Zwischen Krieg und Frieden

Einleitung

Der Wandel des internationalen Systems stellt auch die deutsche Sicherheitspolitik vor neue Herausforderungen: Die neuen Risiken sind oft benannt und beschrieben worden: Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, failed states, Migration, Umweltzerstörung und Ausbreitung des organisierten Verbrechens.  Daraus ergeben sich für die deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik eine ganze Reihe von Fragen: Wie gehen wir mit ethnisch und religiös motivierter Gewalt um? Wie begegnen wir den Bedrohungen des internationalen Terrorismus und der Proliferation von Massenvernichtungswaffen? Wie können Abrüstung und Rüstungskontrolle wieder auf die internationale Agenda gesetzt werden? Wie verhindern wir das Zerfallen von Staaten? Unter welchen Bedingungen ist der Einsatz militärischer Mittel erlaubt oder gar geboten? Und: Wie können die multilateralen Institutionen, die im vitalen deutschen Interesse sind, gestärkt werden?

Diese neuen Herausforderungen sind nur multilateral durch globale Kooperation zu lösen. Die dafür geschaffenen Institutionen von der UNO, der EU, G 8, G 20, der NATO, der OSZE, der Weltbank bis zur WTO haben das Staatensystem jedoch keineswegs außer Kraft gesetzt, denn jeder Staat verfolgt sein Eigeninteresse, nicht nur die alte Weltmacht USA und die neue Weltmacht China. Die Globalisierung hat die Grenzen für Waren, Kommunikation, Finanzströme, aber auch für Waffen, Drogen und Terrornetzwerke durchlässiger gemacht. Aber die Staatengemeinschaft ist bis heute nur unzureichend in der Lage, den damit einhergehenden Problemen und Bedrohungen angemessen zu begegnen. Viele Staaten denken und handeln noch in den Kategorien der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts.

Gerade im Sicherheitsbereich ist das Beharren auf nationaler Souveränität und auf nationalen Egoismen besonders stark ausgeprägt. Ohnehin scheint eine Rückbesinnung auf das "Nationale" wieder verstärkt Konjunktur zu haben. So werden etwa manche bei den Vereinten Nationen vorhandenen Instrumente zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung internationaler Sicherheit nicht genutzt. Stattdessen wurden die Vereinten Nationen zunehmend marginalisiert, es dominieren sicherheitspolitische Alleingänge - nicht nur der USA - oder es werden durch nationale Einzelinteressen geprägte Ad-hoc-Allianzen geschmiedet. Dies ändert jedoch nichts daran, dass durch die immer intensivere Verflechtung der Bedingungen von Sicherheit und Unsicherheit und die Globalisierung der Risiken und Bedrohungen im 21. Jahrhundert "Sicherheit" nur als globale Sicherheit gewährleistet werden kann.

Umbau der Bundeswehr und Aufbau einer europäischen Armee

Der sichtbarste Wandel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik seit Ende des Ost-West-Konflikts betrifft zweifellos die Einstellung zum Militär und zur Bundeswehr. Deren Aufgabe besteht nicht mehr in der Verteidigung der Grenzen, sondern in der Krisenintervention jenseits des Bündnisgebiets. Seit 1989 wurden in immer schnellerer Folge deutsche Soldaten ins Ausland entsandt: nach Kambodscha, Somalia, Bosnien, Kosovo, Mazedonien, Afghanistan, ans Horn von Afrika, in den Kongo und vor die Küste Libanons. Deutsche Soldaten stehen dabei nicht mehr modernen Armeen gegenüber, sondern Warlord-Milizen, Aufständischen und terroristischen Gruppen. Mit anderen Worten: Die Zeit der Planung und Übungen für traditionelle Kampfeinsätze ist vorbei; nunmehr sind Stabilisierungseinsätze gefragt, um die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland zu wahren.

Trotz gewaltiger Anstrengungen ist die Bundeswehr noch nicht hinreichend für die neuen Aufgaben gerüstet. Nach wie vor klafft eine große Lücke zwischen der Lageanalyse asymmetrischer Bedrohungen durch nichtstaatliche Akteure und der Praxis der Streitkräftebeschaffung und Ausrüstung, die noch überwiegend auf zwischenstaatliche Auseinandersetzungen ausgerichtet sind. Die deutsche Rüstungsindustrie arbeitet teilweise noch Aufträge aus dem Kalten Krieg ab. Vielmehr braucht die Bundeswehr eine sinnvollere Investitionspolitik, die den gewandelten strategischen Umständen fragiler Staatlichkeit Rechnung trägt.

Künftige Streitkräfteplanung sollte deshalb die Prioritäten auf die gebotenen Stabilisierungsaufgaben statt auf unwahrscheinliche zwischenstaatliche Kriege ausrichten. Angesichts knapper Ressourcen und Finanzen wird sich nicht nur die Bundeswehr, sondern auch die NATO ? mit Ausnahme der USA ? auf diese Fähigkeiten beschränken müssen.

Aus den gleichen Gründen braucht die EU dringend eine besser koordinierte Verteidigungs- und Militärpolitik. 27 nationale Armeen mit zusammen rund zwei Millionen Soldatinnen und Soldaten sind nicht nur wenig sinnvoll und zeitgemäß - sie sind auch zu teuer. Die EU-Staaten geben, vorsichtig gerechnet, derzeit über 160 Milliarden Euro für militärische Zwecke aus. Nicht jede Armee muss in Zukunft alles können; die Zeit der nationalen Universalarmeen in Europa geht zu Ende. Doch bisher ist es nicht gelungen, die nationalen Armeen im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu verzahnen.
Wenn Ressourcen gebündelt, Fähigkeiten koordiniert und redundante Waffen und Ausrüstungssysteme überprüft würden, könnte bei gleicher oder erhöhter Schlagkraft viel Geld eingespart werden. Ein Teil davon wäre nutzbar, um moderne Ausrüstung zu beschaffen oder um zivile, politische und diplomatische Maßnahmen zu finanzieren, die nicht minder wichtig sind.

Die Rolle des Parlaments

Vor wenigen Jahren noch waren deutsche Blauhelme ein Ding der Unmöglichkeit. Inzwischen hat sich die Bundeswehr an Kampfeinsätzen im Kosovo und in Afghanistan beteiligt, ohne Massenproteste oder auch nur demoskopische Einbrüche für die Regierenden. Zweifelsohne haben sowohl Helmut Kohl wie auch Gerhard Schröder die tatsächlichen und vermeintlichen Anforderungen der Partner dazu genutzt, um der Exekutive neue Handlungsspielräume in der Außenpolitik gegenüber dem Parlament, aber auch gegenüber der Gesellschaft, zu verschaffen. Der Hinweis auf internationale Verpflichtungen und "Bündnissolidarität" diente auch dazu, unliebsame innenpolitische Widerstände aus dem Weg zu räumen. Deshalb muss allen Versuchen, die Rolle des Parlaments als Kontrollorgan der Exekutive zu schwächen oder gar auszuhebeln, entschlossen entgegengetreten werden. Europäische Handlungsfähigkeit bedeutet nicht nur die Schaffung eines europäischen Außenministers und die Konzentration der Entscheidungsmacht beim Europäischen Rat, sondern hier gilt es auch, die Befugnisse und Kontrollrechte des Europäischen Parlaments weiter zu stärken.  Bei aller berechtigten oder ungerechten Kritik am bürokratischen Moloch EU und dessen Demokratiedefizit sollte zudem nicht vergessen werden, dass die europäische Integration die erstaunlichste und bewundernswerteste Erfolgsgeschichte des Jahrhunderts ist. Sie beendete tausendjährige Erbfeindschaften und einte einen zerrissenen und kriegerischen Kontinent.

Festzuhalten bleibt, dass die Bundeswehr ein Parlamentsheer ist und bleiben wird. Dies bedeutet, dass der Bundestag jeden Einsatz Jahr für Jahr nach einer kritischen Prüfung und einer öffentlichen Debatte verlängert und so den Bürgern Rechenschaft ablegt. Es war deshalb auch richtig, dass das Parlamentsbeteiligungsgesetz Einsätze der Bundeswehr auch weiterhin von der Zustimmung des Parlaments abhängig macht. Es besteht jedoch die Gefahr, dass im Rahmen neuer militärischer und bündnispolitischer Anforderungen weitere vermeintliche Notwendigkeiten entstehen, die die Rechte des Parlaments weiter aushöhlen. Deshalb gilt: Über den Einsatz der Bundeswehr entscheidet nicht der NATO-Rat, sondern der Bundestag. Und: Militärische Interventionen müssen auf einer völkerrechtlich eindeutigen Grundlage fußen. Dies bedeutet ein entsprechendes Mandat des UN-Sicherheitsrates.

Militär als letztes und begleitendes Mittel

Sicherlich kann es erst einmal notwendig sein, militärische Mittel einzusetzen, um humanitären Katastrophen zu begegnen. Doch militärische Interventionen müssen völkerrechtlich legitimiert sein, also entweder auf Basis des Kapitels VII oder des Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen (UN) erfolgen. Der Kosovo-Krieg muss die Ausnahme bleiben. Trotz verschiedener Versuche, eine völkerrechtliche Legitimation der NATO-Intervention zu erwirken, konnte der Kosovo-Krieg letztendlich nicht durch einen Beschluss des UN-Sicherheitsrats autorisiert werden. Die Allianz hat damit gegen die Buchstaben der UN-Charta verstoßen. Nicht zuletzt aufgrund dieser traumatischen Erfahrung hat die rot-grüne Regierung zwischen 1998 und 2005 wichtige Weichenstellungen für die deutsche Außenpolitik getroffen, die sich auch in den zivilen und militärischen Fähigkeiten der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik widerspiegeln.

Deutschland sollte sich künftig nur an Missionen beteiligen, wenn diese durch ein völkerrechtlich bindendes Mandat der Vereinten Nationen legitimiert sind und der Deutsche Bundestag zugestimmt hat. Alle diplomatischen und politischen Mittel der friedlichen Streitbeilegung müssen ausgeschöpft worden sein oder sich als aussichtslos erwiesen haben, um die Gewaltanwendung als »ultima ratio« zu rechtfertigen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein, das heißt eine zur Abwehr völkerrechtswidriger Handlungen ergriffene Maßnahme muss geeignet und verhältnismäßig sein, um diese zu unterbinden. Die seit dem Völkermord in Ruanda forcierte Debatte über die Schutzverantworung (Responsibility to Protect) ist richtungsweisend.

Fehlen begleitende politische Konzepte, dann sind jedoch militärische Interventionen sinnlos, meist sogar schädlich. Militärische Mittel allein können meistens Konflikte nicht nachhaltig lösen, sondern friedenserhaltende Maßnahmen nur absichern und unterstützen. Um zur Konfliktlösung beitragen zu können, müssen militärische Interventionen mit einer möglichst breit organisierten und stabilen gesellschaftlichen Basis im Zielland flankiert werden. Sonst werden die internationalen Truppen schnell als Besatzungsmacht wahrgenommen. Um das zu verhindern, sollte auch von vornherein eine Abzugsperspektive deutlich gemacht werden.
Militärische Interventionen sollten nur erfolgen, wenn von Beginn an eine Exit-Strategie vorhanden ist: präzise und realistische Erfolgskriterien, die erreicht sein müssen, damit die militärischen Einheiten ein Land wieder geordnet verlassen können, ohne im Zielland negative oder destabilisierende Wirkung zu entfalten.

Umfassender Statebuilding-Ansatz

Die Erfahrung in Afghanistan und Irak haben gezeigt, dass Milliarden Dollar in Sicherheits- und Entwicklungshilfen nutzlos sein können, wenn sie nicht von einer funktionierenden Regierung, vertrauenswürdigen Führungspersonen und realistischen Friedens- und Wirtschaftsplänen begleitet werden. In einer Übergangssituation muss die internationale Gemeinschaft deshalb gezielt staatliche und wirtschaftliche Strukturen (wieder) aufbauen. In Extremfällen müssen Staatsfunktionen im Rahmen einer Mandatsverwaltung zeitweise durch die internationale Gemeinschaft ersetzt werden. Dabei muss darauf geachtet werden, dass die starke Präsenz der internationalen Gemeinschaft nicht die Bereitschaft zu eigenen Anstrengungen untergräbt.

Wir sollten auch keine überzogenen Erwartungen haben. Funktionierende Demokratien und ein staatliches Gewaltmonopol lassen sich weder ex- noch importieren. Auch die historisch gewachsene Ordnung vor Ort, die nur begrenzt mit der Entwicklung von Staatlichkeit in Europa und Amerika vergleichbar ist, muss bedacht werden. Insbesondere sollte sich die Staatengemeinschaft davor hüten, mit allzu schnellen Wahlen Potemkin?sche Staaten mit demokratischen Fassaden aufzubauen.

Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben uns schmerzhaft vor Augen geführt, dass der Erfolg internationaler Friedensmissionen vor allem auch von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren abhängt. Es ist wichtig, schnell wirksame und von der Bevölkerung erfahrbare Verbesserungen von Lebensbedingungen anzustreben, damit die staatlichen oder staatsähnlichen Strukturen in den Augen der Bevölkerung Unterstützenswertes leisten, sprich Legitimation genießen. Zudem sollte langfristig in Menschen investiert werden: durch Gesundheitsversorgung sowie Schul- und Ausbildung. Entscheidend ist, die Voraussetzung für eine sich selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen. Letztere ist immer die eigentliche Exit-Strategie.

Afghanistan, Kosovo und Bosnien-Herzegowina haben gezeigt, dass internationale Kräfte in Bürgerkriegsgebieten über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, gebunden sind, der Wiederaufbau zeit- und kostenintensiv ist und es deshalb keine einfache Exit-Strategie gibt. Wir sollten uns vor allem vor einem auftrumpfenden moralischen Imperialismus hüten, bei dem der Ehrgeiz allemal größer sein wird als die Mittel, die unsere Gesellschaften bereit sind, dafür bereitzustellen.

Denn Statebuilding braucht einen langen Atem, den demokratische Regierungen mit Blick auf die kritische Haltung ihrer Wähler nur schwer aufbringen können. Nicht zuletzt deshalb müssen künftig neue Auslandseinsätze gut überlegt und begründet werden. Um die Kräfte zu bündeln und effizient einzusetzen, ist es auch auf internationaler Ebene dringend geboten, sich auf Kriterien und Interessen zu verständigen: wo und in welchen Fällen sich die internationale Gemeinschaft an der Rekonstruktion gescheiterter Staaten beteiligt - und in welchen nicht.

Die Vereinten Nationen und ihre Instrumentarien wie das Department of Peacekeeping Operations (DPO) müssen gestärkt und besser ausgestattet werden. Regionalmächte und Regionalorganisationen sollten dazu angehalten werden, ihrer Verantwortung besser gerecht zu werden, zumal der Hauptteil der Kosten eines gescheiterten Staates auf die unmittelbaren Nachbarn fällt.

Die Umbrüche in der Arabischen Welt

Binnen weniger Wochen haben die Protestbewegungen in Tunesien und Ägypten die alten Regime um die Präsidenten Ben Ali und Mubarak gestürzt. Noch ist offen, wohin dies Europas Nachbarländer führen wird. In beiden Staaten wird von Basisbewegungen auf die Erneuerung der Staatsapparate gedrungen. Zugleich aber ist jetzt erst einmal die Armeeführung an der Macht, das heißt die bisherige Hauptstütze des Regimes. Die Demokratisierung Ägyptens wird auch maßgeblich davon abhängen, ob das Militär seine Zusagen einhalten wird, wenn es um freie Wahlen und die Machtübergabe an eine zivile Regierung geht. Ägypten und Tunesien haben jedoch schon jetzt in der gesamten arabischen Welt ein Signal gesetzt, von Algerien über Libyen bis nach Bahrein. Das tunesische Volk hat mit dem Sturz von Präsident Ben Ali und seiner Regierungspartei den Präzedenzfall für den arabischen Raum geschaffen. Es hat das Vorurteil, arabische Staaten seien nicht demokratiefähig, endgültig widerlegt. 

Der arabische Krisengürtel, von Marokko bis Jordanien, liegt in Europas unmittelbarer Nachbarschaft. Der Westen schwankt bislang zwischen Unterstützung und Sorge um das geopolitische Machtgefüge im Nahen Osten. Die Europäische Union hat Tunesien und Ägypten ihre Hilfe angeboten. Dafür muss sie neue Instrumente und Strategien entwerfen. Fast alle Staaten rund um das Mittelmeer und die 27 EU-Mitglieder haben 2008 die ?Union für das Mittelmeer? ins Leben gerufen. Dieses Forum hat die hohen Erwartungen bislang nicht erfüllt. Die politische Blockade der "Union für das Mittelmeer" muss nun aufgelöst werden zugunsten der Förderung von konkreten Kooperationsprojekten und der Förderung eines demokratischen und sozialen Rechtsstaatsmodells in den südlichen Mittelmeeranrainern. Dringend notwendig ist eine Neuausrichtung der Europäischen Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union gegenüber Nordafrika und dem Nahen Osten. Ein Schwerpunkt muss dabei auf der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Bürgergesellschaft liegen. Und die EU muss ihren Agrarmarkt für Produkte aus Nordafrika und Nahost weiter öffnen.

Auch im Bereich der kontrollierten Einwanderung sollte die EU Angebote machen, die jungen Menschen aus der Region Zugang zu Bildung und Ausbildung bieten. Die restriktive Visa-Politik der Union setzt hier ein falsches Zeichen. Zudem dürfen die Südländer nicht mit der Flüchtlingsproblematik allein gelassen werden. Wenn die Bundeskanzlerin langfristig politische Flüchtlinge in Deutschland nicht aufnehmen möchte, muss sie jetzt beim Aufbau demokratischer Gesellschaften vor Ort mitwirken, um den Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive zu bieten. Das ist die beste Flüchtlingspolitik.

Was derzeit in der arabischen Welt geschieht, ist gut für das Selbstbewusstsein der Bürger dort. Sie handeln aus eigenem Antrieb für das eigene Wohl und sie befreien sich damit zugleich von dem lang gehegten Selbstbild, nur ein Spielball äußerer Mächte und autokratischer Herrscher zu sein. Wenn alles gut geht, werden diese Gesellschaften ein selbstbewussterer und damit zugleich verlässlicherer Partner sein. Dann wären Demokratisierung und Stabilität langfristig keine Gegensätze mehr. Bis dahin ist es allerdings noch ein langer Weg, der - wie die Eskalation in Libyen zeigt - leider auch von blutigen Rückschlägen begleitet werden kann.

Handlungsbedarf

Seit den späten 1990er Jahren gehört Statebuilding in Krisen- und Konfliktregionen fest zum außenpolitischen Repertoire westlicher Staaten. Extern betriebenes, nach westlichen Ordnungsvorstellungen ausgerichtetes State- und Nationbuilding ist in den vergangenen Jahren zu einer regelrechten Wachstumsindustrie geworden.

Unter der Schirmherrschaft von UN, NATO und EU versucht die Staatengemeinschaft, kollabierte Länder wie Somalia, Afghanistan, Irak, Bosnien, Kosovo und Kongo wieder aufzubauen. Die bisherige Bilanz ist durchwachsen bis negativ. Mit ausbleibendem Erfolg schwindet zudem die öffentliche und politische Unterstützung in den am Staatsaufbau beteiligten Nationen.

Trotz aller Widerstände hat die rot-grüne Bundesregierung viele Initiativen für eine präventive Friedens- und Stabilisierungspolitik auf den Weg gebracht: mit dem Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF), mit dem Aufbau des zivilen Friedensdiensts, mit der Aufwertung der Menschenrechtspolitik, den Stabilitätspakten für Südosteuropa und dem Kaukasus, mit der vom damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier entwickelten Zentralasien-Strategie und nicht zuletzt mit dem Aktionsplan für zivile Krisenprävention.

2004 wurde von der rot-grünen Bundesregierung ein politisches Strategiepapier, der »Aktionsplan Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung «, erarbeitet. Dieses Gesamtkonzept, dessen Schwerpunkt auf der Früherkennung bzw. Krisenprävention und weniger auf der Krisennachsorge, dem Statebuilding nach Konflikten liegt, gilt es weiterzuentwickeln. Politik und Wissenschaft in Deutschland stimmen heute weitgehend überein, dass sich Deutschland aus eigenem Sicherheitsinteresse als verlässlicher Partner der internationalen Gemeinschaft den Herausforderungen der Friedenskonsolidierung stellen muss. Indem die Strukturen in zerfallenden Staaten gestärkt werden, können Krisen und Gewalt verhindert und globale Friedenssicherung betrieben werden.

Unabhängig davon gilt nach wie vor, dass die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen nicht mehr militärische Mittel, sondern vielmehr politische Konzepte erfordern. Nichtverbreitung, Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen deshalb wieder verstärkt als wesentliche Bestandteile einer deutschen und europäischen Sicherheitspolitik verstanden werden. Deutschland kann und muss dazu seinen Beitrag leisten ? als Militärmacht, Handelsstaat und Zivilmacht. Die Bundesrepublik hat in ihrer Geschichte bislang zwei große außenpolitische Debatten geführt: über die West-Bindung und über die Entspannungspolitik. Die eine gab dem neuen Staat Halt, die andere verschaffte ihm außenpolitischen Spielraum in Europa. Jetzt ist es an der Zeit, grundlegend darüber zu diskutieren, was Deutschland in einer entgrenzten Welt zum Aufbau prekärer Staaten konzeptionell und materiell beitragen kann und will.

Fazit

Es bleibt eine Tatsache, dass die zentralen Ziele deutscher Außenpolitik - Wohlstandsmehrung, Friedensstiftung, die Bewältigung dringender Probleme wie Arbeitslosigkeit, Kriminalität - sich nicht mehr im nationalen Alleingang lösen, sondern nur noch in zwischenstaatlichen Kooperationsnetzwerken multilateraler Politik verwirklichen lassen. Deutschland hat nach 1945 die prägende Erfahrung gemacht, dass eine Politik "goldener Handschellen", die Schaffung eines dichten Netzes transnationaler Abhängigkeiten, letztlich nationale Unabhängigkeit ermöglicht. Diese Einbindung erweitert und beschränkt zugleich die außenpolitischen Handlungsoptionen Deutschlands. Außenpolitik muss darüber hinaus jedoch auch gesellschaftlich akzeptiert und eingebunden sein. Denn: Gegen die Interessen und Ziele der eigenen Gesellschaft ist Außenpolitik nicht durchführbar. 

Die deutschen und europäischen Erfahrungen aus der Zeit des Kalten Kriegs waren davon geprägt, dass man über ideologische Grenzen hinweg reden kann und muss, dass die Isolation von Gegenspielern keine Konflikte löst und dass Feindschaft in regionalen Sicherheitsstrukturen überwindbar ist. Das sind die Prinzipien sozialdemokratisch geprägter Entspannungspolitik. Diese sind keinesfalls überholt, auch wenn sie ganz offensichtlich in Vergessenheit geraten sind. Zu Beginn des neuen Jahrtausends in einem Zeitalter neuartiger Spannungen brauchen wir wieder eine neue Entspannungspolitik.

 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Herausforderungen der deutschen Außenpolitik im 21. Jahrhundert
Veröffentlicht: 
Argumente 2/2011, S. 55-61.