Wider die Militarisierung des Denkens.
Das internationale Umfeld hat sich seit 1990 rapide verändert. Zum einen sind die internationalen Beziehungen komplexer und turbulenter geworden. Zum zweiten ist weltweit das Phänomen einer zunehmend fragilen, überforderten und nicht selten zerbrechenden Staatlichkeit zu beobachten. Unsicherheiten und Konflikte entstehen nicht mehr primär aufgrund von gefährlichen Machtakkumulationen einzelner Staaten, sondern aus erodierenden und zerfallenden staatlichen Gewaltmonopolen und damit fragiler Staatlichkeit. Aus den zum Teil vordergründig symmetrischen Bedrohungen des Kalten Krieges sind asymmetrische Bedrohungen völlig neuer Art geworden.
Die Widersprüchlichkeit dieser internationalen Ordnung zeigt sich in parallel zur fortschreitenden Globalisierung verlaufenden Prozessen der Dezentralisierung und Regionalisierung. Dazu gehören die Regionalisierung von Handel und Investitionen in den drei großen Wirtschaftsräumen Westeuropa, Amerika und Ost- und Südostasien sowie die zunehmende Verflechtung dieser Regionen bei gleichzeitiger weltwirtschaftlicher Marginalisierung der übrigen Teile der Welt. Konsequenz dieser gegenläufigen Tendenzen ist nicht die Integration und Konvergenz, sondern die globale Heterogenisierung der Welt, so dass man besser von "Globalisierung versus Fragmentierung" als den beiden globalen Trends sprechen kann wie sie etwa mit dem Buchtitel Benjamin Barbers "Jihad vs. McWorld" zum Ausdruck gebracht wird.
Der grundlegende Wandel des internationalen Systems stellt auch die Sicherheitspolitik vor neue Herausforderungen: Die neuen Risiken sind oft benannt und beschrieben worden: Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, failed states, Migration, Umweltzerstörung und Ausbreitung des organisierten Verbrechens. Daraus ergeben sich für die deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik eine ganze Reihe von Fragen: Wie gehen wir mit ethnisch und religiös motivierter Gewalt um? Wie begegnen wir den Bedrohungen des internationalen Terrorismus und der Proliferation von Massenvernichtungswaffen? Wie verhindern wir das Zerfallen von Staaten? Unter welchen Bedingungen ist der Einsatz militärischer Mittel erlaubt oder gar geboten? Und: Wie können die multilateralen Institutionen, die im vitalen deutschen Interesse sind, gestärkt werden?
Die oben beschriebenen neuen Herausforderungen sind nur multilateral durch globale Kooperation zu lösen. Die dafür geschaffenen Institutionen von der UNO, der EU, der NATO, der OSZE, der Weltbank bis zur WTO haben das Staatensystem jedoch keineswegs außer Kraft gesetzt, denn jeder Staat verfolgt sein Eigeninteresse, nicht nur die letzte verbliebene Weltmacht USA. Die Globalisierung hat die Grenzen für Waren, Kommunikation, Finanzströme, aber auch für Waffen, Drogen und Terrornetzwerke durchlässiger gemacht. Aber die Staatengemeinschaft ist bis heute nur unzureichend in der Lage, den damit einhergehenden Problemen und Bedrohungen angemessen zu begegnen. Viele Staaten denken und handeln noch in den Kategorien der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Gerade im Sicherheitsbereich ist das Beharren auf nationaler Souveränität und auf nationalen Egoismen besonders stark ausgeprägt. So werden etwa manche bei den Vereinten Nationen vorhandenen Instrumente zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung internationaler Sicherheit nicht genutzt. Stattdessen wurden die Vereinten Nationen zunehmend marginalisiert, es dominieren sicherheitspolitische Alleingänge der USA oder es werden durch nationale Einzelinteressen geprägte Ad hoc Allianzen geschmiedet. Die Krise des Multilateralismus ist deshalb auch - wenngleich nicht nur - eine Folge der Weltpolitik der Vereinigten Staaten unter George W. Bush. Dies ändert jedoch nichts daran, dass durch die immer intensivere Verflechtung der Bedingungen von Sicherheit und Unsicherheit und die Globalisierung der Risiken und Bedrohungen im 21. Jahrhundert "Sicherheit" nur als globale Sicherheit gewährleistet werden kann.
1. Das Nichtverbreitungsregime in der Krise - Entsteht eine neue nukleare Ordnung?
Das nukleare Nichtverbreitungsregime befindet sich ohne Zweifel in einer existentiellen Krise. Diese liegt nicht nur in der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik oder der Doppelmoral der offiziellen Atommächte und ihren nicht eingelösten Abrüstungsverpflichtungen begründet, sondern auch in den strukturellen Schwächen des Nichtverbreitungsregimes selbst, vor allem aber in den sicherheitspolitischen Entwicklungen seit Ende des Ost-West-Konflikts, die viele der klassischen Prämissen der Nichtverbreitung obsolet haben werden lassen.
Seit Jahrzehnten hat der Atomwaffensperrvertrag (NVV) mit dazu beigetragen, eine sturzflutartige Proliferation von Kernwaffen zu verhindern. Mit 189 Vertragsstaaten kann man ihn als nahezu universelles Vertragswerk bezeichnen. Nur noch Indien, Pakistan und Israel befinden sich außerhalb des globalen Nichtverbreitungsregimes ? Nordkorea hat seinen Austritt erklärt. Trotz aller Schwächen hat der NVV wesentlich zur Eindämmung der nuklearen Proliferation beigetragen. Gleichzeitig stellte er sicher, dass die Mitgliedsstaaten unter Kontrolle und Aufsicht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) die nuklearen Technologien für zivile Zwecke nutzen konnten. Wenn jetzt aber nicht neue Maßnahmen ergriffen werden, wird die unkontrollierte Verbreitung von Massenvernichtungswaffen kaum mehr zu verhindern sein. Zu einer wirksamen Reform des globalen Nichtverbreitungsregimes gehören: schärfere Inspektionsregeln; Anreize für Staaten, auf eigene Urananreicherungsanlagen zu verzichten; ein Vertrag über das Verbot der Herstellung von spaltbarem Material für Waffenzwecke; eine breitere Beteiligung an der Proliferationssicherheitsinitiative; eine engere Zusammenarbeit zwischen der Internationalen Atomenergie-Organisation und dem Sicherheitsrat und konkrete Abrüstungsmaßnahmen. Vor allem müssen die Mitgliedstaaten den Willen aufbringen, zur Stärkung des Nichtverbreitungsregimes tätig zu werden.
Besorgniserregend ist vor allem, dass Kernwaffen zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr als letztes Mittel der Abschreckung, sondern zunehmend wieder als Kriegsführungswaffen gesehen werden. Mit der fortwährenden Modernisierung ihrer Arsenale stellen nicht nur die USA, sondern auch Russland, China, Frankreich und Großbritannien Verpflichtungen aus dem NVV in Frage. Trotz gegenteiliger Bekenntnisse im UN-Sicherheitsrat sind immer weniger Kernwaffenstaaten bereit, Zusicherungen des Nichteinsatzes abzugeben und behalten sich weiterhin das Recht vor, diese auch präventiv einzusetzen.
Die Fälle Nordkorea und Iran zeigen geradezu exemplarisch einen wunden Punkt des globalen Nichtverbreitungsregimes: Es gibt kaum Instrumente, um vertragskonformes Verhalten zu erzwingen. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) hat so gut wie keine Sanktionsmöglichkeiten gegenüber einem Mitglied, das seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Auch stellt sich die Frage, ob eine Trennung zwischen friedlicher und militärischer Nutzung der Kernenergie wirklich möglich ist. Die Aktivitäten der IAEA beschränken sich zudem immer noch nahezu ausschließlich auf die Nichtkernwaffenstaaten, die Mitglied des NVV sind, und lassen die zivilen Brennstoffkreisläufe der Kernwaffenstaaten fast vollständig aus.
Tatsächlich ist so etwas wie eine zweite strategische Revolution im Gange. Statt dem im Atomwaffensperrvertrag festgehaltenen Ziel einer "nuklearwaffenfreien Welt" droht eine "Renuklearisierung" der Weltpolitik.
2. Terrorismus und Massenvernichtungswaffen
Dass Terrorismus eine ernste Bedrohung des Weltfriedens darstellt, war auch vor dem 11. September bekannt. Aber seit dem Einsturz der Zwillingstürme des World Trade Centers hält das Gespenst des Terrorismus die Welt fest im Griff: Auf New York folgten Anschläge in Bali, Kabul, Bagdad, Riad, Istanbul, Madrid und London. Dabei wurde deutlich, wie verletzlich hochkomplexe Gesellschaften für Terrorangriffe sind.
Die Vereinigten Staaten jedenfalls sehen spätesten seit dem 11. September 2001 im Terrorismus die Bedrohung des 21. Jahrhunderts. Nach eigener Anschauung befinden sich die USA im "Krieg gegen den Terrorismus" und die Staaten, die ihn unterstützen. Die Fronten in diesem Konflikt sind für die Protagonisten klar abgesteckt: Die radikalislamistischen Terroristen bedienen sich einer einfachen Weltsicht: Religiös verbrämt verteufeln sie die westliche Welt insgesamt. Allen voran gelten ihnen die Vereinigten Staaten als Erzfeind, den es im Namen Gottes zu vernichten gilt.
US-Präsident Bush lässt seinerseits keinen Zweifel daran, an welchem Punkt die Welt heute steht: "Es gibt keine Neutralität im Kampf von Zivilisation und Terror, denn es gibt keine Neutralität zwischen Gut und Böse, Freiheit und Sklaverei, Leben und Tod", sagte er beispielsweise in seiner Rede zum zweiten Jahrestag des Irak-Krieges. Der "Krieg gegen den Terrorismus" wird verbunden mit der Fokussierung auf Worst-Case-Szenarien in Form eines staatlich geförderten Terrorismus mit Massenvernichtungswaffen. Deren Eintrittswahrscheinlichkeit ist zwar gering, die Folgen wären aber so verheerend, dass nahezu alle Gegenmaßnahmen erlaubt und gerechtfertigt erscheinen. Die Konsequenzen für die amerikanische Politik sind eine Überbetonung militärischer Stärke und eine sehr weitgehende Auslegung des Rechts auf Selbstverteidigung inklusive präventiver und ggf. unilateraler Militärschläge sowie der umstrittenen Haft- und Verhörpraxis gegenüber Terrorverdächtigen rund um den Globus.
Nach fünf Jahren "Global War on Terror" kann man bilanzieren, dass dieser sich als kostspieliger Irrweg erwiesen hat. Die Terrorgefahr wurde nicht eingedämmt, die Zahl islamistisch motivierter Anschläge hat sogar zugenommen. Mit Armeen kann man Territorialstaaten besiegen - solche, die auf Eroberung aus sind, und solche, die Terroristen Unterschlupf und Unterstützung gewähren. Wie aber geht man gegen transnational operierende Terrornetzwerke vor? Hier sind nachrichtendienstliche und polizeiliche Mittel sicher wirkungsvoller als Militärschläge.
Eine besondere Gefahr würde zweifellos von Terrorgruppen ausgehen, die über Massenvernichtungswaffen verfügen. Massenvernichtungswaffen sind ein nahe liegendes Mittel, um in stark asymmetrischen Konflikten eine Art Gleichgewicht herzustellen. Sie sind deshalb die "Waffen der Schwachen", um sich gegenüber einem übermächtigen Gegner zu behaupten. Insofern gibt es für nichtstaatliche Gewaltakteure tatsächlich einen abstrakten Anreiz, sich Massenvernichtungswaffen zu verschaffen. Lange war umstritten, ob ein wirklicher Schwarzmarkt für Nuklearwaffen tatsächlich existiert. Doch inzwischen hat die IAEA seit 1993 über 650 Fälle von illegalem Handel mit radioaktivem Material aufgedeckt, und die Aktivitäten von A. Q. Khan und dessen Netzwerk haben gezeigt, dass zumindest für Staaten der illegale Erwerb von fortgeschrittener Nukleartechnologie möglich ist. Die Stärkung des globalen Nichtverbreitungsregimes und das Verhindern der Entstehung neuer Atommächte bleibt deshalb auch ein wesentliches Ziel im Kampf gegen den Terrorismus. Denn je mehr Staaten über Atomwaffen verfügen, umso größer ist die Gefahr, dass diese in die Hände von Terroristen gelangen.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Terrorismus sich nicht besiegen lässt. Man kann ihn lediglich bekämpfen, eindämmen und seinen Radius einschränken, indem man seine Infrastruktur zerstört, den Zufluss von Ressourcen und den Zulauf von Sympathisanten unterbindet. Terrorismus wird sich jedoch niemals gänzlich aus der Welt schaffen lassen. Man kann lediglich das Risiko mit polizeilichen, geheimdienstlichen, strafrechtlichen und - im Einzelfall - auch mit militärischen Mitteln minimieren. Einen garantierten Schutz gegen terroristische Gewalt wird und kann es nicht geben. Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zu wahren, setzt den Sicherheitsvorkehrungen zudem demokratische und rechtsstaatliche Grenzen.
3. Friedensstrategien
Die wirksamste Art und Weise Kriege und ihre Schrecken zu bekämpfen bleibt die Prävention, also die systematische und vorausschauende Verhütung des Ausbruchs kriegerischer Gewalt. Hierzu gehören die Zivilisierung des Konfliktaustrags, die Stärkung der Vereinten Nationen als globaler Konfliktregelungsinstanz sowie die Revitalisierung der globalen Rüstungskontroll- und Abrüstungsbemühungen.
Frieden durch (Völker-)Recht, Frieden durch internationale Organisationen, Frieden durch Abschreckung bzw. durch Machtbalance und Gleich- und Gegengewichte, Frieden durch Bündnisse und Sicherheitsstrategien - die Liste der Friedensstrategien ist lang. Die bislang erfolgreichste ist sicherlich die Europäische Union mit ihrer Erfahrung zwischenstaatlicher Kooperation und Integration. "Friede durch Integration" kann durchaus als Modell auch für andere Regionen der Welt dienen. Ziel muss die weitere Verrechtlichung der internationalen Politik bleiben ? auch und gerade im Bereich der Friedens- und Sicherheitspolitik. Neben dem Aufbau militärischer Kapazitäten sollte sich die EU wieder stärker auf ihren Gründungsimpetus als Friedensprojekt besinnen. Dem Leitbild einer Friedensmacht kann die EU nur dann entsprechen, wenn es ihr gelingt, ein angemessenes Instrumentarium der Konfliktbearbeitung aufzubauen, in dem zivile und militärische Instrumente in eine integrierte Strategie für Krisenbewältigung und präventiver Konfliktverhütung eingebunden werden. Die EU sollte ihr großes politisches und wirtschaftliches Gewicht so weit wie möglich nutzen, um gewaltsamen Auseinandersetzungen bereits im Vorfeld zu begegnen und wirksam zu bekämpfen. Die globalisierte Welt benötigt dringend ein verbindliches und faires Regelwerk, in dem nicht das "Recht des Stärkeren", sondern die "Stärke des Rechts" gilt. Ein solches lässt sich nur dann verwirklichen, wenn die -Hypermacht? USA auf einen starken europäischen Partner trifft.
3.1 Dieter Senghaas und das "zivilisatorisches Hexagon"
Dieter Senghaas hat mit seinem zivilisatorischen Hexagon versucht Bedingungen des Friedens, bzw. des friedlichen Austrags von Konflikten darzustellen. Demnach herrscht Frieden dann vor, wenn eine Konstellation von sich gegenseitig stützenden Bedingungen vorhanden ist.
Die sechs Eckpunkte eines solchen zivilisatorischen Hexagons sind folgende:
- Wesentlich für das Zivilisierungsprojekt sind die Entprivatisierung von Gewalt und die Herausbildung eines legitimen Gewaltmonopols.
- Die Kontrolle des Gewaltmonopols und die Herausbildung von Rechtsstaatlichkeit ist wiederum Voraussetzung dafür, dass das öffentliche Gewaltmonopol nicht despotisch missbraucht wird.
- Durch wachsende Interdependenzen und durch die Entprivatisierung von Gewalt bildet sich eine zunehmende Affektkontrolle im gegenseitigen Umgang miteinander heraus, die von Norbert Elias als "Prozess der Zivilisation" eindrucksvoll beschrieben wurde.
- Damit ist auch die Grundlage für die demokratische Beteiligung bei öffentlichen Entscheidungsfindungen gelegt.
- Ein weiteres Element ist die soziale Gerechtigkeit. Die materielle Anreicherung von Rechtsstaatlichkeit ist eine konstitutive Bedingung der Lebensfähigkeit von rechtsstaatlichen Ordnungen und damit des inneren Friedens.
- Schließlich bildet eine konstruktive Konfliktkultur, Bereitschaft zur produktiven Auseinandersetzung mit Konflikten und kompromissorientierte Konfliktfähigkeit, den letzten Eckpunkt des Hexagons.
Diese Voraussetzungen müssen - sollen sie wirksam sein - verlässlich gelten und damit institutionalisiert sein; sie sollen nicht in jeder neuen Auseinandersetzung stets zur Disposition stehen und jeweils erneut erkämpft werden müssen. Dies bedingt ihre rechtliche Verankerung und Gewährleistung durch Mechanismen des innerstaatlich geltenden Rechts. Frieden als Zivilisierungsprojekt wird somit zum Streben nach einer legitimen und gerechten Ordnung. Den geeigneten Rahmen hierfür bieten nach wie vor die Vereinten Nationen.
3.2 Karl W. Deutsch und das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft
Eine weitere erfolgreiche Friedensstrategie stellt die Herausbildung von Sicherheitsgemeinschaften dar. Den Begriff entwickelte Karl Wolfgang Deutsch 1957 in seinem viel zitierten Standardwerk. Demnach zeichnet sich eine "pluralistische Sicherheitsgemeinschaft" dadurch aus, dass
- in ihrem Rahmen Gewalt als Mittel zwischenstaatlicher Interessendurchsetzung überwunden ist (gewaltfreie Problemverarbeitung),
- ihre Teilnehmer in den grundlegenden politischen Werten übereinstimmen (Wertekonsens)
- und das wechselseitige Verhalten berechenbar ist (Erwartungsverlässlichkeit).
Die Folge ist eine Zivilisierung des Umgangs zwischen Staaten. Sicherheitsgemeinschaften sind also enge, institutionalisierte Beziehungen zwischen Staaten, die nicht nur auf wechselseitigen Interessen, sondern auf geteilten Werten und wechselseitigen Sympathien beruhen. Ein intensives Geflecht von Interessen, Kommunikationen und Organisationen hält ihre Mitglieder zusammen. Sicherheit wird als ein kollektives Gut verstanden. Die Möglichkeit eines bewaffneten Zusammenstoßes liegt jenseits der Vorstellungskraft.
Neben der "pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft" identifiziert Deutsch die "verschmolzene Sicherheitsgemeinschaft". Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass pluralistische Sicherheitsgemeinschaften aus mehreren souveränen Staaten bestehen, während verschmolzene Sicherheitsgemeinschaften aus einem staatlichen oder staatsähnlichen Gebiet mit einer zentralisierenden Gewalt bestehen. Die Europäische Union ist demnach heute mehr als eine "pluralistische Sicherheitsgemeinschaft" aber noch keine "verschmolzene Sicherheitsgemeinschaft".
Hier stellt sich die Frage, ob Sicherheitsgemeinschaften nur zwischen Demokratien gebildet werden können? Oder anders gefragt: Ist ein demokratisches System für die Bildung einer Sicherheitsgemeinschaft lediglich eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung?
Wenn man den Kriterienkatalog von Deutsch anwendet zeigt sich: Für die Herausbildung einer pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft sind Gewaltverzicht, Wertekonsens und Erwartungsverlässlichkeit ausreichend. Im Hinblick auf die Mitgliedschaft der damaligen Militärdiktaturen Griechenland und Portugal in der NATO könnte man sogar argumentieren, dass die Teilnahme an einer Sicherheitsgemeinschaft den Prozess der gesellschaftlichen Teilhabe beschleunigen kann. Dennoch: Partizipation, soziale Gerechtigkeit und Rechtssicherheit können den Prozess der regionalen Integration befördern. Denn die Sozialisationsfunktion von Institutionen ist umso höher ist, je mehr Mitglieder Demokratien sind. So sind Demokratien eher dazu bereit, Sicherheitsgemeinschaften zu bilden als Nicht-Demokratien.
3.3 Die Reform der Vereinten Nationen
Dem zweiten UN-Generalsekretär und Erfinder der Blauhelme, Dag Hammerskjöld, wird der Satz zugeschrieben, die Vereinten Nationen sollen nicht den Himmel auf Erden verwirklichen, sondern nur die Hölle auf Erden verhindern ? ein Ziel, das nach wie vor nicht verwirklicht wurde. Welche Rolle sollen die Vereinten Nationen in der Welt von heute und morgen spielen? In dieser Frage sollte man Realist bleiben: Die Vereinten Nationen werden weder in der Bedeutungslosigkeit versinken, noch werden sie eine neue Weltregierung sein. Die UN-Charta verkörpert auch sicherlich nicht die beste aller Welten. Sie ist ausgelegt auf die Nationalstaaten. Deshalb sollte man sich über den Charakter der Vereinten Nationen keinen Illusionen hingeben. Sie sind eben kein weltweites "System Kollektiver Sicherheit", sondern bleiben in erster Linie ein Konzert der Großmächte. Auch das "Gewaltmonopol" der Vereinten Nationen bleibt entwicklungsfähig. Die Vergleiche mit dem national-staatlichen Gewaltmonopol greifen zu kurz. Die Vereinten Nationen sind kein Weltstaat und der Sicherheitsrat keine Weltregierung. Zugleich ist das Pochen auf die Einhaltung rechtlicher Verfahren alles andere als reiner Formalismus, sondern unabdingbare Voraussetzung für ein internationales Rechtssystem. Der Internationale Gerichtshof und der Internationale Strafgerichtshof leisten hierfür unverzichtbare Beiträge.
Die Vereinten Nationen müssen effizienter werden. Es mangelt auch nicht an entsprechenden Reformvorschlägen. Doch so wichtig die Reform und die Erweiterung des Sicherheitsrates auch sein mögen, die eigentlichen Kernfragen zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind folgende:
- Wie können wir Hunger und Krankheiten erfolgreich bekämpfen?
- Welche Institutionen und Instrumente brauchen wir, um Krisen zu bewältigen?
- Wie können wir Problemen und Konflikten bereits im Entstehen, d.h. präventiv entgegentreten?
- Wie können mehr als sechs Milliarden Menschen auf dieser Erde friedlich miteinander leben?
Zur Lösung dieser Fragen brauchen wir ein System globaler kooperativer Sicherheit. Und diesen Rahmen können nur die Vereinten Nationen bieten. Denn nur die Weltorganisation verfügt mit ihren zahlreichen Unterorganisationen über die Instrumente, die wir brauchen, um Sicherheit, Frieden und Entwicklung auf der Welt zu gestalten. Sie hat über Jahrzehnte Erfahrung in Konfliktprävention, Krisenmanagement, "nation building" und Wiederaufbau gesammelt. M.a.W.: Die Vereinten Nationen müssen die zentrale Rolle in einer neuen Weltordnung spielen. Sicherheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind nur gemeinsam erreichbar. Die Vereinten Nationen stellen hierfür den Rahmen bereit. Die Nationalstaaten hingegen müssen ihnen die dafür notwendigen Mittel anbieten.
3.4 Für die Revitalisierung von Abrüstung und Rüstungskontrolle
Präventive, umfassende Friedens- und Sicherheitspolitik geht im Verständnis der SPD über reine Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik hinaus. Sie basiert auf dem erweiterten Sicherheitsbegriff und dem Konzept der menschlichen Sicherheit. Die SPD muss das Konzept der Kriegsverhütung auch in einer neuen Weltordnung verteidigen. Internationale Verträge bleiben unverzichtbare Instrumente, dem Wettrüsten Einhalt zu gebieten.
Die Rüstungskontrolle befindet sich - je nach Betrachtungsweise - in der Krise, der Stagnation oder ist bereits sanft verschieden. Die Abrüstungsdekade der 90er Jahre scheint endgültig beendet zu sein. Es führt leider kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass zunehmend mehr Länder derzeit ihr Heil weniger in Abrüstung und Rüstungskontrolle als vielmehr in der Schaffung von gesteigerten und verbesserten militärischen Fähigkeiten suchen. In vielen Regionen der Welt sind Rüstungsschübe und Rüstungswettläufe im Gange - neben Ostasien, Südostasien und Südasien ist hier vor allem der Nahe und Mittlere Osten zu nennen.
Dabei erfordern die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen nicht mehr militärische Mittel, sondern vielmehr politische Konzepte. Nichtverbreitung, Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen deshalb wieder verstärkt als wesentliche Bestandteile einer europäischen Sicherheitspolitik verstanden werden. Die EU sollte die europäischen Erfahrungen, wie sie beispielsweise im Rahmen des KSZE-Prozesses gemacht wurden, auch als Modell für andere Regionen empfehlen. In erster Linie muss es darum gehen, Rüstungskontrolle und Abrüstung auch regional zu verankern.
Die Konsequenzen illegalen Gebrauchs von Nuklearmaterial und anderen radioaktiven Substanzen stellen eine reale Gefahr für die Menschheit dar. Deshalb ist ein effektives und weltweit flächendeckendes Verifikationsregime zur Kontrolle unautorisierter Proliferation von Nuklearstoffen unbedingt erforderlich. Internationale und regionale Abkommen zur Kontrolle und Abrüstung der vorhandenen Waffenarsenale, verbunden mit der Einhaltung und gegebenenfalls Verschärfung von Rüstungsexportrichtlinien bleiben unverzichtbare Instrumente, um der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und konventionellen Waffen aller Art Einhalt zu gebieten. Die Behauptung, die klassischen Instrumente der Rüstungskontrolle funktionierten nicht mehr, ist ein wohlfeiles Argument, das in Washington bereits Anfang der neunziger Jahre formuliert wurde: Rüstungskontrolle und Verifikation wird es niemals flächendeckend und allumfassend geben.
Auch künftig wird es Möglichkeiten geben, Rüstungskontrollverträge und die darin enthaltenen Kontroll- und Überprüfungsmechanismen zu umgehen bzw. zu unterlaufen. Gleichwohl gibt es zur vertragsbasierten und verifizierbaren Rüstungskontrolle nur eine Alternative. Ein weltweites nukleares, chemisches und biologisches Wettrüsten. Ein solches kann auch nicht im Interesse der USA liegen. Die Risiken, die aus der Trias der Bedrohung von transnationalem Terrorismus, Massenvernichtungswaffen und zerfallenden Staaten resultieren, sind jedenfalls mit nachrichtendienstlichen, rüstungskontrollpolitischen und polizeilichen Instrumentarien wirksamer zu bekämpfen als durch militärische Interventionen.
4. Deutsche Außenpolitik für das 21. Jahrhundert
Auch wenn die "Berliner Republik" mit veränderten und gewachsenen Erwartungen ihrer Partner konfrontiert wurde, hat sich an den Grundkonstanten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik in einem dicht gesponnenen Netz institutioneller Bindungen auf den ersten Blick wenig geändert. Das Hauptmerkmal ist nach wie vor ein ausgeprägter Multilateralismus und damit verbunden die Abneigung gegenüber Sonderwegen und Alleingängen. Immer gemeinsam mit Partnern, niemals alleine, lautet nach wie vor die Devise deutscher Außenpolitik. Man kann geradezu von einer "Never alone-Doktrin" sprechen. Aus diesem Grunde ist deutsche Außenpolitik in einem hohen Maße immer auch Institutionen-Politik.
Dies schließt nationale Interessenpolitik jedoch nicht aus, sondern ist geradezu Voraussetzung für eine solche. Denn die Prämisse, dass nationale Interessendurchsetzung des Alleingangs bedürfe, hat sich als falsch erwiesen. Ein solcher ist in der verflochtenen und vernetzten euro-atlantischen Staatenwelt in der Regel eher hinderlich, es sei denn, man verfügt über das Potenzial einer Welt- oder Hegemonialmacht. Die Abgabe von Souveränität und die Selbsteinbindung in die transatlantischen und europäischen Strukturen war somit nicht nur ein innovativer Ansatz, sondern folgte auch einem klaren Kalkül: Denn die uneingeschränkte deutsche Integrationsbereitschaft war ein Hebel, um im Rahmen dieser integrativen Strukturen wieder Einfluss und Mitsprache zu erlangen. M.a.W.: Bereits in der Vergangenheit verfolgte die deutsche Außenpolitik selbstverständlich nationale Interessen, auch wenn diese als europäische deklariert wurden. Nach wie vor gilt: Deutsche Interessen und europäische Interessen sind im Großen und Ganzen deckungsgleich. Und dies unabhängig davon, dass in einzelnen Politikbereichen wie der Finanz-, Wirtschafts-, Agrar- und Arbeitmarktpolitik selbstverständlich auch auf europäischer Ebene mit harten Bandagen gekämpft wird. Dass die Weltmacht USA trotz vieler transatlantischer Gemeinsamkeiten naturgemäß andere bzw. weitergehende Interessen verfolgt als die europäischen Demokratien, hat die Regierung von George W. Bush seit Amtsantritt eindruckvoll unter Beweis gestellt.
Der sichtbarste Wandel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik seit Ende des Ost-West-Konflikts betrifft zweifellos die Einstellung zum Militär und zur Bundeswehr. Deren Aufgabe besteht nicht mehr in der Verteidigung der Grenzen, sondern in der Krisenintervention jenseits des Bündnisgebietes. Die Entsendung von Streitkräften ist zum festen Bestandteil der deutschen Außenpolitik geworden. Dies ist auch die Folge von Entwicklungen, die durchaus Grund zur Sorge geben. Dazu gehören die jüngsten waffen- und rüstungstechnologischen Entwicklungen und Rüstungsschübe (Stichwort: Revolution in Military Affairs), die aller Voraussicht nach dazu führen werden, dass die Interventionsschwelle der großen Demokratien sinken wird und die Verlockungen, Streitkräfte bei minimalen eigenen (und gegnerischen) Verlusten einzusetzen, stärker werden.
Zweifelsohne haben sowohl Helmut Kohl wie auch Gerhard Schröder die tatsächlichen und vermeintlichen Anforderungen der Partner dazu genutzt, um der Exekutive neue Handlungsspielräume in der Außenpolitik gegenüber dem Parlament, aber auch gegenüber der Gesellschaft, zu verschaffen. Der Hinweis auf internationale Verpflichtungen und "Bündnissolidarität" diente auch dazu, unliebsame innenpolitische Widerstände aus dem Weg zu räumen. Deshalb muss allen Versuchen, die Rolle des Parlaments als Kontrollorgan der Exekutive zu schwächen oder gar auszuhebeln, entschlossen entgegengetreten werden. Europäische Handlungsfähigkeit bedeutet nicht nur die Schaffung eines europäischen Außenministers und die Konzentration der Entscheidungsmacht beim Europäischen Rat, sondern hier gilt es auch, die Befugnisse und Kontrollrechte des Europäischen Parlaments weiter zu stärken. Denn: Bei aller berechtigten und ungerechten Kritik sollte nicht vergessen werden, dass die europäische Integration das erstaunlichste, bewundernswerteste und zukunftsträchtigste Projekt des Jahrhunderts ist. Sie beendete tausendjährige Erbfeindschaften und einte einen zerrissenen und kriegerischen Kontinent.
Es bleibt eine Tatsache, dass die zentralen Ziele deutscher Außenpolitik - Wohlstandsmehrung, Friedensstiftung, die Bewältigung dringender Probleme wie Arbeitslosigkeit, Kriminalität - sich nicht mehr im nationalen Alleingang lösen, sondern nur noch in zwischenstaatlichen Kooperationsnetzwerken multilateraler Politik verwirklichen lassen. Deutschland hat nach 1945 die prägende Erfahrung gemacht, dass eine Politik ?goldener Handschellen?, die Schaffung eines dichten Netzes transnationaler Abhängigkeiten, letztlich nationale Unabhängigkeit ermöglicht. Diese Einbindung erweitert und beschränkt zugleich die außenpolitischen Handlungsoptionen Deutschlands. Außenpolitik muss darüber hinaus jedoch auch gesellschaftlich akzeptiert und eingebunden sein. Denn: Gegen die Interessen und Ziele der eigenen Gesellschaft ist Außenpolitik nicht durchführbar. Dies hat zuletzt die Auseinandersetzung um den Irakkrieg gezeigt, als durch die europaweiten Demonstrationen sich erstmalig so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit konstituierte, die die Außenpolitik nicht allein den Eliten und der Exekutive überlassen wollte.
Die deutschen und europäischen Erfahrungen aus der Zeit des Kalten Kriegs waren davon geprägt, dass man über ideologische Grenzen hinweg reden kann und muss, dass die Isolation von Gegenspielern keine Konflikte löst und dass Feindschaft in regionalen Sicherheitsstrukturen überwindbar ist. Das sind die Prinzipien sozialdemokratisch geprägter Entspannungspolitik. Diese sind keinesfalls überholt, auch wenn sie ganz offensichtlich in Vergessenheit geraten sind. Zu Beginn des neuen Jahrtausends in einem Zeitalter neuartiger Spannungen brauchen wir wieder eine neue Entspannungspolitik.