70 Jahre Vereinte Nationen

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist gut, dass wir heute an die Gründung der Vereinten Nationen vor 70 Jahren erinnern, aber es ist auch wichtig, dass wir an die Wahrheit erinnern. Am Anfang - also bei dieser Gründung - war Deutschland nicht dabei. Kollege Bartsch hat daran erinnert. Erst eine mutige Politik, insbesondere damals in der Bundesrepublik Deutschland, hat es ermöglicht, dass Deutschland am Ende ein vollwertiges Mitglied in den Vereinten Nationen geworden ist.

Es waren damals die Entspannungspolitik, ein umkämpfter Grundlagenvertrag und die Ostverträge, die diesen Weg erst möglich gemacht haben. Deswegen sagen wir Sozialdemokraten mit großem Stolz: Wir waren daran beteiligt gewesen, und es ist gut, dass wir heute ein vollwertiges Mitglied in den Vereinten Nationen sind. Wir sind dankbar dafür. Insbesondere möchte ich daran erinnern - vor einigen Wochen ist Egon Bahr gestorben -, dass mit diesem Mut und dieser Vision etwas möglich wurde, woran wir uns mit Dankbarkeit heute erinnern können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Manche Teile der Welt liegen in Trümmern. Die Lage ist zum Verzweifeln, wenn wir sie an der Charta der Vereinten Nationen messen. Diese Charta ist Handlungsschnur für die internationale Politik und Handlungsschnur auch für die deutsche Außenpolitik. Deswegen ist es fahrlässig, unhistorisch und eigentlich auch wohlfeil - das ist zu Recht gesagt worden -, wenn viele an der UNO zweifeln; denn die das tun, sind die Mitgliedstaaten.

Ich würde gerne zwei Sätze von Willy Brandt zitieren, die er 1973, als die Bundesrepublik Deutschland vollwertiges Mitglied in den Vereinten Nationen geworden ist, gesagt hat:
Manche Kritik an den Vereinten Nationen klingt bitter, zynisch, ist fast von jubilierendem Pessimismus - so, als hoffe man heimlich, dass die Schwächen der Organisation Idee und Ziel widerlegten. Doch Rückschläge auf dem Weg zu einem Ideal beweisen nicht notwendig, dass jenes Ideal falsch war, sondern oft nur, dass der Weg besser sein könnte.

Umso mehr freue ich mich, dass die Bundesregierung und der Außenminister die Vereinten Nationen in den Mittelpunkt der Außenpolitik gestellt haben. Ich bin auch dankbar, dass die Koalitionsfraktionen heute einen gemeinsamen Antrag über das vorlegen, was wir besser machen können und was wir uns in den nächsten Jahren vorgenommen haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es gehört zur Wahrheit mit dazu: Die Charta ist eine Richtschnur, aber sie ist auch widersprüchlich. Wie sollte es anders sein? Wenn man auf dem Weg zu einer großen internationalen Politik ist, so steht auf der einen Seite die Souveränität, aber auf der anderen Seite steht auch  - aus wohlverstandenem Eigeninteresse - die Abtretung von Rechten, um insbesondere an der Lösung gemeinsamer Probleme mitzuarbeiten.

Es gilt also das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. Aber wir sehen Staatszerfall in immer mehr Staaten auf der Welt, während an anderer Stelle die territoriale Integrität aufrechterhalten wird. Das Prinzip der Nichteinmischung korrespondiert mehr und mehr mit der Frage der menschlichen Sicherheit. Ich bin froh, dass auch das Ziel menschlicher Sicherheit heute zu einer wertegeleiteten Außenpolitik in diesem Bereich gehört.

Dennoch sage ich: Wir dürfen die Vereinten Nationen nicht überfordern, und wir müssen insbesondere anerkennen, welche Leistungen sie erbracht haben. Der Außenminister hat zu Recht daran erinnert: Es gibt viele deutsche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Vereinten Nationen. Es gibt insbesondere viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus aller Welt, die im Dienste der Vereinten Nationen verletzt wurden oder sogar ums Leben gekommen sind. Das gehört zur bitteren Wahrheit. Umso dankbarer bin ich, dass wir in Deutschland zum Beispiel mit der Bundeszentrale für politische Bildung, aber auch mit der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen zwei wichtige Institutionen haben, die jungen Menschen auch die Idee der Vereinten Nationen nahebringen. Wir sollten sie auch in diesem Punkt unterstützen und immer wieder ermutigen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wenn ich über Widersprüche rede, die natürlich auch in der internationalen Politik vorhanden sind, so gilt es, auch einem Vorwurf zu begegnen, der besagt: Es ist falsch, dass man die Vereinten Nationen immer wieder an der Staatsfixiertheit misst. Ich finde das dennoch richtig: Die Vereinten Nationen sind ein Staatenbund. Wir wissen aufgrund der historischen Entwicklung in Europa: Es braucht funktionierende Staaten, um Frieden im Inneren, aber auch Frieden im Äußeren zu erreichen. Auch deswegen treten wir für funktionierende Staatlichkeit ein. Das Gewaltmonopol des Staates ist nicht alles. Es muss eingebunden sein in Rechtsstaatlichkeit und demokratische Legitimation; aber das gehört genauso zur Konstituierung der Vereinten Nationen wie soziale Gerechtigkeit, die Fähigkeit zum Kompromiss und, wie der Bundesaußenminister gesagt hat, gutes Regieren. Das ist hart erstritten worden in Deutschland und in Europa. Wenn wir über die Vereinten Nationen reden, ist es immer wieder wichtig, darüber nachzudenken.

Ein ganz wichtiges Prinzip hat die Charta der Vereinten Nationen aufgegriffen: Politik muss regional abgefedert werden. Deswegen sind wir so dankbar, dass wir eine europäische Idee unter dem Dach der Vereinten Nationen umsetzen können; denn dass von Europa Frieden ausgeht, hat in den letzten Jahrzehnten anderen Ländern manches erspart. Genau das, Friedenserhalt, ist die Idee, um die wir letztlich tagtäglich kämpfen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, es ist das Privileg eines Abgeordneten, diplomatisch nicht so zurückhaltend sein zu müssen wie der Außenminister. Lassen Sie mich deswegen ganz offen sagen: Ich habe es bedauert, dass weder der russische Präsident noch der amerikanische Präsident in der Generalversammlung der Vereinten Nationen de Misturas Arbeit gewürdigt haben und daran auch nicht angeknüpft haben; denn ein solches Anknüpfen wäre ein Hoffnungszeichen für Frieden oder zumindest für die Abwesenheit von Krieg in Syrien gewesen. Insofern bin ich sehr dankbar, dass der Generalsekretär der Vereinten Nationen de Mistura beauftragt und ermutigt hat - ich bekräftige das auch von dieser Stelle aus -, weiterzuarbeiten. Wir Deutschen, wir deutschen Parlamentarier unterstützen ihn weiterhin bei dieser sehr wertvollen Arbeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ? Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Kanzlerin war auch nicht da!)

Meine Damen und Herren, ich würde gerne Folgendes betonen: es gehört nun einmal zu den Schwerpunkten der Politik von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, zu versuchen, dies auf Ebene der Vereinten Nationen zu verankern: Abrüstung ist ein Pfeiler dieser Politik. Der Kollege Koenigs hat die Linke eben durchaus zu Recht daran erinnert, dass sie die Vernichtung der Chemiewaffen hier eben nicht mit unterstützt hat, sondern dass sie leider dagegen gestimmt hat. Aber diese Vernichtung war ein Auftrag der Vereinten Nationen, genauso wie es ein Auftrag der Vereinten Nationen gewesen ist, über das Mandat über Verhandlungen mit dem Iran zu entscheiden. Das Ganze war vonseiten der Vereinten Nationen abgefedert. Wir waren froh, dass wir, Deutschland, uns an verantwortlicher Stelle sowohl bezüglich der Vernichtung der Chemiewaffen als auch bezüglich der Verhandlungen mit dem Iran beteiligen konnten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Mützenich, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Hänsel?

Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Wenn ich sie dazu mit meinem Hinweis auf das Abstimmungsverhalten der Linken in dieser Abrüstungsfrage ermutigt habe, dann ja.

Heike Hänsel (DIE LINKE):
Danke schön, Frau Präsidentin. Lieber Kollege Mützenich, Abrüstung ist tatsächlich ein ganz wichtiges Thema. Unsere Fraktion hat damals darüber diskutiert, als es um die Vernichtung der Chemiewaffen ging. Wir haben es auch sehr begrüßt, dass sie hier in Deutschland stattfindet. Wir hielten aber die Beteiligung der deutschen Marine daran nicht für notwendig. Darüber kann man diskutieren. Wir haben uns so entschieden.

Aber wir stehen ja vor ganz anderen Herausforderungen. Das betrifft auch die atomare Abrüstung. Im Moment werden atomare Sprengköpfe, die in Deutschland gelagert sind, modernisiert. Das heißt, auf europäischem Boden werden neue taktische Atomwaffen stationiert. Es gibt seitens der USA auch die Überlegung, taktische Atomwaffen in Osteuropa zu stationieren.

Meine Frage ist: Wie sieht die Bundesregierung angesichts der großen Herausforderungen der Abrüstung die jetzige Modernisierung von taktischen US-Atomwaffen in Deutschland? Sehen Sie dadurch nicht die Gefahr einer neuen atomaren Aufrüstungsspirale?

Dr. Rolf Mützenich (SPD): Ich freue mich, dass die Linke an der Seite der Sozialdemokraten und insbesondere an der Seite des Außenministers ist. Er hat vor wenigen Monaten in Wien verkündet, dass die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unter dem deutschen Vorsitz auch das Thema der konventionellen Abrüstung, die sozusagen ein Spiegelbild dessen ist, was Sie eben beschrieben haben, diskutiert.

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Es passiert aber das Gegenteil!)

Ich würde mich unheimlich freuen, wenn Sie den Außenminister im kommenden Jahr bei dieser Frage unterstützen würden.

(Zuruf des Abg.Stefan Liebich [DIE LINKE])

Wenn ich noch auf Ihre Frage antworten darf ? Sie haben mich ja gefragt;

(Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: Die Bundesregierung gefragt!)

es reicht ja nicht, nur eine Antwort zu geben, es gibt auch eine zweite Antwort: Ich bedauere, dass Sie sich erneut einen schlanken Fuß gemacht haben bei einem Auftrag, den Deutschland vonseiten der gesamten Vereinten Nationen bekommen hat, nämlich chemische Restsubstanzen dessen, was damals auf dem Mittelmeer auch unter Begleitschutz vernichtet worden ist, hier endgültig zu vernichten.

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Zu den Atomwaffen sagen Sie jetzt gar nichts!)

Da haben Sie sich erneut nicht - deswegen ist es ja so wohlfeil, wenn Sie über die Vereinten Nationen sprechen - an einem internationalen Mandat beteiligt.

Damit haben wir etwas ganz Konkretes für die Vereinten Nationen getan, nämlich zur Abrüstung in Syrien beigetragen. Das wäre auch eine Chance für die Linke gewesen, in dieser Legislaturperiode zu beweisen, dass sie es ernst meint bei Fragen, die die Vereinten Nationen an sie stellt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ? Zuruf der Abg.Heike Hänsel [DIE LINKE])

Ich möchte den Außenminister nicht nur ermutigen, das Abrüstungsthema im Bereich der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa noch stärker zu bearbeiten, ich würde ihn auch gerne bei dem ermutigen, was der Koalitionsvertrag der drei Parteien bzw. beiden Fraktionen zu der völkerrechtlichen Ächtung vollautomatisierter Waffensysteme sagt. Auch das ist eine ganz wichtige Herausforderung. In den letzten Monaten sind gerade von Deutschland aus Anstrengungen unternommen worden. Das war genauso ein konkreter Beitrag zu Abrüstung und Rüstungskontrolle. Der gesamte Bundestag sollte das unterstützen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Ich würde gerne noch an einen Punkt erinnern, der bisher keine große Rolle gespielt hat, der jedoch genauso für das Habenkonto der Vereinten Nationen zählt: Das Völkerrecht ist mehr und mehr Leitschnur der internationalen Politik geworden. Die internationalen Gerichtshöfe schlichten entweder durch Vermittlung oder durch Rechtsgutachten Streitfälle und entwickeln das Völkerrecht fort. Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ist ein phänomenaler Fortschritt im Bereich der Vereinten Nationen.

Meine Damen und Herren, die Vereinten Nationen sind nicht alles, schon gar keine Weltregierung. Für eine aus den Fugen geratene Weltordnung sind sie gleichwohl ein Mittel zur Konfliktbearbeitung. Daran können wir mit Stolz und Entschlossenheit mitarbeiten.

Vielen Dank.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Veröffentlicht: 
Berlin, 14.10.2015
Thema: 
Plenarrede anlässlich der Regierungserklärung des Bundesaußenministers zum Thema ?70 Jahre Vereinte Nationen?