Umsturz im Nahen Osten
Binnen weniger Wochen haben die Protestbewegungen in Tunesien und Ägypten die alten Regime um die Präsidenten Ben Ali und Mubarak gestürzt. Noch ist offen, wohin dies Europas Nachbarländer führen wird. In beiden Staaten wird von Basisbewegungen auf die Erneuerung der Staatsapparate gedrungen. Zugleich aber ist jetzt erst einmal die Armeeführung an der Macht, das heißt die bisherige Hauptstütze des Regimes. Die Demokratisierung Ägyptens wird auch maßgeblich davon abhängen, ob das Militär seine Zusagen einhalten wird, wenn es um freie Wahlen und die Machtübergabe an eine zivile Regierung geht.
Ägypten und Tunesien haben jedoch schon jetzt im ganzen Nahen Osten ein Signal gesetzt, von Algerien über Libyen bis nach Bahrein. Das tunesische Volk hat mit dem Sturz von Präsident Ben Ali und seiner Regierungspartei den Präzedenzfall für den arabischen Raum geschaffen. Es hat das Vorurteil, arabische Staaten seien nicht demokratiefähig, endgültig widerlegt. Ich selbst konnte mir vergangene Woche auf einer Reise in den Libanon und nach Jordanien ein unmittelbares Bild vor Ort machen. Dabei wurde mir wieder deutlich, welch wertvolle Aufbauhilfe die politischen Stiftungen vor Ort leisten. Diese muss dringend intensiviert werden. Deshalb sollte die Bundesregierung auf jeden Fall die Förderung der poltischen Stiftungen im laufenden und in den kommenden Haushalten erhöhen. Vor allem aber: Wir sollten nicht bereits jetzt mit fertigen Konzepten kommen, sondern den Menschen vor Ort vertrauen und darauf hören, was sie von uns erwarten.
Der arabische Krisengürtel, von Marokko bis Jordanien, liegt in Europas unmittelbarer Nachbarschaft. Der Westen schwankt bislang zwischen Unterstützung und Sorge um das geopolitische Machtgefüge im Nahen Osten. Wird etwa Israel größere Probleme als bisher bekommen, wenn die starken Männer der arabischen Welt abtreten? Die Europäische Union hat Tunesien und Ägypten ihre Hilfe angeboten. Dafür muss sie neue Instrumente und Strategien entwerfen. Fast alle Staaten rund um das Mittelmeer und die 27 EU-Mitglieder haben 2008 die "Union für das Mittelmeer" ins Leben gerufen. Dieses Forum hat die hohen Erwartungen bislang nicht erfüllt. Die politische Blockade der "Union für das Mittelmeer" muss nun aufgelöst werden zugunsten der Förderung von konkreten Kooperationsprojekten und der Förderung eines demokratischen und sozialen Rechtsstaatsmodells in den südlichen Mittelmeeranrainern. Dringend notwendig ist eine Neuausrichtung der Europäischen Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union gegenüber Nordafrika und dem Nahen Osten. Ein Schwerpunkt muss dabei auf der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Bürgergesellschaft liegen. Und die EU muss ihren Agrarmarkt für Produkte aus Nordafrika und Nahost weiter öffnen.
Auch im Bereich der kontrollierten Einwanderung sollte die EU Angebote machen, die jungen Menschen aus der Region Zugang zu Bildung und Ausbildung bieten. Die restriktive Visa-Politik der Union setzt hier ein falsches Zeichen. Zudem dürfen die Südländer nicht mit der Flüchtlingsproblematik allein gelassen werden. Wenn die Bundeskanzlerin langfristig politische Flüchtlinge in Deutschland nicht aufnehmen möchte, muss sie jetzt beim Aufbau demokratischer Gesellschaften vor Ort mitwirken, um den Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive zu bieten. Das ist die beste Flüchtlingspolitik.
Was derzeit in der arabischen Welt geschieht, ist gut für das Selbstbewusstsein der Bürger dort. Sie handeln aus eigenem Antrieb für das eigene Wohl und sie befreien sich damit zugleich von dem lang gehegten Selbstbild, nur ein Spielball äußerer Mächte und autokratischer Herrscher zu sein. Wenn alles gut geht, werden diese Gesellschaften ein selbstbewussterer und damit zugleich verlässlicherer Partner sein. Dann wären Demokratisierung und Stabilität langfristig keine Gegensätze mehr. Bis dahin ist es allerdings noch ein langer Weg, der ? wie die jüngste Eskalation in Libyen zeigt ? leider auch von blutigen Rückschlägen begleitet werden kann.
Dr. Rolf Mützenich, MdB für den Kölner Nordwesten und außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion