Strategische Neuausrichtung: Europas Antwort auf die Rückkehr von Geopolitik und Geoökonomie
Wir leben in Zeiten großer globaler Veränderungen. Es herrscht wieder Krieg in Europa. Der russische Überfall auf die Ukraine hat nicht nur die sicherheitspolitischen Grundlagen Europas, welche wir mit der Schlussakte von Helsinki 1975 und der Charta von Paris 1990 mühsam errichtet hatten, zerstört, sondern auch eine neue Phase der Ordnung der Welt eingeläutet. Die »Pax Americana« scheint endgültig zu Ende zu gehen. Nach mehreren Jahrhunderten westlicher Dominanz verschiebt sich das globale Machtgleichgewicht in Richtung indopazifischer Raum und jener Länder, die wir einst als »Dritte Welt« bezeichneten. Wir befinden uns längst auf dem Weg hin zu einer multipolaren Ordnung, in der mehrere regionale und globale Machtzentren um Macht und Einfluss konkurrieren.
Die aufstrebenden Länder und Regionen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas fordern gemäß ihrem wachsenden wirtschaftlichen und demographischen Gewicht zu Recht vermehrt eine größere politische Mitsprache auf der Weltbühne ein. Das neue Selbstbewusstsein des Globalen Südens manifestiert sich auch beim Krieg in der Ukraine: Zwar verurteilt die Mehrheit dieser Länder den brutalen Völkerrechtsbruch Russlands, doch sind viele ihrer Regierungen nicht gewillt, die westlichen Sanktionen gegenüber Russland zu unterstützen – darunter selbst demokratische Staaten wie Indien. Der Großteil der Entwicklungs- und Schwellenländer möchte sich nicht in einen Systemkonflikt zwischen dem Westen und Russland – ganz zu schweigen mit China – verwickeln lassen.
Dahinter steht auch die Sorge vor einer erneuten Teilung der Welt in unterschiedliche ideologische und wirtschaftliche Lager. Nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine können wir einen politisch gewollten Trend zur Deglobalisierung und einen Anstieg des Protektionismus beobachten. Vor allem die Corona-Pandemie und die wachsende strategische Rivalität zwischen den USA und China haben den Welthandel und die Globalisierung ins Mark getroffen. All dies geschieht zu einer Zeit, in der die globale Wirtschafts- und Arbeitswelt durch die ökologische und digitale Transformation vor ihrer größten Umstrukturierung seit der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert sowie der Erfindung des modernen Buchdrucks im 15. Jahrhundert steht. Immer mehr wird deutlich: Wir stehen nicht nur vor einer neuen Weltordnung, sondern auch vor einer neuen Weltwirtschaftsordnung, die unser Selbstverständnis, aber auch die Bedingungen unseres Wirtschaftens grundlegend herausfordern wird.
Es ist geradezu paradox: Die Weltgemeinschaft wird derzeit durch multiple globale Großkrisen, wie den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten, dem Klimawandel, der Pandemie und der weltweit wachsenden sozialen Ungleichheit herausgefordert, die eigentlich eine globale Weltinnenpolitik, wie sie Willy Brandt bereits im Nord-Süd-Bericht 1980 entworfen hatte, dringend erfordern würden. Doch statt gemeinsam die großen Menschheitsaufgaben zu lösen, ist die internationale Gemeinschaft heute so gespalten und fragmentiert wie seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr.
In der neuen multipolaren Ordnung sind Geopolitik und Geoökonomie wieder zu den Leitparadigmen der internationalen Beziehungen avanciert. Internationale Regelwerke und Werte spielen in dieser Welt lediglich eine nachgeordnete Rolle. Stattdessen setzen Staaten vermehrt auf pragmatische Beziehungen und transaktionale ad-hoc Bündnisse, die auf Kosten-Nutzen- Analysen beruhen und darauf abzielen, den eigenen Vorteil zu maximieren. Die globale Wirtschaft sowie Fragen der Industrie-, Technologie- und Handelspolitik werden dabei zunehmend geopolitisiert und über sicherheitspolitische Erwägungen definiert. Konflikte werden wieder sowohl durch den Einsatz militärischer als auch ökonomischer, technologischer und finanzieller Machtinstrumente ausgetragen. Zu den wesentlichen Bausteinen dieser neuen Weltordnung gehören auch geopolitische und geoökonomische globale Großprojekte wie Chinas »Neue Seidenstraße«, die »Global Gateway-Initiative« der EU und der auf dem G20-Gipfel in Neu-Delhi im September 2023 beschlossene »Wirtschaftskorridor Indien-Naher Osten-Europa«. Ziel dieser gigantischen Infrastrukturprojekte ist es, den Zugang zu wichtigen Ressourcen zu sichern, neue Exportmärkte zu erschließen und die eigenen Einflusszonen zu vergrößern.
Besonders Europa muss seine Rolle in der Welt angesichts dieses Wandels von einer regel- zu einer auch machtbasierten Ordnung neu definieren. Die EU kann im Wettlauf der Großmächte nur bestehen, wenn sie sich zu einem geopolitischen und strategisch souveränen Akteur weiterentwickelt. Gemeinsam verfügt die EU über einen der größten Wirtschaftsräume der Welt mit rund 450 Millionen Einwohnern. Der sogenannte »Brussels Effect« (Anu Bradford) zeigt, dass die EU durchaus fähig ist, mit ihrer Markt- und Regulierungsmacht globale Standards und Normen zu setzen. Europa hat also gute Chancen, auch in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts ein bedeutender Machtfaktor zu bleiben.
Dafür ist es allerdings notwendig, dass wir jetzt die richtigen Weichen stellen. Die ökologische und digitale Transformation der europäischen Wirtschaft wird signifikante staatliche wie auch private Investitionen erfordern. Die Grundlage hierfür bilden die Vollendung des Binnenmarkts und eine aktive europäische Wirtschafts- und Industriepolitik. Hierzu gehört auch der Schutz des Binnenmarkts vor unfairem Wettbewerb und einseitigen Abhängigkeiten. Es ist daher höchste Zeit, dass Europa endlich eine gemeinsame Wirtschaftsaußenpolitik definiert. Die Krisen und Kriege der vergangenen Jahre haben uns die strategische Verletzbarkeit unserer Wirtschaft durch die Abhängigkeit von globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten sowie bestimmten Rohstoffen immer wieder deutlich vor Augen geführt und die Frage der Versorgungs- und Rohstoffsicherheit in den Vordergrund gerückt. Besonders im Umgang mit China ist es künftig erforderlich, dass wir unsere Handels- und Lieferketten weiter diversifizieren und mögliche Risiken mindern, ohne uns dabei abzuschotten.
Zur strategischen Autonomie Europas gehört auch, dass wir unsere gemeinsamen Verteidigungsfähigkeiten verbessern und ausbauen. Die EU muss schließlich in der Lage sein, sich eigenständig zu verteidigen und ihre geopolitischen und geoökonomischen Interessen in ihrer Nachbarschaft, wie beispielsweise gegenwärtig in der Straße von Bab al-Mandab, zu schützen. Dafür ist es notwendig, dass wir unsere militärischen Kräfte in Europa stärker bündeln und mehr Synergieeffekte und Zusammenarbeit innerhalb der EU und der NATO erreichen. Unser Ziel sollte es sein, die Autonomie Europas in allen wesentlichen strategischen Bereichen zu stärken: Von der Außen- und Sicherheitspolitik bis hin zur Wirtschafts-, Handels-, Technologie-, Finanz- und Währungspolitik.
Strategische Autonomie bedeutet jedoch keineswegs Autarkie oder gar Abschottung. Im Gegenteil: Europa und insbesondere die Bundesrepublik Deutschland als eine international vernetzte Handels- und Exportmacht haben in den vergangenen Jahrzehnten massiv von der Globalisierung und einem auf Regeln basierenden internationalen System profitiert. Diese Art der Globalisierung – mit hohen Wachstumszahlen und niedriger Inflation –mag zwar vorerst vorüber sein. Dennoch sollte die EU alles dafür tun, um den freien Welthandel zu erhalten und sicherzustellen, dass eine multipolare Ordnung keine regellose Ordnung wird.
Darum ist es wichtig, dass wir unsere globalen Partnerschaften weiter intensivieren und ausbauen – vor allem mit unseren westlichen Verbündeten und unseren Partnern im Globalen Süden. Bereits seit seinem Amtsantritt strebt Bundeskanzler Olaf Scholz deshalb ganz bewusst neue und vertiefte Formen der Zusammenarbeit mit den Ländern des Globalen Südens an, wie etwa während der G7-Präsidentschaft oder bei seiner Rede vor den Vereinten Nationen im vergangenen Jahr. Darüber hinaus brauchen wir dringend eine grundlegende Reform der Welthandelsorganisation und der multilateralen Entwicklungsbanken. Gerade angesichts wachsender globaler Spannungen und einem neuen Wettlauf der Großmächte brauchen wir wirkungsvolle multilaterale Institutionen und ein Welthandelssystem, das offen, fair und nachhaltig ist. Wir brauchen eine neue Art der Globalisierung für das 21. Jahrhundert: eine nachhaltige, resiliente und solidarische Globalisierung mit modernen Regeln und neuen Formen der Zusammenarbeit. Das liegt in unser aller Interesse.
Dr. Rolf Mützenich, MdB
Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion