht als naturgegeben nehmen. Sie ist ein kostbarer Schatz, welcher der täglichen Pflege in der Praxis ihrer Mitglieder bedarf. Und da Wertegemeinschaft und wechselseitige Sympathie ihre eigentliche Substanz bilden, reden wir hier nicht nur von der Praxis der Brüsseler Bürokratie. Die Menschen, d.h. die europäischen Bürger müssen sie wollen. Als reines Elitenprojekt wäre ihr keine große Zukunft zu prognostizieren.
Zwar haben die Staaten der Europäischen Union im Binnenverhältnis den Gründungsimpetus verwirklicht: Krieg ist als Mittel der Politik ausgeschlossen. Im Außenverhältnis gilt dieser Befund leider nicht. Die Europäische Union lässt sich aber als Sicherheitsgemeinschaft und als zivilisierter politischer Raum langfristig nur dann erhalten, wenn es gelingt, Zivilisierungsprozesse auch in ihrem Umfeld durchzusetzen. Ein Europa als "Insel der Seligen" kann und wird es nicht geben. Auch die EU ist kein "postnationales Paradies". Nationen und Nationalstaaten haben in Europa eine viel größere Beharrungskraft, als gemeinhin angenommen.
Braucht Europa eine Verfassung?
Deshalb ist die jetzige Phase so entscheidend: Europagedanke und europäische Wirklichkeit klaffen auseinander. Es muss in der europäischen Öffentlichkeit wieder mehr über den Nutzen der europäischen Integration diskutiert und gestritten werden. Eine europäische Verfassung kann im Idealfall dazu beitragen, eine europäische Identität zu schaffen. Auch existenzielle Herausforderungen können dies. Sowohl der Irak-Krieg als auch die Erdbeben in Griechenland und der Türkei wie jüngst die Terroranschläge in Madrid haben Europa zweifelsohne enger zusammen rücken lassen. Die Zivilgesellschaft begreift sich zunehmend als eigenständiger Akteur der internationalen Politik und tritt auch verstärkt als solcher auf. Europa konstitutiert sich auch als ein ?Europa der Bürger?, als eine europäische Öffentlichkeit. Meiner Überzeugung nach ist Europa auf dem langwierigen Weg so etwas wie eine europäische Zivilgesellschaft zu formen, ein gutes Stück in den letzten Jahren vorangekommen.
Um Erfolg zu haben, muss die EU ihre Strukturen reformieren. Dazu gehören schnellere und effizientere Entscheidungsmechanismen und eine deutliche Verringerung der Blockademöglichkeiten. Dieser Aufgabe stellte sich auch der Europäische Konvent, der unter Leitung des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valerie Giscard d'Estaing einen Entwurf für eine europäische Verfassung erarbeitete.
Zu den Zielen des Konvents gehörten u.a.:
1. Rechtliche Verankerung der Grundrechte
2. Überprüfung der Kompetenzen
3. Stärkung der demokratischen Legitimation und der Effizienz
4. Vereinfachung der Verträge mit dem Ziel der Ausarbeitung der europäischen Verfassung
Ein paar Präzisierungen:
Bei der europäischen Verfassung handelt es sich im Grunde genommen um eine Anpassung und Änderung der geltenden EU-Verträge. Über die Vorzüge eines Verfassungsdokuments, das den gegenwärtigen Wildwuchs der Verträge bündelt herrscht bei allen Mitgliedsstaaten Einigkeit.
Was sieht die angestrebte Verfassung konkret vor:
- Einführung von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen statt des Einstimmigkeitsprinzips. Damit soll verhindert werden, dass sich die EU der 25 selbst lahm legt. Prinzip der doppelten Mehrheit. Es gibt gute Argumente für einen Abstimmungsmechanismus zur Beschlussfassung nach der Formel: 50 Prozent der Mitgliedstaaten und 60 Prozent der Bevölkerung auf ihrer Seite. Diese Variante ist einfacher und demokratischer als das auf einer schrägen Stimmengewichtungslogik basierende ?Nizza?-System, das die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Union eher schwächen statt fördern dürfte.
- Das Europaparlament bekommt mehr Mitsprache bei der Auswahl der Kommission und des Kommissionspräsidenten. Neben dem Kommissionspräsidenten soll das Amt eines EU-Präsidenten geschaffen werden, der die Arbeit der Regierungen im Europäischen Rat koordinieren soll. Hier hat wiederum das Europäische Parlament nicht zu sagen, sondern der künftige EU-Präsident wird aller Voraussicht nach unter den großen Mitgliedstaaten ausgekungelt werden.
- Von 2006 (aber faktisch wohl nicht vor 2009) soll ein EU-Außenminister die Gemeinschaft repräsentieren und ein diplomatischer Dienst der EU soll aufgebaut werden.
Drei Schlüsselfragen:
1. Gelingt es der europäischen Politik, die aktuelle Verfassungskrise zu meistern?
2. Wird eine schlüssige Strategie zur Gestaltung der nächsten Erweiterungsrunden erreicht?
3. Kann die europäische Außen- und Sicherheitspolitik eine gemeinsame Strategie auf die globalen Herausforderungen entwickeln und anwenden (Solana-Papier)
Die europäische Verfassung scheiterte bekanntlich an der Frage der Stimmgewichtung im Ministerrat. Spanien aber vor allem Polen waren nicht bereit von der in Nizza vereinbarten Stimmengewichtung abzurücken. Das Verfassungsprojekt darf nicht über dem ? wenn auch zentralen ? Punkt des künftigen Abstimmungsverhaltens im Ministerrat scheitern.
Auch wenn die Verfassung noch verabschiedet werden sollte, werden sich die EU-Mitglieder auch künftig in unterschiedlichen Gruppen zu partieller Zusammenarbeit finden. Ein solches "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" ist im Übrigen nichts Neues: Die Währungsunion oder das Schengener Abkommen über gemeinsame Grenzkontrollen funktionieren nach diesem Modell. Auch in einer EU mit 25 oder 30 Mitgliedern werden die Kooperationen überlappen, etwa bei zusätzlichen Unions-Kompetenzen im Bereich Polizei und Justiz oder bei einer Vereinheitlichung der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Die kooperationsfähigen und -willigen Mitgliedstaaten können ihre Zusammenarbeit in Bereichen wie der Wirtschafts- der Sozial- oder der Verteidigungspolitik vertiefen und damit den weiteren Integrationsprozess ebnen. Das Ziel einer politischen Union wird dabei nicht aus den Augen verloren, sondern auf dem Weg der differenzierten Integration angesteuert.
Nicht nur in ihrem Erscheinungsbild und Leistungsumfang, sondern auch von ihrem inneren Selbstverständnis her ist die europäische Integration von der Analogie einer Allianz weit entfernt. Sie als System kollektiver Sicherheit anzusehen, verfehlt den Kern dessen, was Europa heute ausmacht. In Variation der üblichen Begrifflichkeit wäre die Europäische Union wohl am besten als ein System ?kollektiven Friedens? zu fassen: Sie ist der Versuch, die zivilisatorische Leistung des ?inneren Friedens?, den die meisten der westlichen Demokratien über die Zeit erreicht haben, auf die Beziehungen zwischen Staaten zu übertragen bzw. über die Grenzen des demokratischen Staates hinaus in ein definiertes Feld supranationaler Zusammenarbeit auszudehnen.
EU-Erweiterung als Sicherheitspolitik
Objektiv gesehen, stehen die Staaten des östlichen Mitteleuropa, die baltischen Staaten oder die Staaten Südosteuropas ebenso wenig unter dem Druck äußerer Bedrohung wie die Mitgliedstaaten der EU. Subjektiv jedoch besteht eine deutlich stärkere Wahrnehmung der Unsicherheit. Vor allem die Schwäche der Demokratie und die soziale Instabilität Russlands halten Risikoperzeptionen wach. Die neuen Demokratien suchten nach Sicherheit vor äußerem Druck und innerer Instabilität. Die größte Herausforderung für den Frieden in diesen Staaten bilden auch heute noch innergesellschaftliche Brüche und damit die Sicherung des inneren Friedens: Die Lösung der zahlreichen Minderheitenkonflikte von Estland bis nach Bulgarien; die Befriedung der neuen sozialen Frage, die aus der wachsenden Differenzierung der Einkommen und dem Rückbau sozialistischer Staatsfürsorge entstanden ist und schließlich die mentale Öffnung zu Europa hin durch die Überwindung der Überbetonung der Nation und nationalen Identität, ohne die der Integrationsprozess in der EU auf Dauer nicht gelingen wird. Im Prozess der Transformation spielte selbst für die am weitesten fortgeschrittenen Staaten die Perspektive der EU-Mitgliedschaft eine Schlüsselrolle. Die Beitrittskriterien und die Notwendigkeit zur Übernahme des politischen und rechtlichen Besitzstandes der EU erzeugten Impulse für die Reformpolitik und verschafften den Akteuren insofern innenpolitische Entlastung, als sie in Konfliktlagen auf die von der EU gesetzte Konditionalität verweisen können.
"Kopenhagener Kriterien"
Als Bedingungen für einen Beitritt hatte die EU 1993 auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen drei Gruppen von Kriterien formuliert, die so genannten "Kopenhagener Kriterien", die alle Beitrittsländer erfüllen müssen:
- Das "politische Kriterium": Institutionelle Stabilität, demokratische und rechtstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten.
- Das "wirtschaftliche Kriterium": Eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten.
- Das "Acquis-Kriterium": Die Fähigkeit, sich die aus einer EU-Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen und Ziele zu eigen zu machen, das heißt: Übernahme des gemeinschaftliche Regelwerkes, des "gemeinschaftlichen Besitzstandes" (Acquis communautaire, ungefähr 80.000 Seiten Rechtstexte).
Mit der Osterweiterung hat sich die Europäische Union für eine klare Strategie entschieden. Die EU soll möglichst vielen Staaten ein Mindestmaß an Frieden und Wohlstand garantieren. Dieses Ziel wird durch die Erweiterung erreicht, die Demokratie und Marktwirtschaft exportiert. Bei Spanien, Portugal und Griechenland war der Ansatz erfolgreich, nun wird er auf die Staaten des ehemaligen Ostblocks angewandt. Es ist deshalb nur folgerichtig, dass Brüssel den Ländern des Balkans Beitrittsverhandlungen ebenso anbietet wie der Türkei.
Klar ist jedoch auch: Eine grenzenlose Erweiterung macht den Plan zunichte, aus der EU ein wirkliches politisches Gemeinwesen zu machen, das sich durch eine neue Form des regionalen Regierens auszeichnet. So ein Gemeinwesen benötigt arbeitsfähige und effektive Institutionen, die den politischen Streit in klare Entscheidungen münden lassen. Arbeitsfähige Institutionen sind das Schlüsselelement. Denn: Nur, wenn die EU zeigt, das sie politische Konflikte regeln kann, wird sie weitere Vollmachten erhalten, dies auch zu tun.
Schon jetzt fällt es dem Ministerrat, dem zentralen EU-Gremium, schwer, klare Beschlüsse zu fassen. Entscheidungen fallen nach wie vor zu häufig im Konsensverfahren, die Prozeduren sind kompliziert und kaum nachvollziehbar. Es gibt unzählige Blockademöglichkeiten für einzelne Staaten. 25 Mitglieder drohen die Leistungskraft der Institutionen zu sprengen ? selbst eine gemeinsame Verfassung wird dies kaum verhindern können.
Die Fliehkräfte werden dadurch verstärkt, dass die neuen Mitglieder oft ein grundsätzlich anderes Verständnis der Europäischen Union pflegen als ein Großteil der älteren Mitglieder. Sie begreifen die EU nicht als politisches, sondern als wirtschaftliches Projekt. Für sie ist die EU keine alternative Regierungsform, sondern Friedensbringer und Markt.
Angesichts der großen Herausforderung, die die Erweiterung darstellt, müssen die Gemeinschaft, ihre Organe und ihre Entscheidungsprozesse deshalb grundlegend reformiert werden. In erster Linie geht es dabei um Demokratisierung und Transparenz. Die einzige Institution, die diese Merkmale repräsentiert, ist das Europäische Parlament. Deshalb bleibt zu hoffen, dass dem Europäischen Parlament durch die Reform auch mehr Rechte und Kompetenzen im europäischen Gesetzgebungsprozess zuwachsen werden. Mehr Kontrolle durch das Parlament und eine Verstärkung der Rechenschaftspflichten von Rat und Kommission schaffen ein höheres Maß an Transparenz und Öffentlichkeit in den europäischen Gesetzgebungs- und Entscheidungsprozessen.
Ausblick
Die erweiterte EU ist nicht auf 25 Mitgliedstaaten begrenzt, sondern auf ein größeres Europa ausgerichtet. Wichtige Grundsatzentscheidungen wurden bereits getroffen:
- Mit Bulgarien und Rumänien werden die Verhandlungen voraussichtlich 2004 abgeschlossen (Rumänien allerdings mit Fragezeichen), so dass ein Beitritt ab 2007 erfolgen kann.
- Mit der Türkei ist die EU seit Jahrzehnten vertraglich eng verbunden. In den letzten Jahren hat die Türkei erstaunliche Fortschritte auf dem Weg zur Beitrittsfähigkeit erzielt. Wird dieses Programm konsequent weitergeführt, können noch 2004 Verhandlungen über ein Beitrittsabkommen aufgenommen werden. Voraussetzung für einen Beitritt bleibt jedoch in jedem Fall die Erfüllung der ?Kopenhagener Kriterien?.
- Mit den EFTA-Staaten Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz besteht eine enge Anbindung durch den Europäischen Wirtschaftsraum. Sollte sich die Stimmung in der Bevölkerung dieser Staaten zugunsten einer EU-Mitgliedschaft wenden, könnten zügig Beitrittsabkommen ausgehandelt werden.
- Für die Staaten des westlichen Balkans ist durch den Stabilitäts- und Assoziierungsprozess eine Integration in die EU bereits angelegt. Kroatien hat bereits 2003 einen Beitrittsantrag gestellt. Die anderen Staaten - Albanien, Bosnien, Mazedonien sowie Serbien-Montenegro können je nach Stand ihrer Entwicklung aufschließen.
- Die Staaten in der direkten Nachbarschaft wie Russland, die Ukraine, die Republik Moldau sowie die Staaten Nordafrikas sollen ebenfalls enger an die EU angebunden werden. Das ?Wider-Europe-Konzept? sieht hierfür weit reichende Schritte im wirtschaftlichen Bereich bis hin zur Freizügigkeit von Waren, Dienstleistungen und Personen vor.
- Eine EU mit 30 und mehr Mitgliedstaaten ist also längst vorgezeichnet.
Die sicherheitspolitischen Herausforderungen
Die EU wird mit zahlreichen Risiken, Krisen und neuen Gefahren konfrontiert. Ob im Kaukasus, im Nahen Osten oder in Nordafrika. Europa muss daher eine tragfähige Außen- Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickeln. Erste Weichenstellungen wurden bereits vorgenommen:
- 1999 beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs unter dem Eindruck des Kosovo-Krieges den Aufbau einer Europäischen Eingreiftruppe. Die Möglichkeiten für militärisches und ziviles Krisenmanagement werden kontinuierlich ausgebaut.
- Im Dezember 2003 hat die EU erstmals eine gemeinsame Sicherheitsstrategie verabschiedet, die das Sicherheitsumfeld, die strategischen Ziele und die politischen Konsequenzen für Europa formuliert.
- Der Konventsentwurf sieht flexible Kooperationsmöglichkeiten in der ESVP bis hin zur Schaffung einer Europäischen Verteidigungsunion vor.
- Die EU als Zivilmacht sollte ihre bereits vorhandenen Zivilmachtressourcen für die Bewältigung regionaler und globaler Konflikte weiter ausbauen und konsequent nutzen. Sie leistet schon heute den größten Beitrag zur Entwicklungshilfe und zum zivilen Konfliktmanagement. Dieses Engagement sollte jedoch stärker an Konditionen geknüpft und in die europäische Sicherheitsstrategie eingebettet werden. Der Standortvorteil, den die EU im Bereich der zivilen und polizeilichen Konfliktbearbeitung inne hat, sollte ausgebaut und auch gegenüber den Anhängern einer rein militärischen Krisenbewältigung offensiv verteidigt und vertreten werden.
Resümee
Die Zukunft der EU ist unsicher. In der Vergangenheit hat die Union die an sie gestellten Herausforderungen immer wieder gemeistert. Die Zukunft der europäischen Integration wird auch morgen durch eine Mischung von intergouvernementaler und supranationaler Zusammenarbeit geprägt werden. Ungeachtet der gewaltigen Herausforderungen vor denen Europa steht, bin ich davon überzeugt, dass die Erfolgsgeschichte der europäischen Integration sich auch im neuen Jahrtausend fortsetzen wird. Von der Erweiterung können und werden sowohl die alten wie auch die neuen Mitglieder politisch und wirtschaftlich profitieren.
Die neuen Länder treten einer Union im Werden bei. Der gegenwärtige Integrationsstand der EU ist noch nicht der Endzustand. Nach innen eine Sicherheitsgemeinschaft, in der Krieg zwischen den Mitgliedern ausgeschlossen ist, wird die erweiterte EU nach außen durchaus als Herausforderung, Konkurrenz und Bedrohung wahrgenommen. Hier gilt es also zwischen der Binnen- und Außenwirkung der EU zu unterscheiden. Während die USA den Aufbau einer ESVP argwöhnisch beobachten und in einer sicherheitspolitisch handlungsfähigen Union nicht nur den unverzichtbaren Partner, sondern auch den potenziellen strategischen Rivalen sehen, wird auch in Russland und in anderen Gebieten der Welt der Aufbau europäischer Eingreiftruppen als potenzielle Bedrohung gesehen.
M.a.W.: In der Außenwirkung fungiert die EU nicht mehr nur als zivilisatorisches Modell, sondern zunehmend auch als Interventionsmacht. Diese ist nicht zwangläufig militärisch definiert. Im Gegenteil: Die eigentlichen Stärken der Europäischen Union lagen und liegen bis heute auf den Gebieten der diplomatischen und politischen Initiativen, der Instrumente der Handels- und Entwicklungspolitik und der Instrumente des zivilen und polizeirechtlichen Krisenmanagements. Denn fest steht auch, dass mit militärischen Mitteln allein keine Krise zu bewältigen ist. Dies ist eine Erfahrung, die wir sowohl auf dem Balkan wie auch in Afghanistan und jüngst im Irak machen mussten.
Multilateralismus bleibt das Prinzip der europäischen Einigung und das Gegenmodell zum amerikanischen Unilateralismus. Sicherheit und Wohlstand der EU hängen wesentlich von einem funktionsfähigen internationalen System ab, das auf festen Regeln basiert. Ziel der EU ist deshalb die Schaffung einer internationalen Ordnung auf der Grundlage eines effektiven Multilateralismus. Grundlage dafür bietet die systematische Stärkung des Systems der Vereinten Nationen und die Weiterentwicklung der Normen und Konventionen des Völkerrechts. Die Attraktivität der Europäischen Union beruht jedoch nicht nur auf ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten, sondern ohne Zweifel auch auf ihrem Modellcharakter, auf ihrer soft power.
Zu einer europäischen Politik gehört auch, auf das bisher Erreichte stolz zu sein. Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden 1776 gegründet. 90 Jahre später zerfleischten sich die Amerikaner in einem blutigen Bürgerkrieg und waren auch danach noch lange nicht wirklich geeint. Knapp 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs arbeiten die Europäer am Entwurf einer gemeinsamen Verfassung.
Die EU wirkt in Europa friedensstiftend und wohlstandssichernd. Ihre Mitglieder haben aber auch gegenüber dem Rest der Welt eine Verantwortung: Sei es im Kampf gegen Unterentwicklung, zur Stärkung multilateraler Regime und des internationalen Rechts, bei der Lösung regionaler Krisen oder zum Schutz der Menschenrechte. Europa hat schon aufgrund seiner Wirtschaftskraft und seines kulturellen Erbes die Pflicht, sich aktiv in die Weltpolitik einzumischen. Als Zivilmacht entfaltet die EU schon jetzt wirtschaftlich und politisch eine mit den USA vergleichbare weltweite Ausstrahlung. Mit dem Aufbau einer gemeinsamen Verteidigung wird sie auch sicherheitspolitisch mehr Handlungsfähigkeit erlangen. Die Europäische Union ist in ihrer Entwicklungsgeschichte stets durch die Dialektik von Krisen und Integrationsfortschritten vorangekommen. Auch diesmal kann aus der großen Krise eine große Chance erwachsen.
Bei allen Schwächen ist die europäische Integration nach wie vor ein Modell der inneren wie äußeren Konfliktbewältigung und der Schaffung supranationaler Strukturen. Bei aller berechtigen Kritik an den Defiziten dieses europäischen Modells (dessen Stärke im übrigen ja u.a. darin besteht, dass es Einheit in Vielfalt ermöglicht und begünstigt) ist die Attraktivität des Modells Europa nach wie vor ungebrochen, und sie wird auch in Zukunft erhalten bleiben, wenn es der Europäischen Union gelingt, die neuen Herausforderungen zu bewältigen. Ein Scheitern wäre eine politische und ökonomische Katastrophe. Europa ist deshalb zum Erfolg verdammt.