SPD: Solidarität und Verantwortung in der Krise

Die europäische Integration ist die Antwort auf die Katastrophen des 20. und eine Vision für die Chancen des 21. Jahrhunderts. Europa ist mehr als eine Wirtschafts- und Währungsunion. Die Bedeutung Europas als Werte-, Friedens- und Schicksalsgemeinschaft ist vielen Bürgern so selbstverständlich geworden, dass darüber in Vergessenheit geraten ist, dass der europäische Einigungsprozess nicht unumkehrbar ist. Europa erlebt derzeit eine tiefgreifende Zäsur - wenn nicht gar eine Zeitenwende. Die europäische Finanz- und Staatsschuldenkrise ist zu einer Überlebensfrage der europäischen Integration geworden. Die Währungsunion kann nur funktionieren, wenn die Wirtschafts- und Finanzpolitik, ja sogar die Sozialpolitik europäisch koordiniert werden. Weitere politische Integrationsschritte sind ebenso vonnöten, wenn die EU ihre Rolle als globaler wirtschaftlicher und auch außenpolitischer Akteur bewahren bzw. stärken will.

Führungsrolle Deutschlands

Auf der deutschen Politik lastet große Verantwortung für die Zukunft der Europäischen Union (EU). Die Anforderungen und Erwartungen an Deutschland als stärkste Wirtschafts- und politische Führungsmacht der EU sind gestiegen. Dies geht einher mit Befürchtungen und Ängsten vor einer deutschen Hegemonie. Insbesondere in den Hauptstädten kleinerer Staaten herrscht nicht nur die Sorge über ein deutsch-französisches Kondominium, sondern es ist durchaus auch bereits Gegenmachtbildung zu beobachten, bei der Italien eine gewisse Führungsrolle zu übernehmen scheint.

Umso wichtiger wäre es, dass die Bundesregierung ein Mindestmaß an Empathie auch für die kleineren EU Staaten aufbringt. Das Erfolgsrezept der deutschen Außenpolitik, das Mitnehmen auch der kleineren Länder, ist jedenfalls - trotz der vollmundigen Ankündigungen von Außenminister Guido Westerwelle - weitgehend auf der Strecke geblieben. Bei den europäischen Nachbarn wächst die Furcht, dass Berlin nicht mehr ein europäisches Deutschland, sondern ein deutsches Europa anstrebt.

Politische Führung versus Populismus

Zunächst gebietet es die Fairness, zuzugestehen, dass die amtierende Bundesregierung enorme politische Herausforderungen zu bestehen hat. Ihr Handeln ist bislang von zwei grundlegenden Interessenkalkülen geprägt: der europäische Imperativ und die Sorge um die Grenzen der deutschen Belastbarkeit. Um beidem gerecht zu werden, drängt die Bundesregierung auf strukturelle europäische Reformen nach deutschem Vorbild: solide Haushaltspolitik, Wahrung der Geldwertstabilität, Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Im Zuge der Finanzkrise gerät die deutsche Außenpolitik auch in den Sog von Handlungszwängen, die die Entscheidungsspielräume zunehmend einschränken. Dabei verfestigt sich der Eindruck, dass Europas Regierende von Finanzmärkten und Rating-Agenturen von Gipfel zu Gipfel und von Rettungsschirm zu Rettungsschirm getrieben werden. Von Griechenland über Portugal, Irland bis Spanien und Zypern fällt ein Dominostein nach dem anderen.

Die wachsende Unübersichtlichkeit der Thematik und die Komplexität der Entscheidungsprozesse führen dazu, dass im Grunde alle nur auf Sicht fahren. Die Notwendigkeit schneller Entscheidungen trifft auf langfristige Abstimmungsund Entscheidungsprozesse im EU-Rahmen. Bundestag, Bundesrat, Kommunen und das Bundesverfassungsgericht sind ebenfalls Akteure, die mit bedacht werden müssen. Im Verlauf der Krise gewann - nicht zuletzt aufgrund der Mahnungen des Bundesverfassungsgerichts - auch der Bundestag an Gewicht und Einfluss. Unter besonderem Druck befinden sich zweifelsohne die Parlamentarier. Nicht nur die Bevölkerung, auch viele Experten und Abgeordnete können alleine nicht mehr alle Details erkennen und verstehen. Unvorstellbare Summen werden garantiert, gehebelt und verliehen. Im Wust der Hilfs- und Rettungsmechanismen, Milliardenrisiken und Expertenmeinungen scheinen nur noch wenige den Überblick zu behalten. Und die, die ihn noch haben, tun sich immer schwerer, die Zusammenhänge allgemeinverständlich zu erklären. "Mit Ihnen möchte ich nicht tauschen", das ist der Satz, den Abgeordnete am häufigsten hören, wenn sie mit Vertretern der Wirtschaft und des Finanzsektors sprechen. Man muss sich nur in die Lage eines Bundestagsabgeordneten versetzen, der den Bürgern daheim in seinem Wahlkreis erklären soll, warum er milliardenschweren Hilfen für südliche Euro-Länder zustimmt, während in seiner Stadt Schwimmbäder schließen und Kindergärten dicht machen.

Ebenso kritisieren Wirtschaftswissenschaftler, Juristen und andere "Experten" das Verhalten der Politik - aus demokratietheoretischer,1 insbesondere aber aus wirtschaftlicher Perspektive. Letztere sehen nur die mit der Euro-Rettung verbundenen (möglichen) Kosten.2 Zu einer ehrlichen Bilanz gehört aber auch, Belastungen und Vorteile gleichermaßen in den Blick zu nehmen. Wer das beherzigt, erkennt, dass Deutschland nicht nur der ?Zahlmeister Europas? ist, sondern auch von der Währungsunion profitiert.3 In den endlosen Debatten um Geld und Rettungsschirme tauchen plötzlich all jene Stereotype, Ressentiments und nationale Egoismen wieder auf, die längst überwunden schienen.

Zwei Zerrbilder halten sich dabei besonders hartnäckig: Zum einen die offenbar durch nichts zu erschütternde und von Mitgliedern der Regierungskoalition durchaus beförderte Überzeugung der Deutschen, die Krise sei ausschließlich dadurch entstanden, dass "faule Südeuropäer" über ihre Verhältnisse gelebt haben. Demgegenüber verfestigt sich bei vielen Europäern die Ansicht, die "herrschsüchtigen Deutschen" lebten als Profiteure des Euro prächtig auf Kosten der anderen Europäer. Diese politischen Totengräber der europäischen Idee dürfennicht die Oberhand gewinnen.

Es spricht Bände über die Qualität der Debatte und auch der politischen Führung in Deutschland, dass die größten verbalen Brandstifter dabei nicht in der Opposition, sondern in den Regierungsfraktionen zu finden sind. Philipp Rösler, der Bundesvorsitzende der FDP, und Horst Seehofer, CSU-Chef in Bayern, geben sich aus wahltaktischen Gründen zu Lasten der europäischen Idee populistisch. Hingegen sind Sozialdemokraten und Grüne sich ihrer europapolitischen Verantwortung bewusst und verhelfen der Kanzlerin zu Mehrheiten, die sie in ihren Regierungsfraktionen längst nicht mehr hat.

SPD übernimmt Oppositionsverantwortung

Die konstruktive Mitarbeit und Zustimmung der SPD zeigt auch, dass wir unsere Verantwortung für ein solidarisches und handlungsfähiges Europa auch als Oppositionspartei ernst nehmen und nicht wie die Linke sowie Teile von CDU/CSU und FDP in einem billigen Euro-Populismus verfallen. Denn diesen kann sich Europa in dieser kritischen Lage nicht leisten. Durch Übernahme von Verantwortung kann man auch eigene Akzente setzen: Die Tatsache, dass die Bundesregierung der Einführung der Finanztransaktionssteuer nach langem Hin und Her endlich zugestimmt hat, ist wesentlich auf den permanenten Druck von SPD und Grünen zurückzuführen. Die Finanztransaktionssteuer wird nunmehr in mindestens neun EU-Ländern eingeführt. Dies gilt auch für das umfassende Wachstumspaket für Europa.

Die deutsche Sozialdemokratie hat sich nachdrücklich für den Europäischen Wachstums- und Beschäftigungspakt eingesetzt. Wir haben erreicht, dass noch nicht verwendete EU-Strukturfondsmittel nun sinnvoll eingesetzt werden können und die Europäische Investitionsbank gestärkt wird. Man kann die Menschen nur mitnehmen, wenn sie das Gefühl haben, es geht gerecht in Europa zu.5 Den europäischen Bürgern muss vermittelt werden, dass von Europa nicht nur die Banken, die Finanzinstitute, die Reichen und die multinationalen Konzerne profitieren.

Zumal eine der wesentlichen Ursachen der Banken- und Schuldenkrise auch in der seit vielen Jahren gewachsenen Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen begründet liegt. Diese führte dazu, dass Europas Vermögende ihr Geld in gut verzinste Bank-, Immobilien- und Staatsanleihen in Irland, Portugal, Griechenland und Spanien anlegten und damit gigantische Fehlinvestitionen in leer stehende Immobilien, ungenutzte Autobahnen oder aberwitzige Rüstungsprojekte mitfinanzierten. Die Überbrückungskredite aus den Krisenfonds der Euro-Zone sollen nunmehr helfen, diese Staaten und ihre Banken zahlungsfähig zu halten, damit diese wiederum ihre Schulden bei den Fehlinvestoren bedienen können. Mit anderen Worten: "Nicht die Deutschen (oder Holländer, Finnen usw.) retten die Griechen, Iren oder Spanier, sondern die steuerzahlende europäische Mittelschicht rettet das Vermögen der europäischen Reichen."6

Gleichzeitig wächst in ganz Europa die Kluft zwischen Arm und Reich. Wir brauchen deshalb neben einer gemeinsamen europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik auch eine gemeinsame Sozialpolitik. Darin liegt die wichtigste Aufgabe für die europäische Sozialdemokratie ? in enger Zusammenarbeit mit der europäischen Gewerkschaftsbewegung. Die Akzeptanz gegenüber einer vertieften Integration wird dann wachsen, wenn diese Strukturen ein Mindestmaß an Schutz schaffen.

Aber auch international müssen wir uns solidarisch zeigen: Die SPD plädiert für eine gemeinschaftliche Haftung für die Schulden aller Euro-Staaten bei gleichzeitiger strenger gemeinsamer Haushaltskontrolle. Dafür müsste ein Verfassungskonvent eine Grundgesetzänderung erarbeiten, die dann den Bürgern in einer Volksabstimmung vorgelegt werden sollte.

Die SPD plädiert mittel- bis langfristig für folgende konkrete Schritte: Es muss eine Fiskalunion geschaffen werden, also eine gemeinsame Haushaltspolitik, die alle Euro-Staaten zur Transparenz und Ausgabendisziplin zwingt. Eine solche führt dann konsequenterweise auch zu gemeinsamer Haftung, ob durch Euro-Bonds oder durch einen Schuldentilgungspakt. Notwendig ist ferner eine Bankenunion mit einer gemeinsamen Bankenaufsicht und einem Einlagensicherungsfonds für die gesamte Euro-Zone. Schließlich brauchen wir eine politische Union mit gemeinsamer Steuer-, Wirtschafts- und Sozialpolitik - initiiert von einem Europäischen Parlament als vollgültiger Legislative inklusive Haushaltsrecht, mit dem Europäischen Rat als zweiter Kammer, umgesetzt von einer EU-Kommission als europäischer Regierung.7

Denn Entscheidungen dieser Tragweite dürfen nicht intransparenten Fachgremien überantwortet werden, sondern das Ziel muss es sein, eine demokratische Legitimation und Kontrolle auf europäischer Ebene herzustellen. Bislang liegt das EU-Krisenmanagement nahezu vollständig in den Händen des Europäischen Rates, dem exklusiven Club der Staats- und Regierungschefs. Diese verfolgen naturgemäß neben der europäischen auch ihre nationale Agenda - alleinschon deswegen, weil sie zu Hause ihre Wahlen gewinnen möchten.

Die Krise als Chance nutzen

Man sollte bei aller Notwendigkeit zur Integration Europas sehen, dass Europa kein homogener Akteur ist. Zwar sollte nach außen das gemeinsame Interesse der europäischen Nationalstaaten bestehen, mit einer gewichtigeren, sprich europäischen Stimme in der globalisierten Welt zu sprechen. Nach innen konkurrieren diese jedoch um wirtschaftliche und politische Macht.

Die größte Gefahr für den europäischen Integrationsprozess besteht in der bereits beginnenden Renationalisierung - nicht nur in der Wirtschafts- und Währungspolitik, sondern auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Hier hat die Bundesrepublik mit ihrer Enthaltung bei der Libyen-Resolution, als sie ohne Not ihre Außenpolitik innenpolitischen Kosten-Nutzen-Kalkülen unterordnete, viel Vertrauen verspielt.

Eine Konsequenz der Finanzkrise sollte es jedoch sein, die Kräfte der EU auch nach außen zu bündeln. Dies bedeutet den Auf- und Ausbau des europäischen diplomatischen Dienstes, eine kohärentere gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Schaffung von Synergieeffekten der europäischen Rüstungsindustrien. Die europäische Finanzkrise kann dazu führen, dass die Europäer über so genanntes "Pooling and Sharing" endlich Ernst machen mit dem Aufbau einer demokratisch kontrollierten europäischen Armee.8 Es besteht kein Anlass, bei jeder Krise gleich den Untergang des Abendlands an die Wand zu malen. Krisen dienten immer auch als Motor der europäischen Integration. Bei der Außen- und Sicherheits-, der Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik muss man von Europas Politikern jedoch mehr Mut zu Visionen, mehr Bereitschaft zur harten Arbeit der Konsenssuche und weniger Nationalegoismus erwarten.

Die Schlüsselfrage lautet: Wie viel Souveränität wollen die Nationalstaaten zugunsten eines starken, geeinten Europa preisgeben? Die Alternative zur Integration wäre nicht eine Rückkehr zu nationaler Souveränität und Einzelwährungen, sondern eine globale Wirtschaft, die von anderen Staaten (USA, China, Indien, Brasilien etc.) dominiert, und auf die Europa dann keinen Einfluss mehr haben wird. Es geht nicht um die falschen Alternativen "Supermacht Europa" oder Renationalisierung, sondern darum, die Europäische Union in ihrem eigenen Interesse als Modell einer friedlicheren Weltordnung zu stärken.

1 ATTAC spricht in Bezug auf die Abstimmungen über die europäischen Rettungsschirme gar von einem "Ermächtigungsgesetz". Auch die beiden deutschen Großintellektuellen Jürgen Habermas und Hans Magnus Enzensberger formulieren ihre demokratietheoretischen Bedenken über das "sanfte Monster Brüssel". Vgl. Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, Frankfurt/Main 2011 sowie HansMagnus Enzensberger, Sanftes Monster Brüssel, in: Der Spiegel, 9/2011, S. 109.

2 Auch wenn die Kreditbürgschaften für Europas Krisenländer zweifelsohne gewaltig sind, haben sie Deutschland bislang keinen Cent gekostet. Im Gegenteil: Es nimmt für die Hilfsgelder Zinsen ein. Allein für die Griechenland-Hilfen kassierte die Bundesrepublik bis zum Frühjahr 2012 knapp 400 Mrd. Euro an Zinszahlungen. Teuer würde es erst, wenn ein Krisenland seine Kredite nicht mehr bedienen könnte.

3 Etwa 40 Prozent der deutschen Exporte gehen in die Euro-Zone, wodurch in Deutschland mehr als drei Mio. Arbeitsplätze gesichert werden. 2010 belief sich der positive Effekt der Währungsunion für die deutsche Wirtschaft auf 165 Mrd. Euro; das entspricht 6,4 Prozent der Wirtschaftsleistung. Als sicherer Hafen profitiert Deutschland auch von der Krise: Anleger sind bereit, auf Rendite zu verzichten, wenn sie Deutschland Geld leihen. Seit geraumer Zeit muss der Bund für neue Kredite kaum noch Zinsen bezahlen.

4 Auf den ersten Blick konnte die Bundesregierung zwar mit einer breiten Mehrheit für ihre Politik der Vertiefung der EU zur Fiskalunion rechnen, aber die Unterstützung in den Koalitionsfraktionen war durchaus brüchig. Es gelang der Bundeskanzlerin, sie auf ihre Linie einzuschwören, und in der FDP scheiterte ein parteiinterner Vorstoß, die Parteiführung über einen Mitgliederentscheid gegen weitere Hilfsmaßnahmen zu positionieren. Dennoch wurde deutlich, dass in beiden Parteien erhebliche Widerstände gegen die eingeschlagene Politik bestanden.

5 Die Popularität von antieuropäischen und nationalistischen Parteien hält sich noch in Grenzen. Noch ist die Zustimmung zu Europa erstaunlich groß. Die Mehrheit der europäischen Bürger befürwortet nach wie vor die europäische Integration. Vgl. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union, Eurobarometer 77, Frühling 2012, Brüssel, Juli 2012, <http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ eb/eb77/eb77_first_de.pdf> (abgerufen am 20.8.2012).

6 Vgl. Harald Schumann, Vermögende besteuern, europaweit, in: Der Tagesspiegel, 7.8.2012.

7 Vgl. Peter Bofinger, Jürgen Habermas und Julian Nida-Rümelin, Einspruch gegen die Fassadendemokratie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.8.2012, S. 33.

8 Nach wie vor geben die 27 EU-Staaten in etwa die Hälfte des Militärbudgets der USA aus, erreichen aber nur etwa 15 Prozent der Effizienz der amerikanischen Streitkräfte.
 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Außenpolitik in der Wirtschafts- und Finanzkrise
Veröffentlicht: 
Josef Braml, Stefan Mair, Eberhard Sandschneider (Hrsg.), Außenpolitik in der Wirtschafts- und Finanzkrise, Jahrbuch Internationale Politik, Band 29, München 2012, Seite 282-287