Wandel und Kontinuitäten deutscher Außenpolitik

Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland weist weit stärkere Brüche und Diskontinuitäten auf als jene anderer Länder. Vor allem das Scheitern der deutschen Macht- und Hegemonialpolitik seit 1870/71, welche in den singulären Verbrechen der NS-Diktatur gipfelte, hat zu einer Abkehr von traditioneller Machtpolitik geführt. Zentrale Merkmale deutscher Außenpolitik nach 1945 wurden machtpolitische Zurückhaltung, außenpolitische Friedfertigkeit, Kooperationsbereitschaft sowie das Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Auch nach dem Fall der Mauer, dem Ende des Kalten Krieges und der Vollendung der deutschen Einheit weist die deutsche Außenpolitik - entgegen vieler Befürchtungen und mancherlei Hoffnungen - ein hohes Maß an Kontinuität auf. Dies gilt auch für die seit 1998 amtierende rot-grüne Regierungskoalition. Auch wenn die "Berliner Republik" mit veränderten und gewachsenen Erwartungen ihrer Partner konfrontiert wurde, hat sich an den Grundkonstanten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik in einem dicht gesponnenen Netz institutioneller Bindungen auf den ersten Blick wenig geändert. Das Hauptmerkmal ist nach wie vor ein ausgeprägter Multilateralismus und damit verbunden die Abneigung gegenüber Sonderwegen und Alleingängen. Immer gemeinsam mit Partnern, niemals alleine, lautet nach wie vor die Devise deutscher Außenpolitik - man kann geradezu von einer "Never alone-Doktrin" sprechen.

Die außenpolitische Debatte nach der Vereinigung wurde und wird dabei von einer Reihe von Schlüsselbegriffen geprägt wie "Normalität", "Verantwortung", "Zivilmacht"  und "Handelsstaat". Dabei geht es in erster Linie um die Frage, inwieweit die Jahre um 1990 für die deutsche Außenpolitik eine Zäsur bedeuten oder nicht. Ist Deutschland mächtiger geworden? Gibt es als Folge der Umwälzungen des internationalen Systems auch eine neue deutsche Außenpolitik und wodurch zeichnet diese sich aus? Ein besonderer Aspekt dieser Diskussionen schlug sich in der so genannten "Normalisierungsdebatte" Anfang der 90er Jahre nieder: Was ist "Normalität" und "Normalisierung"? Auf welchen Kriterien beruht sie? Gibt es "Normalität" überhaupt oder ist die Geschichte der Nationalstaaten nicht vielmehr immer auch eine Geschichte von Sonderwegen? Im Gegensatz zu einigen Autoren der WeltTrends-Debatte bin ich der Meinung, dass eine "Normalisierung" - im Sinne einer Rückkehr zu einer traditionellen Großmachtpolitik des vereinten Deutschland - nicht stattfinden kann und darf. Sie kann nicht stattfinden, weil Deutschland verlässlich in Europäische Union und NATO integriert und auch sonst in ein Netz vielfältiger Abmachungen und Verträge eingebunden ist; und sie darf nicht stattfinden, aufgrund der historischen und moralischen Verpflichtungen, die aus der Singularität des Holocaust resultieren.

Trotz aller Kontinuität lässt sich aber seit 1990 durchaus auch eine Modifizierung des außenpolitischen Rollenkonzeptes der Bundesrepublik beobachten. Das relative Gewicht des vereinten Deutschland hat seitdem - zumindest in Europa - zweifelsohne zugenommen. Inwieweit dieser Machtzuwachs nun direkte Auswirkungen auf die deutsche Außenpolitik hat, darüber lässt sich - wie die WeltTrends-Debatte eindrucksvoll zeigt - trefflich streiten. Dabei lassen sich sowohl Argumente für eine neue deutsche Machtpolitik finden (die voreilige Anerkennung Sloweniens und Kroatiens, das Streben nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat mit Vetorecht), als auch Faktoren, die darauf hindeuten, dass auch das "neue" Deutschland in erster Linie dem Rollenmodell der Zivilmacht und des Handelsstaates folgt (die Aufgabe der DM zu Gunsten des Euro sowie die fortdauernde Einbindung in NATO und EU).

Es ist jedoch eine zutreffende Beobachtung, dass die Regierung Schröder stärker (und sicherlich auch nassforscher) als die Vorgängerregierungen versucht, Deutschlands Einfluss innerhalb von EU und NATO zu maximieren. Nebenbei: Die von Hellmann beobachtete Selbststilisierung Schröders als "selbstbewusster Kanzler einer erwachsenen Nation" lässt sich vielleicht auch mit der Beobachtung erklären, dass gerade Sozialdemokraten (vor lauter Furcht als "vaterlandslose Gesellen" abgestempelt zu werden) des Öfteren dazu neigen, sich patriotischer zu geben, als eigentlich notwendig.

Von der Landesverteidigung zur Intervention

Der sichtbarste Wandel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik betrifft zweifellos die Einstellung zum Militär und zur Bundeswehr. Deren Aufgabe besteht nicht mehr in der Verteidigung der Grenzen, sondern in der Krisenintervention jenseits des Bündnisgebietes. Für viele Kritiker deutscher Großmachtpolitik hat Deutschland deshalb spätestens mit der Beteiligung am Kosovo-Krieg und den Militäreinsätzen auf dem Balkan und in Afghanistan endgültig seine "friedenspolitische Unschuld" verloren. Im Übrigen: Nichts gegen die "außenpolitische Seligsprechung" Helmut Kohls und seine Verdienste um die deutsche und europäische Einheit, aber die These des Kollegen Wimmer, unter einem Kanzler Kohl hätten weder der Kosovo- noch der Irakkrieg stattgefunden, ist doch recht gewagt - zumal man davon ausgehen kann, dass unter einer Kanzlerin Merkel oder einem Kanzler Stoiber heute deutsche Truppen im Irak stünden. So oder so: Die Forderung von Bundeskanzler Schröder nach einer "Enttabuisierung des Militärischen" ist längst Realität - sogar bei weiten Teilen der SPD-Linken und Bündnis 90/Die Grünen, die sich überwiegend zu der Formel vom Krieg als Ultima ratio durchgerungen haben. Und dies vor dem Hintergrund, dass nahezu ein halbes Jahrhundert in Deutschland Krieg als das größte denkbare Unglück überhaupt galt. Dennoch: Das außenpolitische Rollenkonzept Deutschlands entspricht meiner Überzeugung nach im Großen und Ganzen nach wie vor dem einer Zivilmacht. Nach wie vor hat die historische Erfahrung von Militarismus und Nationalsozialismus bei der Mehrzahl der gesellschaftlichen Akteure in Deutschland zu der Überzeugung geführt, militärische Macht, wenn überhaupt, nur zurückhaltend einzusetzen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Entsendung von Streitkräften seit 1993 zum festen Bestandteil deutscher Außenpolitik geworden ist.

Der Rest der Welt hat diesen mit beachtlicher Geschwindigkeit vollzogenen Wandel mit erstaunlicher Gelassenheit zur Kenntnis genommen. Neben dem nach wie vor vorhandenen Misstrauen gibt es nun vermehrt globale "Verpflichtungen" sowie Forderungen und Anfragen der Freunde und Partner, denen man sich nicht länger entziehen kann bzw. möchte. Zugleich wurde die Erwartungshaltung der engsten Bündnispartner an Deutschland während der Balkankriege der neunziger Jahre klar formuliert. Diese lautete: Trotz bzw. gerade wegen seiner Geschichte hat Deutschland die Verpflichtung, zusammen mit seinen Partnern im Rahmen von NATO, EU und OSZE, schweren Menschenrechtsverletzungen und Vertreibungen auf dem Balkan Einhalt zu gebieten. In den Balkankriegen der 90er Jahre agierte Deutschland deshalb nicht nur, sondern es reagierte auch auf die Erwartungen und Anforderungen seiner engsten Partner.

Damit verbunden war zwar kein grundlegender Wandel, aber doch eine Modifizierung deutscher Interessen ? wobei sich an den Prioritäten relativ wenig geändert hat. An oberster Stelle steht nach wie vor die internationale Einbindung, quasi die verinnerlichte Nachkriegshoffnung auf "supranationale Erlösung". Aus diesem Grunde ist deutsche Außenpolitik in einem hohen Maße immer auch Institutionen-Politik. Dies schließt nationale Interessenpolitik jedoch nicht aus, sondern ist geradezu Voraussetzung für eine solche. Denn die Prämisse, dass nationale Interessendurchsetzung des Alleingangs bedürfe, hat sich als falsch erwiesen. Ein solcher ist in der verflochtenen und vernetzten euro-atlantischen Staatenwelt in der Regel eher hinderlich, es sei denn, man verfügt über das Potenzial einer Welt- oder Hegemonialmacht. Die Abgabe von Souveränität und die Selbsteinbindung in die transatlantischen und europäischen Strukturen war somit nicht nur ein innovativer Ansatz, sondern folgte auch einem klaren Kalkül: Denn die uneingeschränkte deutsche Integrationsbereitschaft war ein Hebel, um im Rahmen dieser integrativen Strukturen wieder Einfluss und Mitsprache zu erlangen. M.a.W.: Bereits in der Vergangenheit verfolgte die deutsche Außenpolitik selbstverständlich nationale Interessen, auch wenn diese als europäische deklariert wurden. Nach wie vor gilt: Deutsche Interessen und europäische Interessen sind im Großen und Ganzen deckungsgleich. Und dies unabhängig davon, dass in einzelnen Politikbereichen wie der Finanz-, Wirtschafts-, Agrar- und Arbeitmarktpolitik selbstverständlich auch auf europäischer Ebene mit harten Bandagen gekämpft wird. Dass die Weltmacht USA trotz vieler transatlantischer Gemeinsamkeiten naturgemäß andere bzw. weitergehende Interessen verfolgt als die europäischen Demokratien, hat die Regierung von George W. Bush seit Amtsantritt eindruckvoll unter Beweis gestellt.

Ein weiterer Punkt, der mir wichtig erscheint: Außenpolitik ist und bleibt immer auch akteursabhängig und Akteure gibt es viele: die Exekutive, die Legislative, die Bundesländer, die Europäische Zentralbank, die Gewerkschaften, die Industrie, die Zivilgesellschaft, die Medien etc. Dies bedeutet: Außenpolitik wird formuliert und durchgeführt von einer Vielzahl von Akteuren. Dies gilt selbstverständlich auch für die Exekutive, wo es durchaus unterschiedliche Interessen, Kompetenzgerangel und Eifersüchteleien zwischen Kanzleramt, BMZ und Auswärtigem Amt gibt.

Fazit

Hinsichtlich der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik nach 1990 lässt sich somit folgendes Fazit ziehen. Mit der Rolle der vielfältig eingebundenen Zivilmacht erfüllte Deutschland außenpolitische Erwartungen nach Ende des Zweiten Weltkrieges und übernahm sie. Man kann diesbezüglich von einer gelungenen "Sozialisation" der Bundesrepublik durch die westlichen Partner in NATO und EU sprechen. Gleiches gilt aber auch für die Zeit nach der Wiedervereinigung. Die von Hellmann konstatierte "machtpolitische Resozialisierung" der deutschen Außenpolitik seit 1990 ist deshalb nicht nur hausgemacht, sondern resultiert zu einem großen Teil auch aus geänderten Rollenerwartungen des internationalen Umfeldes, auf die die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik wiederum reagierte. Dies betrifft wie schon erwähnt in erster Linie den Einsatz von militärischen Mitteln. Hier wuchs zweifelsohne der Druck auf die politischen Eliten, die verfassungsmäßigen Selbstbeschränkungen aufzugeben und zusammen (und in Gefolgschaft) mit den Partnern, zunehmend internationale Aufgaben der Friedensschaffung und Friedenserzwingung mit zu übernehmen. Die Entsendung von Streitkräften ist seither zum festen Bestandteil der deutschen Außenpolitik geworden. Dies ist auch die Folge von Entwicklungen, die durchaus Grund zur Sorge geben. Dazu gehören die jüngsten waffen- und rüstungstechnologischen Entwicklungen und Rüstungsschübe (Stichwort: Revolution in Military Affairs), die aller Voraussicht nach dazu führen werden, dass die Interventionsschwelle der großen Demokratien sinken wird und die Verlockungen, Streitkräfte bei minimalen eigenen (und gegnerischen) Verlusten einzusetzen, stärker werden.

Zweifelsohne haben sowohl Helmut Kohl wie auch Gerhard Schröder die tatsächlichen und vermeintlichen Anforderungen der Partner dazu genutzt, um der Exekutive neue Handlungsspielräume in der Außenpolitik gegenüber dem Parlament, aber auch gegenüber der Gesellschaft, zu verschaffen. Der Hinweis auf internationale Verpflichtungen und "Bündnissolidarität" diente auch dazu, unliebsame innenpolitische Widerstände aus dem Weg zu räumen. Deshalb muss allen Versuchen, die Rolle des Parlaments als Kontrollorgan der Exekutive zu schwächen oder gar auszuhebeln, entschlossen entgegengetreten werden. Europäische Handlungsfähigkeit bedeutet nicht nur die Schaffung eines europäischen Außenministers und die Konzentration der Entscheidungsmacht beim Europäischen Rat, sondern hier gilt es auch, die Befugnisse und Kontrollrechte des Europäischen Parlaments weiter zu stärken. Ein weiteres Defizit besteht auch hinsichtlich der Einbindung und Konsultation der europäischen Partner. Hier ist zu beobachten, dass die großen EU-Staaten zunehmend - über die Köpfe der kleineren Partner hinweg - in Form eines Dreier-Direktoriums (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) die europäische Außenpolitik gestalten, welche dann von den übrigen EU-Staaten lediglich nachträglich abgenickt werden darf. Hier sollte Deutschland wieder in stärkerem Maße Rücksicht auf die Interessen und Belange der kleineren EU-Partner nehmen.

Es bleibt eine Tatsache, dass die zentralen Ziele deutscher Außenpolitik - Wohlstandsmehrung, Friedensstiftung, die Bewältigung dringender Probleme wie Arbeitslosigkeit, Kriminalität - sich nicht mehr im nationalen Alleingang lösen, sondern nur noch in zwischenstaatlichen Kooperationsnetzwerken multilateraler Politik verwirklichen lassen. Deutschland hat nach 1945 die prägende Erfahrung gemacht, dass eine Politik "goldener Handschellen", die Schaffung eines dichten Netzes transnationaler Abhängigkeiten, letztlich nationale Unabhängigkeit ermöglicht. Diese Einbindung erweitert und beschränkt zugleich die außenpolitischen Handlungsoptionen Deutschlands. Außenpolitik muss darüber hinaus jedoch auch gesellschaftlich akzeptiert und eingebunden sein. Denn: Gegen die Interessen und Ziele der eigenen Gesellschaft ist Außenpolitik nicht durchführbar. Dies hat zuletzt die Auseinandersetzung um den Irakkrieg gezeigt, als durch die europaweiten Demonstrationen sich erstmalig so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit konstituierte, die die Außenpolitik nicht allein den Eliten und der Exekutive überlassen wollte.  

Dr. Rolf Mützenich, MdB, SPD, Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und des Unterausschusses "Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung"
 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Streitplatz: Großmächtiges Deutschland
Veröffentlicht: 
WeltTrends, Nr. 46, 1/2005, S. 99-104