SPD: Mit Herz und Verstand gegen die "autoritäre Internationale"
Außenpolitik in einer globalisierten Welt beinhaltet zwangsläufig auch Außenpolitik gegenüber Diktaturen und Autokratien. Denn bei der Mehrheit der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen handelt es sich eben nicht um Demokratien im westlichen Sinne. Laut Freedom House stehen den 88 Demokratien 107 unfreie und autoritäre Staaten gegenüber. Unter diesen Staaten gibt es wiederum schlimme und weniger schlimme, große und kleine, Atom- und Vetomächte, ja mittlerweile sogar EU-Mitglieder. Die Frage, wie man mit ihnen umgehen soll, ohne seine Werte und seine Glaubwürdigkeit zu verspielen, stellt sich auch für die deutsche Außenpolitik. Zumal fast jede der heutigen weltpolitischen Krisen von Nordkorea über die Krim bis hin zum Irak, Iran und zu den Konflikten im südchinesischen Meer entweder direkt durch einen autokratischen Staat ausgelöst wurde oder aus dem Machtvakuum resultiert, welches der Sturz eines autokratischen Systems meist nach sich zieht.
Demokratie auf dem Vormarsch oder Rückzug?
Der Anfang der 1990er Jahre noch als sicher geltende Siegeszug der liberalen Demokratie hat sich längst als Illusion herausgestellt. Mittlerweile lässt sich gar eine "Reautoritarisierung" vieler Staaten beobachten. Im Vergleich zum Jahr 2000 wird deutlich, dass die Demokratieentwicklung seit Längerem weltweit stagniert. So verweist Freedom House darauf, dass die Demokratie in der Periode von 2002 bis 2005 zwar ein wenig an Boden gewann, seit 2005 jedoch weltweit zurückgeht. Demgegenüber wächst vor allem die Zahl der defekten Demokratien und jener Länder, die autoritär regiert werden und in denen die Grundrechte gefährdet sind. Auch sind bislang als anachronistisch abgetane Militärputsche in den vergangenen Jahren zurückgekehrt. Zwischen 2006 und 2013 ergriff das Militär die Macht in Guinea, Honduras, Mauretanien, Niger, Guinea-Bissau, Mali, Bangladesch, Thailand, Fidschi, Ägypten und Madagaskar. In Mexiko, Pakistan, Ecuador und den Philippinen startete das Militär zwar keinen Putsch, schaffte es aber, seine Rolle als zentraler Akteur des politischen Lebens zurückzugewinnen.
Wird man also, rückblickend, dem deutschen Soziologen und Politiker Ralf Dahrendorf zustimmen müssen, der schon Ende des 20. Jahrhunderts vorhersagte: "Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert?" Hier sollte man nicht voreilig schwarzmalen, sondern die langfristigen Trends sehen. Auch wenn die Globalisierung der liberalen Demokratie in den vergangenen Jahren stagniert, ist sie nach wie vor das attraktivste Regierungsmodell. Und wenn man sich nicht nur die jüngste Vergangenheit, sondern die Tendenz seit 1990 oder gar seit 1945 anschaut, so ist die Demokratie immer noch auf dem Vormarsch. Es gibt also keinen Grund für Pessimismus oder gar Defätismus. Allerdings ist die Entwicklung zu mehr Demokratie kein Selbstläufer.
Aus Fehlern lernen
Es gibt im Umgang der demokratischen Staaten gegenüber Autokratien zweifelsohne auch weniger ruhmreiche Kapitel. So wird bis heute sehr oft mit zweierlei Maß gemessen, frei nach der Devise des Kalten Krieges: "Er ist zwar ein Verbrecher, aber es ist unser Verbrecher." Der Freiheitskämpfer der einen war oft genug der Terrorist der gegnerischen Seite. Nach dieser Logik wurden die afghanischen Mudschahedin gegen die damalige Sowjetunion aufgerüstet und der Irak Saddam Husseins gegen den Iran des Ajatollah Khomeini. Die Folgen und Spätfolgen dieser Unterscheidung zwischen "guten" und "schlechten" Autokratien sind bekannt. Auch die westliche Politik gegenüber Syriens Diktator Assad ist alles andere als ein Ruhmesblatt.
Hinzu kommt: Während man "kleine" Diktatoren oftmals sanktionierte oder stürzte, macht man mit den "großen" in der Regel weiterhin Geschäfte - oft genug auch mit Rüstungsgütern.
Deutschland und der "Westen" müssen deshalb eine verantwortliche Rüstungsexportpolitik betreiben. Denn es unterminiert die eigene Glaubwürdigkeit enorm, wenn man die Demokratie im Munde führt, gleichzeitig aber Waffen an Diktatoren verkauft, bei denen es wahrscheinlich oder zumindest nicht ausgeschlossen ist, dass diese die Waffen gegen ihr eigenes Volk einsetzen oder damit Konflikte in ihrer Nachbarschaft anheizen. Es ist deshalb höchste Zeit, Rüstungsexporte an undemokratische Nicht-NATO-Staaten und in Konfliktgebiete drastisch zu reduzieren, wenn möglich sogar ganz zu beenden - selbst wenn diese vermeintliche Stabilität garantieren.
Stabilität versus Anarchie?
Im Nachrichtenmagazin Der Spiegel hat etwa Christiane Hoffmann die alte Debatte wieder aufgenommen, ob stabile Autokratien nicht das kleinere Übel sind: "Die Weltpolitik wird in Zukunft weniger vom Gegensatz zwischen demokratischen und autokratischen Staaten bestimmt sein als vom Gegensatz zwischen funktionierenden und versagenden Staaten."
Dieser Befund ist jedoch in vielerlei Hinsicht falsch. So wird die Weltpolitik sehr wohl vom Kampf zwischen Demokratie und Autokratie bestimmt - sei es in der Ukraine, in der Türkei oder in Hongkong. Zudem sind Diktaturen eben zumeist keine "Horte der Stabilität", sondern erzeugen systematisch Anarchie und Zonen der Instabilität: Russland in Transnistrien, Georgien und der Ukraine; Saudi-Arabien, Katar und der Iran in der arabischen Welt, China im ost- und südchinesischen Meer. Zudem sind die politischen und wirtschaftlichen Probleme autokratischer Krisenstaaten meist so massiv, dass nur ein systemischer Wandel langfristig stabilisierend wirken kann. Doch genau hierzu sind autokratische Regime, deren Hauptinteresse kurzfristiger Machterhalt und Bereicherung sind, eben nicht bereit.
Gleichwohl werden im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise die Vorzüge der "guten", ökonomisch stabilen (Entwicklungs-)Autokratien und Diktaturen in der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte gepriesen. So bietet laut Michael Spence, dem Wirtschaftsnobelpreisträger von 2001, ein "wohlwollend autoritäres System" die optimalen Voraussetzungen für langfristiges Wirtschaftswachstum, da Demokratien innerhalb eines "zu kurzen Zeithorizonts" agierten. Wahlen sind demzufolge ein ökonomischer Standortnachteil, während Diktaturen, von der Stimme des Volkes ungestört, effizient planen, arbeiten und wirtschaften können.
Doch warum hat die "autoritäre Internationale" Zulauf? Ist ein Kommandostaat, rein funktional gesehen, wirklich die bessere Antwort auf den Anpassungszwang der Märkte als die "alte" Demokratie? Erzeugt die scheinbar alternativlos vernetzte globale Welt eine kulturkonservative Gegenmoderne, und damit verbunden die Sehnsucht nach dem starken Mann? Auch in den neuen Mitgliedstaaten der EU ist der Rückhalt für Demokratie als Regierungsform seit 2006 zurückgegangen - nicht nur in Ungarn haben die Autoritären wieder Konjunktur. Traditionell ging der Weg über Putsch oder "Machtergreifung", neuerdings werden sie von der Mehrheit des (zur Wahl gehenden) Volkes gewählt. In Gaza, in Ägypten, in Venezuela, Bolivien, Ecuador und nicht zuletzt in Russland sind die populistischen Alleinherrscher teilweise legal an die Macht gekommen, aber auch unter Einsatz von Manipulationen und Gewalt.
Wenn nicht alles täuscht, stehen wir vor der Frage, ob das weitgehend grenzenlose Europa in Zukunft geprägt sein wird von demokratischen und rechtsstaatlichen Werten, wie sie der Westen zumindest im Prinzip seit Jahrzehnten vertritt, oder ob diese Werte Stück für Stück abgelöst werden durch ein autoritäres Gesellschaftsbild, für das keineswegs nur Putins "lupenreiner Autoritarismus" steht - wie der Vormarsch der Populisten bei den letzten Europawahlen gezeigt hat.
Mehr Selbstbewusstsein im Umgang mit Autokratien
Der demokratische Westen muss sich nicht verstecken, sondern sollte im Gegenteil seine universellen Werte offensiv vertreten. Die westlichen Werte der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789, die Ideen der Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts und die Idee der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie haben auch heute noch eine ungeheure Anziehungskraft. Überall berufen sich Menschenrechtsaktivisten auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen von 1948, durch die die westlichen Werte, zumindest auf dem Papier, globalisiert wurden.
Zudem hat sich der Begriff der staatlichen Souveränität im Laufe der Zeit geändert. Auf der internationalen Menschenrechtskonferenz 1993 in Wien haben alle UN-Mitgliedstaaten unterschrieben, dass die Wahrung der Menschenrechte nicht nur eine interne Angelegenheit der Staaten, sondern auch ein legitimes Anliegen der Staatengemeinschaft ist. Derselben Logik folgt der Beschluss der Vereinten Nationen von 2005, einen neuen Menschenrechtsrat zu schaffen, sowie der Grundsatz der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect), das Interventionsrecht der Staatengemeinschaft bei schweren Menschenrechtsverletzungen. Diktaturen und Autokratien können sich also immer weniger hinter ihrer staatlichen "Souveränität" und dem Nichteinmischungsgebot verstecken.
Demokratie als politisches Modell ist potenziell universell. Und sie berücksichtigt kulturelle Eigenheiten weit stärker als Diktaturen. Deshalb verbietet es sich, die universelle Geltung der Menschenrechte mit dem kulturrelativistischen Argument zu bestreiten, weil die Menschenrechte ein Produkt des Westens seien, hätten nur diejenigen Menschen darauf Anspruch, die in westlichen Demokratien lebten.
Zum normativen Defizit dieses "realpolitischen" Arguments tritt ein empirisches hinzu. Denn die Stärke der Kräfte, die auf Veränderung drängen, wird regelmäßig unter- und die Stabilität autoritärer Regime überschätzt. Das war in den 1980er Jahren so, als in Polen Solidarnosc das Kriegsrecht überlebte und schließlich aus dem Machtkampf mit dem kommunistischen Regime als Sieger hervorging. Und es spricht manches dafür, dass auch in Russland und China die Machtverhältnisse weniger festgefügt sein könnten, als viele "Realpolitiker" meinen.
Es gibt kein autoritäres Modell, das der Demokratie gewachsen oder gar überlegen wäre.
Autokratien sind nämlich normalerweise gerade keine effizienten, professionellen und modernen Systeme. Sie sind in der Regel geprägt durch Korruption und Kleptokratie sowie durch eine Willkürherrschaft, die zusammen mit der politischen Freiheit auch die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung ruinieren. Die allermeisten Autokratien und Diktaturen leisten nichts von dem, was ein Staat leisten soll. Sie gewährleisten nicht die Ausbildung ihrer Kinder und Jugendlichen, keine soziale Sicherheit, keine unabhängige Rechtsprechung und keine Verwaltung ohne Bestechung und "Beziehungen". Das Einzige, worin diese Regime sich auszeichnen, sind die Unterdrückung und Ausbeutung ihrer Bürger.
Demokratische Staaten haben deshalb allen Grund für eine selbstbewusste Außenpolitik gegenüber Autokratien. Wir brauchen zwar noch immer die Nichtdemokraten und Scheindemokraten zur Lösung internationaler Probleme, sie uns aber auch.
Liberale Demokratie muss man im Übrigen auch niemandem aufzwingen. Wenn Menschen die Wahl haben, entscheiden sie sich eben nur in den seltensten Fällen für diktatorische Herrscher, die die natürlichen und menschlichen Ressourcen des Landes zu eigenen, privaten Zwecken unter Einsatz von Gewalt ausbeuten. Denn der Wunsch, "anständig" regiert zu werden, ist universal.
Was tun?
Wie sollte deutsche Außenpolitik mit Autokraten umgehen? Welche Mittel sind geeignet? Welche Instrumente stehen zur Verfügung? Welche Rolle können Menschenrechtsdialog oder Sanktionen spielen? Stützen wir Kräfte und Strömungen, die einen Wandel stärken oder sind wir Teil der Kräfte der autokratischen Beharrung? Führt Annäherung zum Wandel, oder sind mehr Distanz und Auseinandersetzung angebracht? All dies sind konkrete Fragen, die sich der deutschen Außenpolitik stellen.
Die "klassische" sozialdemokratische Antwort auf (einige) dieser Fragen ist das Konzept "Wandel durch Annäherung", das der deutschen Entspannungs- und Ostpolitik der 1960er und 1970er Jahre zugrundelag und maßgeblich von Egon Bahr entwickelt wurde. Der Erfolg der sozialdemokratischen Entspannungspolitik hat aber auch gezeigt, dass Stabilität ohne Freiheiten und Rechte nicht von Dauer ist. Deals mit illegitimen und undemokratischen Herrschern sind unvermeidbar; aber man kann und sollte sie so gestalten, dass sie perspektivisch auf Öffnung und Transformation zielen. Eine selbstbewusste Außenpolitik muss sich zwischen Regime und Gesellschaft nicht entscheiden. Die Entspannungspolitik hat im Ostblock durch geschicktes Verhandeln mit den Herrschern das Erblühen der Zivilgesellschaft mit ermöglicht. Sie darf sich jedoch nicht von dieser abwenden, wenn diese beginnt, die herrschende Klasse herauszufordern.
Letztendlich gibt es kein Patentrezept für den Umgang mit autokratischen Staaten. In vielen Fällen ist Dialog der richtige Weg, teils sind Sanktionen, im Extremfall womöglich gar militärisches Eingreifen nötig. Allen diesen Optionen ist jedoch eines gemeinsam: Sie können nur auf Grundlage einer realistischen Einschätzung des Gegenübers und seiner Positionen erfolgreich sein. Dabei hat die Vergangenheit gezeigt, dass Sanktionen allein nur selten (beispielsweise im Falle Südafrikas) wirksam sind, wie die Fälle Kuba und Iran zeigen, die seit fast 50 respektive 30 Jahren unter Sanktionen der USA stehen. Und die Verbreitung von Demokratie durch militärische Intervention und von außen herbeigeführte Regimewechsel dürfte spätestens seit dem Irak-Krieg keine erstrebenswerte Form der Außenpolitik mehr sein.
Außenpolitik mit Autokratien muss von Fall zu Fall ausgelotet werden. Während sich in der Türkei und Tunesien eine Strategie der gezielten Unterstützung anbietet, dürfte gegenüber Iran und Russland eine Mischung aus Sanktionen und Kooperationsangeboten bei Verhaltensänderungen erfolgversprechender sein. Wenn ein autoritärer Staat zur Erreichung eines strategischen Zieles gebraucht wird, dann muss man mit ihm verhandeln - etwa mit Iran und Nordkorea. Auch die Stabilisierung des Mittleren Ostens dürfte ohne die Einbeziehung der autoritären Regionalmacht Iran kaum möglich sein. Ebenso klar ist, dass eine langfristige Stabilitätspolitik in Europa auch einer strategischen Beziehung zwischen Russland und der EU bedarf, auch wenn diese durch das Verhalten Russlands in der Ukraine-Krise einen schweren Rückschlag erlitten hat. Im Umgang mit autoritären Staaten - gerade mit Groß-, Veto- und Nuklearmächten - helfen oft nur Verhandlungen und Angebote. Gegenüber autoritären nuklearen Weltmächten und Großmächten wie China und Russland, die zudem noch Vetomächte im UN-Sicherheitsrat sind, wird man anders Außenpolitik betreiben müssen, als beispielsweise gegenüber Serbien unter Slobodan Milosevic. Die Europäische Union hat gegenüber dem EU-Mitglied Ungarn andere Einflussmöglichkeiten als gegenüber Weißrussland oder Kasachstan.
Deutsche Außenpolitik muss sich häufig der unbequemen Realität stellen, dass, wenn autokratische Eliten ihr Land in den Abgrund regieren, Deutschland auch mit all seiner Soft und Hard Power nichts dagegen tun kann. Deutsche Außenpolitik sollte deshalb versuchen, sich auf mögliche Krisen vorzubereiten. Die deutsche und die "westliche" Politik sollten gewaltlose Demokratiebewegungen, den Einsatz für Pluralität, Meinungsfreiheit, Rechtssicherheit und Minderheitenschutz unterstützen. Dafür brauchen sie Geld, Schutz und Parteinahme auf höchster Ebene. Dazu kann auch der Erlass von Altschulden eines ehemals autoritären Regimes oder die verstärkte Zusammenarbeit beim Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen gehören.
Manchmal bieten sich auf parlamentarischer Ebene Chancen, die auf Regierungsebene so nicht möglich sind. Stille Diplomatie kann in der Regel mehr erreichen als "Schaufensterpolitik". Kontakte unter dem Radar der Öffentlichkeit gilt es zu nutzen und auszubauen. Dies ist zumeist effizienter als medienwirksame Empörung, die in erster Linie auf die Erbauung des heimischen Publikums abzielt.
Im Umgang mit Diktaturen und Autokratien ist es zudem oft sinnvoll, wenn nicht immer die Regierungen am lautesten vorangehen. Hier eröffnet sich vielmehr den zivilgesellschaftlichen Organisationen ein weites Feld. Demokratie ist kein Exportartikel; sie muss von Innen aus den jeweiligen Gesellschaften heraus wachsen. Hier spielen die politischen Stiftungen, ebenso wie zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, eine entscheidende und oft unterschätzte Rolle.