Erste Lesung zum Jahresabrüstungsbericht 2002

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der jetzt vorgelegte Jahresabrüstungsbericht 2002 rückt wichtige Themen der Außenpolitik in den Blickpunkt. Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sind für die SPD-Bundestagsfraktion unverzichtbare Bestandteile einer multilateralen Weltordnung. Diese Elemente wollen wir stärken.

Mit dem Jahresabrüstungsbericht 2002 haben wir einen guten Überblick über den Stand und die Erfolge der Rüstungssteuerung. Zugleich weist uns der Bericht auf Defizite und Handlungsbedarf hin. Ich danke der Bundesregierung und den Autorinnen und Autoren für ihre wertvolle Arbeit und ihre Hinweise. Damit können wir im Unterausschuss für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung unsere Beratungen konzentriert und fachkundig weiterführen und an einem Ziel weiterarbeiten, das fraktionsübergreifend geteilt wird: Wir wollen gemeinsam Rüstung in Europa kontrollieren und beschränken sowie vergleichbare Möglichkeiten für regionale Konflikte erörtern und anregen.

Rüstungskontrollverträge haben während des Ost-West-Konflikts zur Vertrauensbildung und Kooperation beigetragen. Auch wenn sie das Sicherheitsdilemma nicht auflösen konnten, haben diese Verträge Verlässlichkeit hergestellt. Abrüstung und Rüstungskontrolle waren ein Grundpfeiler der damaligen Sicherheitsarchitektur ? und sie haben auch heute Zukunft. Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen zu einem unverkennbaren Merkmal der europäischen Integration werden. Die Voraussetzungen sind günstig: Kriege sind in der Europäischen Union undenkbar geworden. Militär und Rüstung dienen heute dazu, potentielle Angreifer abzuschrecken und im Auftrag der Vereinten Nationen und seiner Organisationen außerhalb der Gemeinschaftsgrenzen zu handeln.

Die rüstungskontrollpolitische Bilanz ist trotz dieser günstigen Voraussetzungen widersprüchlich:

Einerseits sind in den vergangenen Wochen wichtige Verabredungen zugunsten neuer Abrüstungsinitiativen getroffen worden. Die USA und die EU haben sich auf gemeinsame Schritte verständigt, um die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu unterbinden. Die Staats- und Regierungschefs der EU haben am 20. Juni 2003 beschlossen, bestehende Nichtverbreitungsverträge zu stärken, Exportkontrollen zu intensivieren, die internationale Zusammenarbeit auszubauen und den politischen Dialog mit anderen Ländern zu vertiefen. Die G 8 haben eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, worin die Verträge gegen die Verbreitung von Atom-, Chemie- und Bio-Waffen ausdrücklich gewürdigt werden.

Andererseits ist die Dekade der Abrüstung vorbei: Nach einem Bericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI sind die Rüstungsausgaben kräftig gestiegen, allein im letzten Jahr weltweit um sechs Prozent. Wirksame Abrüstungsverträge wurden in den letzten Jahren nicht geschlossen. Die Blockade der Genfer Abrüstungskonferenz geht mittlerweile ins siebte Jahr. Die Verhandlungen über ein Verifikationsprotokoll zur Biowaffenkonvention sind gescheitert. Zwar haben die Präsidenten Bush und Putin am 24. Mai 2002 einen Vertrag über die Reduzierung der strategischen Offensivwaffen unterzeichnet. Allerdings beinhaltet der Text keine Verifikation und die Sprengköpfe und Trägersysteme müssen nicht vernichtet werden. Zudem ist die Gültigkeit des Vertrages begrenzt.

Am Ende des vergangenen Jahrzehnts sind Indien und Pakistan Atomwaffenmächte geworden. In diesem Jahrzehnt streben weitere Länder nach der Atombombe. Nordkorea will nicht nur im Besitz von atomaren Sprengköpfen sein. Das Land hat sich ebenso zu einem wichtigen Exporteur entsprechender Trägermittel entwickelt. Der Iran geht einen Weg, der ebenfalls Nachfragen provoziert. Anzumerken bleibt hier, dass die Verantwortlichen in Teheran nach wie vor mit der Internationalen Atomenergieorganisation kooperieren. Diesen Weg müssen wir unterstützen. Der Iran darf nicht aus dem Nichtverbreitungsvertrag aussteigen. Die Bundesregierung hat zusammen mit anderen europäischen Regierungen intensive Gespräche geführt, damit der Iran ein Zusatzprotokoll mit der Internationalen Atomorganisation zeichnet. Dies wäre ein wichtiger und richtiger Schritt.

Die schlechten Nachrichten werden zudem von Entwicklungen begleitet, die das Konzept der Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung grundsätzlich in Frage stellen:

Erstens: Das Militär wird immer häufiger zu einem Mittel der Politik. Die USA haben den Krieg gegen den Irak auch damit begründet, die - bis heute nicht gefundenen - Waffen, die den Weltfrieden gefährden, zerstören zu wollen. Die Europäische Union ist ebenfalls bereit, als letztes Mittel militärische Gewalt gegen Proliferatoren einzusetzen, wenn zuvor alle anderen friedlichen Mittel zur Abrüstung und Rüstungskontrolle versagt haben. Im Gegensatz zur US-Militärdoktrin will man in Europa eine solche Entscheidung zwar nur im ?Einklang mit internationalem Recht? treffen. Ob eine solche Strategie aber Proliferatoren zum Einlenken bewegen kann, ist mehr als zweifelhaft. Zugleich ist zu befürchten, dass Despoten vor diesem Hintergrund noch zielstrebiger den Griff zur Bombe wagen, gewissermaßen als Vorbeugung vor gewaltsamen Schlägen. Für diese Annahme spricht, dass ursprünglich als defensive Maßnahmen gedachte Entscheidungen, wie der Aufbau einer regionalen Raketenabwehr in Japan und Taiwan, die VR China, Russland und Nordkorea ihrerseits veranlassen, die eigenen Offensivfähigkeiten zu stärken. Diese Reaktionsmuster kennen wir als Sicherheitsdilemma aus dem Ost-West-Konflikt. Gerade bei neuen Rüstungsprojekten müssen die Auswirkungen auf das Umfeld bedacht werden.

Deutschland sollte daher aktiv an einer vertraglichen Denuklearisierung der Region mitwirken. Ein wichtiges Zeichen für die Akzeptanz derartiger Regelungen wäre es, wenn die europäischen Kernwaffenmächte - wie in den anderen Fällen auch - endlich die kernwaffenfreie Zone in Südostasien anerkennen - zumal die dortigen Mitglieder bereit sind, den umstrittenen Geltungsbereich zu überdenken. Eine kluge europäische Politik wäre dies allemal: könnte es doch Israel und seinen Nachbarn endlich Aussicht auf Frieden und Entwicklung eröffnen.

Zweitens: Mit dem Entwurf für eine gemeinsame Europäische Verfassung sind wir auf dem Weg zu einem Europäischen Friedensbund. Die Artikel zur Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik können die multilaterale Weltordnung stärken. Allerdings ist es ungewöhnlich, dass ein "Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten" Verfassungsrang erhalten soll. Eine Abrüstungsbehörde hätte den zivilen Charakter der Gemeinschaftspolitik meines Erachtens besser gefördert.

Ich hoffe, dass sich hinter dieser Entscheidung nicht eine allgemeine Abkehr vom Bild der Zivilmacht Europa verbirgt. Leider gibt es dafür einige Anzeichen: Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) beinhaltet eine militärische und eine nicht-militärische Komponente. Letztere umfasst dabei die Bereitstellung von Polizei, Rechts- und Verwaltungsexperten sowie Mitglieder aus dem Bereich des Katastrophenschutzes. Während der militärische Aufbau im Rahmen der ESVP - wie jetzt im Kongo - rasch voranschreitet, ist die Entwicklung eines breitgefächerten zivilen Ansatzes in den Hintergrund getreten. Zivile Krisenbewältigung muss zumindest gleichberechtigt neben den militärischen Aspekten der europäischen Außenpolitik stehen.

Deutschland sollte daher aktiv an einer vertraglichen Denuklearisierung der Region mitwirken. Ein wichtiges Zeichen für die Akzeptanz derartiger Regelungen wäre es, wenn die europäischen Kernwaffenmächte - wie in den anderen Fällen auch - endlich die kernwaffenfreie Zone in Südostasien anerkennen - zumal die dortigen Mitglieder bereit sind, den umstrittenen Geltungsbereich zu überdenken. Eine kluge europäische Politik wäre dies allemal: könnte es doch Israel und seinen Nachbarn endlich Aussicht auf Frieden und Entwicklung eröffnen.

Ich teile auch nicht die Auffassung, dass eine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Lackmustest für Partnerschaftsfähigkeit in Europa ist. Partnerschaft unter demokratischen Staaten beweist sich nicht in erster Linie durch militärische Integration, sondern zuerst durch eine verstärkte zivile Zusammenarbeit. Die Kultur der Mäßigung muss ein Markenzeichen europäischer Außenpolitik bleiben. Ich wünsche mir, dass Rüstungskontrolle ein wesentlicher Bestandteil der neuen europäischen Sicherheitsstrategie wird. Wir haben gesehen, dass erst mit der Abrüstungsvereinbarung im Vertrag von Dayton langfristig Bedrohungsvorstellungen im ehemaligen Jugoslawien aufgebrochen werden konnten. Sogenannte ?Abrüstungskriege? werden niemals das Verhalten von Staaten zugunsten eines friedlichen Ausgleichs anregen.

Deutschland sollte daher aktiv an einer vertraglichen Denuklearisierung der Region mitwirken. Ein wichtiges Zeichen für die Akzeptanz derartiger Regelungen wäre es, wenn die europäischen Kernwaffenmächte - wie in den anderen Fällen auch - endlich die kernwaffenfreie Zone in Südostasien anerkennen - zumal die dortigen Mitglieder bereit sind, den umstrittenen Geltungsbereich zu überdenken. Eine kluge europäische Politik wäre dies allemal: könnte es doch Israel und seinen Nachbarn endlich Aussicht auf Frieden und Entwicklung eröffnen.

Drittens: Demokratien führen keine Kriege gegeneinander. Das ist fast schon ein empirisches Gesetz. Deshalb sind eigenständige Schritte zugunsten von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und sozialer Gerechtigkeit nicht nur Strategien für einen innerstaatlichen Friedensprozess, sondern auch für eine friedliche Welt. Der demokratische Friede hat allerdings eine Schattenseite: Demokratien intervenieren zunehmend militärisch in innerstaatliche oder zwischenstaatliche Konflikte. Der Gewaltverzicht von Demokratien ist daher nur relativ. Dabei war es nicht immer einfach, einen gesellschaftlichen Konsens zugunsten eines Eingreifens herzustellen. Die Menschen scheuen die Risiken des Krieges. Wie aber werden sich demokratische Gesellschaften verhalten, wenn die neuste Entwicklung der Militärtechnik die Risiken und Kosten von Kriegen drastisch mindert? Das militärische Eingreifen ist dabei nicht mehr nur eine Antwort auf die Gewalt in Konflikten, sondern auch eine Reaktion auf den normativen Wandel der internationalen Ordnung. Der Gewalteinsatz wird billigend in Kauf genommen, um autoritäre Führungen zu beseitigen. Was passiert, wenn der Zusammenhang von Demokratie und relativem Gewaltverzicht sich durch normativen Druck in sein Gegenteil verkehrt? Rüstungskontrolle muss als Strategie zur Kriegsverhütung diesem Trend entgegen wirken.

Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung haben nur eine Zukunft, wenn sich auch die USA dieses Mittels wieder bedienen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit den Entscheidungsträgern in Washington dann wieder über solche Regelwerke ins Gespräch kommen, wenn wir eine robuste Rüstungskontrolle etablieren können. Dazu gehören insbesondere wirksame Verifikations- und Sanktionsmechanismen. Die Inspektions- und Kontrollregime müssen gestärkt werden, unangemeldete Vor-Ort-Inspektionen gehören dazu ebenso wie der Aufbau eines qualifizierten unparteiischen Inspektorenteams. Wie stand-by-Truppen brauchen wir den Aufbau von Stand-by-Inspektionsteams. Wir müssen weiterhin ein weltweites Regime für den Besitz von Trägermitteln schaffen. Abrüstung muss auch in der NATO wieder Thema werden. Die Organisation bietet sich als Konsultationsgremium für den Abbau der substrategischen, nuklearen Kurzstreckenraketen an.

Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sind Bestandteile einer klugen Außenpolitik. Deutschland kann diese Mittel um so überzeugender in der internationale Politik vertreten, weil wir selbst von ihnen profitiert haben. Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung machen die Welt nicht nur sicherer. Sie können auch die regionale Zusammenarbeit stärken. Und vor allem: Die Prävention durch Rüstungskontrolle ist der Prävention durch Entwaffnungskriege allemal vorzuziehen.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Veröffentlicht: 
Berlin, 03.07.2003
Thema: 
Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung; u.a. Zivilmacht Europa