Ist es an der Zeit, taktische Atomwaffen aus Europa abzuziehen?

Die Massenvernichtungswaffen-Kommission (Blix-Kommission) stellt fest, dass mehr als 400 taktische US-Atomwaffen in Europa stationiert sind und vermutet eine noch größere Zahl russischer taktischer Waffen in Westrussland. Die Kommision schreibt, dass diese Waffen leichter von Unbefugten wie zum Beispiel terroristische Gruppen entwendet werden könnten. Sie spricht von der Gefahr, dass diese Waffen während des Transports oder der Stationierung gestohlen werden.

Daher empfiehlt die Kommission, Russland und die USA sollten sich darauf verständigen, "alle nichtstrategischen Waffen in zentrale Lager auf einheimischem Territorium zurückzuziehen, um sie dort bis zu ihrer Vernichtung zu lagern".

Die US-amerikanischen Atomwaffen wurden in der Vergangenheit im Rahmen der nuklearen Abschreckung zum Schutz von NATO-Staaten als notwendig erachtet und auch als wichtiges Bindemittel im transatlantischen Verhältnis angesehen. Die russischen taktischen Atomwaffen wiederum gewannen in der russischen Nukleardoktrin zunehmend an Bedeutung als Gegengewicht zur konventionellen Überlegenheit der NATO.

Doch geben die jüngsten Entwicklungen in Europa Anlass zur Hoffnung, dass die Stationierung von taktischen Atomwaffen in Europa und Westrussland bald beendet werden könnte.
2001 beschloss Griechenland, die Fähigkeit seiner Luftwaffe zum atomaren Angriff nicht zu erhalten und verminderte dadurch die Voraussetzungen seiner Streitkräfte, am US-Atomwaffenstationierungsprogramm in Griechenland teilzunehmen. Angeblich haben die USA daraufhin ihre taktischen Atomwaffen aus Griechenland abgezogen. Dadurch verringert sich die Anzahl der Staaten, die US-Atomwaffen beherbergen von sieben auf sechs.

Zwischen 2005 und 2007 hat eine Reihe parlamentarischer Initiativen die wachsende öffentliche Ablehnung von Atomwaffenstationierungen in Europa bekräftigt. Dazu gehören:

  • Resolutionen des belgischen Parlaments und des Bundestages, die die Regierungen der NATO-Staaten dazu aufrufen, auf den Abzug der US-Atomwaffen aus Europa hinzuarbeiten.
  • Eine gemeinsame Erklärung von Abgeordneten aus Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und Großbritannien, die das Ende der nuklearen Teilhabe fordert.
  • Eine Erklärung von Mitgliedern des Europaparlaments, die den Abzug der US-Atomwaffen aus Europa fordert.
  • Außerdem übergaben Abgeordnete Kommandeuren von Militärstützpunkten, auf denen Atomwaffen lagern, Schreiben, die geltend machen, dass diese Waffen gegen den Atomwaffensperrvertrag sowie gegen internationales Recht verstoßen.

Diese Initiativen wurden im Dezember 2007 in einer gemeinsamen Erklärung der Bürgermeister aller Städte und Gemeinden, auf deren Gebiet US-Atomwaffen im Rahmen der nuklearen Teilhabe lagern, unterstützt. Die Bürgermeister von Peer (Kleine Brogel - Belgien), Aviano und Ghedi (Italien), Uden (Volkel - Niederlande), Incirlik (Türkei), and Büchel (Deutschland) schrieben, dass nach dem Ende des Kalten Krieges "Die Sowjetunion ihre Atomwaffen aus der Ukraine und Weißrußland abzog (...) leider folgte die NATO dem russischen Beispiel nicht und taktische Atomwaffen blieben in Belgien, den Niederlanden, Deutschland, der Türkei, Italien, Griechenland und Großbritannien stationiert." Sie schreiben weiter, dass "die NATO-Mitgliedschaft keinen Staat zur Stationierung von Atomwaffen verpflichtet. Zum Beispiel beendete Griechenland 2001 die Stationierung von US-Atomwaffen." Die Bürgermeister rufen dazu auf, die Stationierung von Atomwaffen auf fremdem Staatsgebiet grundsätzlich zu beenden, "Dies wäre auch ein Schritt hin zu einer NATO-Strategie, die nicht auf Atomwaffen beruht."

Nach Angaben des US-amerikanischen NGO Natural Resources Defense Council beendete die US Air Force 2007 die Stationierung von Atomwaffen auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramstein. Dokumenten zufolge werden auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramstein keine regelmäßigen Atomwaffeninspektionen mehr durchgeführt, was den Schluss nahelegt, dass diese Waffen abgezogen wurden. Hoffnungen, dass dies der erste Schritt zum Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland sei, wurden im August 2007 durch eine Erklärung der Bundesregierung gedämpft, man beabsichtige, an der Stationierung von Atomwaffen am Standort Büchel festzuhalten.

Eine Grupper pensionierter NATO-Militärs hat auf die wachsende Dynamik zum Abzug von taktischen Atomwaffen aus Europa reagiert und am 23. Januar 2008 einen Bericht veröffentlicht, in dem sie argumentieren, die NATO müsse ihre atomare Kapazität erhalten, um in der Lage zu sein, Präemptiveschläge zur Verhinderung der Ausbreitung von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen auszuführen.

Der Bericht "Towards a Grand Strategy for an Uncertain World" wurde von General John Shalikashvili (ehemals Vorsitzender des US-Generalstabs und Oberkommandierender der NATO in Europa), General Klaus Naumann (ehemals Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des NATO Militärausschusses); General Henk van den Breemen, (ehemals niederländischer Stabschef); Admiral Jacques Lanxade, (ehemals französischer Stabschef); and Lord Inge, (Feldmarschall und ehemals Vorsitzender des Generalstabs sowie des Verteidigungsstabs Großbritanniens) vorgelegt. Sie schreiben, dass eine nukleare Erstschlagskapazität ein "unverzichtbares Instrument" bleibe, da es "schlicht keine realistische Aussicht auf eine atomwaffenfreie Welt gibt (...) Das Risiko weiterer [nuklearer] Proliferation steht unmittelbar bevor, daher kann die Gefahr eines atomaren Krieges, wenn auch in begrenztem Ausmaß, möglich werden (...) Der Ersteinsatz von Atomwaffen muss im militärischen Arsenal bleiben, als letztes Mittel, um den Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu verhindern."

James K. Galbraith trat diesem Bericht mit dem Artikel "A Criminal Idea" entgegen, der am 25. Januar 2008 im Guardian veröffentlicht wurde. Galbraith argumentiert, der Einsatz von Atomwaffen in einem Präventivschlag gegen einen Staat, der verdächtigt wird, Massenvernichtungswaffen herzustellen - wie von der Grand Strategy vorgeschlagen - wäre ein verbrecherischer Angriff und durch die Auswirkungen, die der Einsatz von Atomwaffen habe, zudem eine Verletzung des humanitären Völkerrechts. Er fügt hinzu: "Die Planung und Vorbereitung eines solchen Krieges ist nicht weniger ein Verbrechen als der Krieg selbst."
Galbraith schriebt auch, dass die Doktrin keine Wirkung zur Abschreckung eines Atomkriegs habe sondern vielmehr das Rezept für einen solchen Krieg darstelle: "Angenommen, wir erklären die Doktrin der Generäle zum Prinzip: jeder Atomstaat, der einen anderen Staat verdächtigt, dabei zu sein, sich Atomwaffen zu beschaffen, hat das Recht, diesen anzugreifen - auch mit Atomwaffen. Angenommen, Nordkorea verdächtigt Südkorea, genau dies zu wollen. Hat Nordkorea nun das Recht, Südkorea anzugreifen? Gemäß jeden Rechtsgrundsatzes muss die Antwort der Generäle ein Ja sein. Ihre Doktrin schützt also nicht vor einem Atomkrieg, es führt in herbei."

Die pensionierten NATO-Generäle werden wohl kaum die wachsende öffentliche Unterstützung für einen Abzug der US-Atomwaffen dämpfen können. Aus einer im Mai 2005 im Spiegel veröffentlichten Meinungsumfrage geht hervor, dass drei Viertel der deutschen Bevölkerung den Abzug der amerikanischen Atomwaffen wünschen, nur 18% sprechen sich dagegen aus. Ähnliche zahlen liefert eine Greenpeace-Umfrage, nach der 69% der Bewohner von Staaten, in denen Atomwaffen stationiert sind, sich für ein atomwaffenfreies Europa aussprechen. Im einzelnen äußerten in der Türkei 88%, in Deutschland und Italien je 71%, in Belgien 63% und in Großbritannien 56% ihre Unterstützung für dieses Ziel.

Es dürfte jedoch schwierig sein, einen Abzug aller US-Atomwaffen in Europa zu erreichen, ohne dass es entsprechende Fortschritte bei Transparenz und Kontrolle der russischen taktischen Waffen in Westrussland gibt. Es wird angenommen, dass Russland über 2,330 nichtstrategische Atomwaffen in Raketenabwehrsystemen, Luftabwehrraketen, taktischen Bombern und seegestützen Cruise Missiles und Torpedos verfügt - halb so viele wie in den frühern 90er Jahren stationiert waren. Genaue Zahlen oder Informationen über Standorte sind jedoch aufgrund der mangelnden Transparenz auf russischer Seite nur schwer zu ermitteln.

Russland hat eine gewisse Bereitschaft erkennen lassen, seine taktischen Waffenarsenale weiter zu reduzieren; zum Beispiel durch Enthaltung zu einer Resolution zum Thema in der UN-Vollversammlung (Frankreich, Großbritannien und die USA stimmten dagegen). Die russische Position hat sich seit 2003 jedoch verhärtet. Das russische Verteidigungsweißbuch von 2006 erwähnt die russischen taktischen Atomwaffen nicht, kritisiert jedoch die Stationierung von taktischen US-Waffen auf fremdem Boden (in NATO-Staaten). Wahrscheinlich haben auch die Pläne der US-Regierung, Stützpunkte der geplanten Raketenabwehr in ehemaligen Ostblockstaaten  - Tschechien und Polen -  zu errichten, zur Verhärtung der russischen Position beigetragen.

Ein Fortschritt im Hinblick auf russische taktische Waffen wird daher leichter zu erzielen sein, wenn es weitere Reduzierungen von taktischen US-Atomwaffen in NATO-Ländern, eine Änderung der Nukleardoktrin der NATO oder eine Änderung bei den Plänen zur Raketenabwehr in Polen und der tschechischen Republik gibt.

Abgeordnete in Russland, den USA, NATO-Mitgliedsstaaten und anderen europäischen Ländern können Einfluss nehmen, indem sie zum Fortschritt an all diesen Fronten ermutigen. Dies kann durch parlamentarische Resolutionen geschehen, durch Parlamentsanfragen, gemeinsame parlamentarische Appelle oder durch den Kontakt zu Kollegen in anderen Ländern.

Autor: 
von Rolf Mützenich, MdB, Patrick Vankrunkelsen, belgischer Abgeordneter und Sergei Kolesnikov, DUMA-Abgeordneter
Thema: 
Taktische Atomwaffen in Europa
Veröffentlicht: 
Unsere Zukunft ? Atomwaffenfrei, 07.05.2008