Scheitert die internationale Gemeinschaft in und an Afghanistan?
Die internationale Staatengemeinschaft bemüht sich seit nunmehr fast neun Jahren um eine Stabilisierung Afghanistans. Auch wenn es seit 2001 unbestreitbare Erfolge gibt, führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass das internationale Engagement in Afghanistan sich in einer kritischen Phase mit offenem Ausgang befindet. Zu einer kritischen Bilanz gehört auch, die Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit klar zu benennen. Dabei nutzt es überhaupt nichts, mit dem Finger ausschließlich auf die USA zu zeigen, zumal durchaus auch einige selbstkritische Anmerkungen hinsichtlich des deutschen Engagements hier angebracht sind.
Die Fehler der Vergangenheit. Zu ehrgeizig, zu wenig und zu spät
Seit Beginn des Afghanistan-Einsatzes 2001 betont die SPD zu Recht, dass der politische und wirtschaftliche Aufbau der Schwerpunkt des internationalen Engagements sein muss. Ziel bleibt es, die Eigenverantwortung Afghanistans zu stärken und damit die Voraussetzungen für ein Ende des militärischen Engagements zu schaffen. Ohne funktionierende Verwaltung, ohne Justiz, Polizei, Schulen und Wirtschaftswachstum kann eine Stabilisierung Afghanistans nicht gelingen. Während die meisten Europäer nicht müde wurden, die Bedeutung der zivilen Komponente zu betonen und den Amerikanern eine zwanghafte Fixierung auf das Militär vorzuwerfen, missachten sie die eigenen Maximen zumeist sträflich. Italien, dass sich um den Aufbau der Justiz kümmern sollte versagte ebenso wie Deutschland beim Polizeiaufbau und Großbritannien bei der Drogenbekämpfung: Die Justizreformen blieben Stückwerk. Mehrere Nationen weigerten sich, ihre Truppenkontingente auch zur Verfolgung der Drogenbarone einzusetzen. Die Deutschen bildeten viel zu wenige Polizisten aus, weil sie nur eine Handvoll Berater schickten . Erst 2007 übergab man die Verantwortung für die Polizeiausbildung der EU, die seither eine multinationale Polizeimission unterhält.
Diese Beispiele zeigen exemplarisch, dass mehrere Jahre durch den Mangel an Personal und Ressourcen vergeudet wurden - Jahre, welche die Taliban nutzten.
Die Londoner Konferenz neue Strategie als letzte Chance?
Wenn Konferenzen über das Schicksal von Afghanistan entschieden hätten, dann wäre das Land schon lange ein Hort des Friedens und eine Oase der Prosperität. Denn die Zahl der Afghanistan-Konferenzen seit Petersberg 2001 ist beeindruckend - ebenso wie die dort gefassten Strategien und Beschlüsse, an deren Umsetzung es dann jedoch meist haperte.
Angesichts der sich in den letzten Jahren ständig verschlechternden Sicherheitslage stellte die Konferenz in London Anfang des Jahres quasi den letzten Versuch dar, das Blatt zu wenden und den Afghanistan-Einsatz vor dem Scheitern zu bewahren. Dort kamen am 28. Januar 2010 Vertreter der 43 ISAF-Staaten mit dem afghanischen Präsidenten, Hamid Karsai, sowie Vertretern unmittelbarer Nachbarländer und internationalen Organisationen zusammen, um eine neue Strategie für Afghanistan zu beschließen. Die Teilnehmer legten sich darauf fest, die ausländischen Truppen und Finanzen aufzustocken. US-Präsident Barack Obama kündigte an, die amerikanischen Truppen bis Mitte 2010 um weitere 30.000 Soldaten zu verstärken, während sich die NATO-Partner dazu verpflichteten, 9.000 zusätzliche Soldaten zu schicken.
Die Aktionen der Aufständischen konzentrieren sich nach wie vor im Süden und Osten Afghanistans, entlang der Grenze zu Pakistan. Aber es gibt unterdessen auch im Westen und Norden «Hot Spots». Das Gros der 30.000 zusätzlichen amerikanischen Soldaten wird in diese «Hot-Spots» entsandt. Sie werden übrigens vollständig der ISAF unterstellt. Daneben gibt es in Afghanistan durchaus auch spannungsarme Gebiete, in denen den afghanischen Sicherheitskräften rasch die Verantwortung für die Sicherheit übertragen werden könnte.
Zum ersten Mal seit dem Sturz der Taliban im Jahre 2001 hat die Allianz in London eine kohärente Strategie für Afghanistan formuliert, die mit den Begriffen "Staatsaufbau, Aufstandsbekämpfung und Afghanisierung" charakterisiert werden kann. Dies bedeutet, dass die Taliban in ihren Hochburgen militärisch effektiver bekämpft werden soll. Gleichzeitig will die Nato die Bevölkerung besser schützen und so den zivilen Aufbau möglich machen. Die Mittel für diesen erhöhen sich auf fast das Doppelte. Bis 2013 sollen jährlich 430 Millionen Euro in neue Straßen, Schulen und andere Projekte fließen.
Die neue Strategie beinhaltet zugleich das Eingeständnis, dass der bisherige Ansatz gescheitert ist. Dass sich die Sicherheitslage in den vergangenen beiden Jahren immer weiter verschlechtert hat, war der entscheidende Grund für den Neuansatz, in dem nun der militärische Schutz der Bevölkerung, die Ausbildung einheimischer Sicherheitskräfte und der Aufbau ziviler Infrastruktur im Vordergrund stehen sollen.
Erschwerend hinzu kommt, dass der bisherige Oberbefehlshaber, General McChrystal, am 26. Juni 2010 entlassen wurde, nachdem er sich in einem Interview abfällig über US-Regierungsmitglieder geäußert hatte. Als sein Nachfolger wird nun McChrystals bisheriger militärischer Vorgesetzter das Kommando am Hindukusch übernehmen. David Petraeus schaffte im Irak vor allem durch die massive Bestechung sunnitischer Stammesführer und die dadurch erkaufte Spaltung des irakischen Widerstands gegen die US-Truppen eine relative Befriedung der Lage. Fraglich ist jedoch, ob die im Irak so erfolgreiche Politik mit dem Geldkoffer auch mit den Taliban in Afghanistan funktioniert. Dem Vorbild der Amerikaner im Irak folgend, das General Petraeus Anleitungen zur Aufstandsbekämpfung (Counter-Insurgency) folgt, wollen die ISAF-Truppen Territorium von Aufständischen säubern, es halten und dann mit dem Wiederaufbau beginnen (?clear, hold, build?). Im Unterschied zur sowjetischen Strategie in den achtziger Jahren soll sich der Schutz der internationalen Truppen nicht nur auf Schlüsselstädte beschränken, sondern auf alle Gebiete mit größerer Bevölkerungskonzentration, sowie auf wichtige Infrastrukturanlagen und Entwicklungsprojekte. Das wichtigste Ziel ist dabei, die Aufständischen von der Bevölkerung zu trennen.
Falls die Bundesregierung entscheidet, sich an der Aufstandsbekämpfung zu beteiligen, muss sie die Karten auf den Tisch legen. Denn eines ist auch klar: Die Umsetzung der neuen Strategie birgt mehr Risiken für Leib und Leben der Soldatinnen und Soldaten. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man den Einsatz nun "Krieg", "nicht-internationalen bewaffneten Konflikt" oder "Stabilisierungsmission" nennt.
Dabei ist man sich durchaus bewusst, dass dies nicht mit militärischen Mitteln alleine geschehen kann. Vielmehr muss der Bevölkerung bewiesen werden, dass korrupte Beamte, Aufständische und Drogenbanden mit ihren Verbindungen zum Terrorismus wirksam neutralisiert werden können, damit an ihre Stelle eine effektive Verwaltung und Regierungsführung treten können.
Wie realistisch ist die neue Strategie? Die Londoner Beschlüsse senden auch eine Reihe widersprüchlicher Signale aus: So sollen die Taliban zugleich bekämpft und eingebunden werden. Fraglich ist auch, ob ein verstärktes Engagement für die Ausbildung der afghanischen Armee schnell zum Erfolg führen wird. Die knapp 100.000 Soldaten sind noch weit davon entfernt, eine einsatzfähige Armee zu sein. In nur wenigen Jahren sollen sie auf die doppelte Stärke anwachsen, um so den internationalen Truppen den Abzug zu ermöglichen. Ob innerhalb so kurzer Zeit tatsächlich eine funktionierende Armee mit effizienten Führungsstrukturen und fähigem Offizierskorps aus dem Boden gestampft werden kann, scheint fraglich.
Seit der Ankündigung Präsident Obamas, die amerikanischen Truppen in Afghanistan um 30.000 Militärangehörige zu verstärken und im Juli 2011 mit einem Abzug zu beginnen, wachsen in den Vereinigten Staaten die Zweifel an dem Erfolg der Truppenaufstockung und an dem Zeitplan. Denn bisher hat die neue Strategie bisher keine spürbare Verbesserung der Sicherheitslage gebracht. Die groß angelegte ISAF-Offensive im umkämpften Süden geht quälend langsam voran, ebenso der Aufbau staatlicher Strukturen, mit dem die Alliierten den nachhaltigen Sieg über die Taliban erringen wollen. Darüber hinaus entwickelt sich die Politik von Präsident Karsai gegenüber dem Westen und im eigenen Land immer mehr zu einem Unsicherheitsfaktor.
Ende des Jahres soll eine erste Bilanz gezogen werden, ob die neue Strategie den geplanten Beginn eines Abzugs im Sommer 2011 möglich macht. Das Ziel, die Verantwortung etappenweise an die afghanischen Sicherheitskräfte abzugeben, ist jedenfalls klar definiert, und auch der Weg dahin ist vorgezeichnet. Was nun dringend benötigt wird, sind bindende Engagements der Staatenwelt, die nötigen Mittel auch auf dem Gebiet des zivilen Wiederaufbaus zur Verfügung zu stellen.
Anders als in der Vergangenheit gibt es seit London immerhin ein gemeinsames internationales Konzept, in dem die militärische Strategie zum Schutz der Bevölkerung und die Maßnahmen zum Wiederaufbau des Landes zusammengedacht und aufeinander abgestimmt werden
Ausbildung der afghanischen Polizei und Armee als neuer Schwerpunkt
Die SPD unterstützt besonders den massiven Ausbau bei der Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte. Nur so lassen sich die Voraussetzungen für einen Abzug der ISAF-Truppen bis spätestens 2015 schaffen. Dazu brauchen wir allerdings mehr und besser koordinierte zivile Hilfe. Europa und Deutschland müssen endlich ihre Zusagen beim Polizeiaufbau erfüllen und 2000 Polizisten - davon 500 aus Deutschland - entsenden. Seit 2002 war Deutschland mit der Reform der afghanischen Polizei (ANP) betraut. Mit dem Einsatz von zwölf Millionen Euro und 40 Polizisten jährlich entstand bis 2007 eine Ausbildungsakademie für Führungskräfte, und die Organisationsstruktur der ANP wurde reformiert. Das eigentliche Ziel aber, eine funktionsfähige Polizei mit 62.000 Bediensteten aufzubauen, wurde weit verfehlt. Nur 5.000 Polizisten des mittleren und gehobenen Dienstes wurden in dieser Zeit von deutschen Beamten aus- und 14.000 weitere fortgebildet. Weder wurden dringend benötigte Streifenpolizisten ausgebildet, noch das notorisch korrupte und in den Drogenhandel involvierte afghanische Innenministerium reformiert.
Die Stärkung der afghanischen Nationalpolizei sollte ein zentraler Fokus der deutschen Afghanistanstrategie bleiben. Hier muss Deutschland die Mittel für die EU Polizeimission in Afghanistan (EUPOL) erheblich ausweiten und dafür werben, dass die beteiligten Staaten ihrer Verpflichtung zur Entsendung von Polizeibeamten nach Afghanistan nachkommen. Vor allem muss Deutschland sich dafür einsetzen, dass für EUPOL mehr Polizeiausbilder zur Verfügung stehen und die Zahl der Ausbilder von 123 auf 200 erhöht wird.
Zudem soll die afghanische Armee von heute 90 000 bis Ende 2010 auf 134.000 Mann ausgebaut werden und im Jahr 2011 insgesamt 240.000 Soldaten zählen. Dies ist ein sehr ehrgeiziges Ziel und zugleich Grundlage für den geplanten Beginn des amerikanischen Rückzugs ab Juli 2011. Unser Ziel muss es sein, mit dem Rückzug parallel zum schrittweisen Rückzug der US-Streitkräfte zu beginnen. Die afghanische Regierung sollte bei ihrem ehrgeizigen Ziel bis 2014 eigenverantwortlich für die Sicherheit im Lande zu sorgen, nachdrücklich unterstützt werden. Ziel der Truppenaufstockung ist es, die afghanische Armee, Polizei und Regierung zu stärken und die Sicherheitsverantwortung schrittweise an die Afghanen zu übergeben. Die Zahl der einheimischen Sicherheitskräfte soll bis Oktober 2011 auf 300.000 ansteigen. Zurzeit sind es 180.000 Mann. 2011 soll auch der Abzug der internationalen Truppen beginnen.
Neben der Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte ist ein Aussteigerprogramm für Taliban-Kämpfer geplant, das mit Hilfe eines internationalen Fonds von etwa 350 Millionen Euro finanziert werden soll. Das Programm soll radikale Taliban motivieren, ihre Waffen niederzulegen und ein ziviles Leben aufzunehmen. Das Geld soll Ausbildung und dauerhafte Beschäftigungsmöglichkeiten ermöglichen. Nebenbei: Als der damalige Vorsitzende der SPD, Kurt Beck, die innerafghanische Versöhnung unter Einbeziehung moderater Taliban forderte, erntete er von Seiten der Union Hohn und Spott u.a. von Herrn zu Guttenberg, der hierzu bemerkte, dass "niemand je einen vernünftigen Taliban getroffen hätte". Als Verteidigungsminister unterstützt er mittlerweile diese sinnvolle Strategie und lässt sich von der deutschen Öffentlichkeit dafür auf die Schulter klopfen, dass er den Konflikt in Afghanistan Krieg nennt, was nicht besonders mutig, sondern allenfalls kokett ist.
Das Vertrauen der afghanischen Bevölkerung werden wir nur dann behalten (oder wieder gewinnen), wenn wir vor Ort stärker präsent sind und wenn wir unsere Selbstverpflichtungen - etwa bei Ausbildung und Aufbau - endlich einlösen.
Voraussetzungen für einen Abzug im Zeitkorridor 2013 bis 2015 schaffen!
Mit dem neuen Mandat der Bundeswehr wird auch auf Druck der Sozialdemokraten erstmalig ein Strategiewechsel hin zu einem Abschluss der Afghanistan-Mission eingeleitet. Mit mehr Hilfen für den zivilen Wiederaufbau und einem stärkeren Engagement zur Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte soll muss die Grundlage geschaffen werden, um ab 2011 den Abzug deutscher Soldatinnen und Soldaten einzuleiten, der im Einklang mit den Plänen der afghanischen Regierung zwischen 2013 und 2015 abgeschlossen werden kann. Es kommt nun darauf an den Abzug - unabhängig davon ob dieser schon 2011, 2013 oder später beginnen wird ? vorzubereiten und zu planen, damit dieser nicht ebenso improvisiert und planlos erfolgt, wie der Einsatz begonnen wurde.
Gegen einen sofortigen Truppenabzug spricht, dass Afghanistan wie nach dem sowjetischen Truppenabzug im Februar 1989 sofort in einen blutigen Bürgerkrieg zurückfallen würde. Nicht nur das Regime Karzai verlöre Unterstützung und Schutz, auch viele afghanische Mitarbeiter der internationalen Gemeinschaft würden der Kollaboration bezichtigt und an Leib und Leben bedroht. Die erreichten Fortschritte Verfassung, Bildungsreform, Aufbau von Schulen und die Rückkehr von fünf Millionen Flüchtlingen würden zunichte gemacht. Ein neuer Exodus drohte. Aber entschieden wird die Zukunft Afghanistans eben nicht durch Krieg und Militär, sondern durch Stabilisierung und zivilen Aufbau, insbesondere bei der Reform der Justiz und Polizei und bei der wirksamen Bekämpfung der Korruption.
Eines sollte klar sein: Die Entscheidung über Erfolg oder Misserfolg der Mission fällt in Washington, dort wurde der Einsatz vor neun Jahren beschlossen, dort wird auch sein Ende besiegelt. Gegen einen sofortigen Truppenabzug spricht, dass Afghanistan wie nach dem sowjetischen Truppenabzug im Februar 1989 sofort in einen blutigen Bürgerkrieg zurückfallen würde. Nicht nur das Regime Karzai verlöre Unterstützung und Schutz, auch viele afghanische Mitarbeiter der internationalen Gemeinschaft würden der Kollaboration bezichtigt und an Leib und Leben bedroht. Die erreichten Fortschritte Verfassung, Bildungsreform, Aufbau von Schulen und die Rückkehr von fünf Millionen Flüchtlingen würden zunichte gemacht. Ein neuer Exodus drohte. Wer wie die LINKE in Deutschland gedankenlos den sofortigen Abzug aller internationalen Truppen aus Afghanistan fordert, handelt deshalb unverantwortlich und nimmt einen neuen Bürgerkrieg, einen neuen internationalen Gefahrenherd Afghanistan und das Ende jeglicher Bemühungen, den Menschen im Lande eine Perspektive zu bieten in Kauf.
Sowohl der unverzügliche Abzug aus dem Land als auch das dauerhafte Verbleiben ohne eine Abzugsstrategie sind der falsche Weg. Es gilt jetzt die politischen Grundlagen für einen Abzug aus Afghanistan zu schaffen. Entscheidend wird sein, ob es der internationalen Gemeinschaft in der von ihr selbst gesetzten Frist von zwei bis fünf Jahren gelingen wird, die Voraussetzungen für eine halbwegs funktionierende Staatlichkeit zu schaffen .
Regionalisierung - Die Nachbarländer einbinden!
Afghanistan hat in den letzten Jahrhunderten immer wieder als Bühne für die Machtkämpfe fremder Staaten herhalten müssen. Auch heute mischen China, Indien, Pakistan und Iran hinter den Kulissen im Kampf der afghanischen Regierung und ihrer westlichen Verbündeten gegen die Taliban kräftig mit. In der Gewissheit, dass der Abzug der NATO aus Afghanistan nur noch eine Frage der Zeit ist, wappnen sie sich für den Tag danach. Keines der Nachbarländer hat nach dem Sturz der Taliban 2001 Truppen nach Afghanistan geschickt. Alle sind aber stark am wirtschaftlichen Wiederaufbau beteiligt und bemühen sich um gute diplomatische Beziehungen zu Kabul. Gleichzeitig haben sie die Präsenz ihrer Geheimdienste massiv verstärkt.
Vor allem China hat seine Investitionstätigkeit in Afghanistan in den letzten Jahren enorm ausgebaut und sich u.a. die Rechte zur Ausbeutung von Kupferreserven in der Provinz Logar gesichert. Doch nicht nur die riesigen Mineralvorkommen sind verlockend, Afghanistan könnte auch eine wichtige Rolle als Transitland bei der Versorgung Chinas mit Erdöl und Erdgas aus dem Nahen Osten spielen. Seit 2009 ist Peking zudem im Bereich der Ausbildung von Polizisten und Minenräumern engagiert.
Indien wiederum versucht, den wachsenden Einfluss von China und Pakistan in Afghanistan entgegenzuwirken. Unmittelbar nach dem Sturz der Taliban hat Indien damit begonnen, die neue Führung in Kabul zu hofieren, und ist damit bewusst ins Revier des Erzfeindes Pakistan eingedrungen. Um die Afghanen für sich zu gewinnen, haben sich die Inder stark im Wiederaufbau engagiert und bereits Hilfe in Milliardenhöhe geleistet.
Der westliche Nachbar Iran hat im afghanischen Konflikt im Gegensatz zu Indien und Pakistan bisher noch keine klare Position bezogen und spielt wie China ein Doppelspiel. Vordergründig pflegt Teheran zwar gute Beziehungen zur Regierung Karzai. Gleichzeitig beliefert es die Taliban aber auch mit Waffen. Afghanistans Norden hingegen wird von den zentralasiatischen Nachbarstaaten als politische Pufferzone betrachtet.
Pakistan wiederum versteht den afghanischen Süden als strategischen Raum im Falle einer Konfrontation mit Indien. Hierbei werden die afghanischen Taliban als Verbündete gegenüber Indien wahrgenommen. Pakistanische Taliban und al-Kaida hingegen werden als Bedrohung gesehen und bekämpft. Die Beilegung der Streitigkeiten zwischen Pakistan und Indien könnte einen wertvollen Beitrag zur Stabilisierung der gesamten Region leisten. Doch in dem angespannten Klima seit den Attentaten von Mumbai ist Pakistan nicht bereit, weitere Truppen von der indischen Grenze abzuziehen und ins afghanische Grenzgebiet zur Bekämpfung der Taliban zu verlegen.
Weder Pakistan noch Indien kann daran gelegen sein, wenn Afghanistan im Chaos versinkt - an einer Zusammenarbeit der Nachbarn geht kein Weg vorbei. Aber wer geht den ersten Schritt? Der Schlüssel für die Stabilisierung der Region ist eine friedliche Entwicklung und ein Ausgleich zwischen den beiden Atommächten Indien und Pakistan.
Leider ist es bislang nicht gelungen, die Nachbarländer stärker einzubinden. Diese Länder müssen überzeugt werden, dass sie durch Kooperation mehr gewinnen können als durch Konflikt. Sie müssen in eine institutionalisierte Zusammenarbeit eingebunden werden. Nur so können Dauerinterventionen von außen nach Afghanistan hinein verhindert werden. Ohne ihre Mitwirkung wird die NATO keinen Erfolg haben können und ohne sie wird das Land nicht befriedet werden.
Perspektive Bodenschätze?
In den letzten Wochen sorgten Berichte über umfangreiche Bodenschätze in Afghanistan für Aufregung. Die schiere Zahl eine Billion - eine eins mit zwölf Nullen - löste Staunen und überschwängliche Reaktionen aus. So viel sollen die unter der afghanischen Erde schlummernden Vorräte an Eisen, Kupfer, Kobalt, Edelsteinen, Gold und Lithium - letzteres unentbehrlich für die Produktion von Handy-Batterien und Laptops - laut einer Studie des US-Militärs und der US-Behörde für Geologie angeblich wert sein. Dies würde Afghanistan auf dem Papier zu einem der reichsten Länder der Erde machen. Als "Saudi-Arabien des Lithiums", als ein "zweites Dubai" titulierten internationale Gazetten das bisherige Armenhaus Asiens bereits. Selbst afghanische Regierungsvertreter geben sich beglückt und sprechen von der besten Nachricht der vergangenen Jahre.
Bei nüchterner Betrachtung wird allerdings schnell klar, welche schier unüberwindbaren Hürden sich der neuen Goldgräber-Stimmung in den Weg stellen. Was in einigen Medien als Sensation verkauft wurde, lässt sich in jedem landeskundlichen Standardwerk zu Afghanistan nachlesen. Warum also jetzt diese Aufregung? Zum einen kann man sicherlich gute Nachrichten brauchen, um der grassierenden Afghanistan-Müdigkeit entgegenzuwirken. Zum anderen gibt tatsächlich neue geologische Erkenntnisse, die in dieser Genauigkeit bisher eben nicht vorlagen.
Voreilige Euphorie wäre jedoch fehl am Platz. Bis das wertvolle Lithium und die anderen Metallvorkommen tatsächlich zu Geld gemacht werden könnten, müssten zahlreiche Hindernisse überwunden werden. Da ist vor allem die Geographie. Der Reichtum ist nur schwer zu erschließen. Afghanistan ist ein steinernes Labyrinth. Es fehlen Straßen, Werkzeuge, Fachleute, weiterverarbeitende Industrien. Vor allem aber fehlt der Frieden. Nachhaltige Rohstoffausbeutung braucht wie die Entwicklung der Gesellschaft auch Frieden und Stabilität. Andererseits könnten ausländische Investitionen helfen, den Konflikt zu beenden. Wenn die Bevölkerung merkt, dass ein Teil der Gelder in das Land zurückfließt, könnte dies dazu beitragen, das Land zu entwickeln und zu stabilisieren. Im Idealfall wäre ein künftiges Afghanistan nicht auf Drogenökonomie angewiesen, sondern könnte seine Staatseinkünfte konsolidieren, aus eigener Kraft für die notwendigen Infrastrukturen sorgen und das Land mit dem ausstatten, was dringend erforderlich ist - Arbeitsplätze, Einkommen und Auskommen. Sollten sich tatsächlich konkrete Wirtschaftsinteressen mit dem afghanische Engagement verbinden, was wäre daran nichts Verwerfliches, wenn und sofern sie diesem Engagement zu Ernsthaftigkeit, Nachhaltigkeit und Perspektive verhelfen.
Die schlechte Nachricht lautet: Mehr als zuvor besteht die Gefahr, dass das Land zum Spielball der Regional- und Globalmächte wird. Erbitterte Kämpfe um den Ressourcenzugang könnten ausbrechen. Die Bergung von Bodenschätzen, die Vergabe von Schürfrechten, der damit einhergehende Ausbau der Infrastrukturen, alles das ist dazu angetan, das bestehende Korruptionsregime zu neuen Auswüchsen zu treiben. Es steht deshalb in den Sternen, ob ein ressourcenreiches Afghanistan einmal Saudi-Arabien ähneln wird oder dem verwüsteten Nigeria und dem krisengeschüttelten Kongo.
Fazit
Nach über acht Jahren Einsatz kann die internationale Gemeinschaft nicht mehr so weitermachen wie bisher. Sie muss endlich Worte und Taten, Ziele und Mittel, Realitäten und Visionen in Übereinstimmung bringen. Wir müssen den Einsatz militärischer Gewalt stärker mit Anstrengungen bei der zivilen Aufbauarbeit verbinden. Wir müssen bürokratische und administrative Hindernisse in Afghanistan aber auch bei uns in Deutschland und Europa abbauen und wir müssen erkennen, dass wir uns zu einseitig auf den zentralistischen Staatsaufbau des neuen Präsidialregimes in Kabul gestützt haben. Hier ist es höchste Zeit, auf Provinz- und Distriktebene gegenzusteuern!
Es besteht auch nach den Beschlüssen von London nach wie vor ein Missverhältnis zwischen militärischem Einsatz und zivilem Wiederaufbau, das sich auch in den finanziellen Relationen widerspiegelt. Die Verdoppelung der zivilen Mittel durch die Bundesregierung namentlich beim Verwaltungs- und Justizaufbau darf deshalb kein Lippenbekenntnis bleiben. Man sollte sich zudem realistischere Ziele setzen. Der Aufbau einer Demokratie in Afghanistan ist eine Aufgabe für Generationen und kann nicht von Außen oktroyiert werden. Auch hier waren wir nach dem Petersbergprozess zwar guten Willens, aber zu blauäugig. Die internationale Gemeinschaft muss an ihrem Ziel festhalten, Afghanistan auf seinem Weg zu Frieden und Demokratie zu unterstützen und dafür auch langfristig die personellen, finanziellen und institutionellen Mittel zur Verfügung stellen - dies gilt im Übrigen auch für die Zeit nach einem militärischem Abzug. Auch wenn der militärischer Beistand mittelfristig durch zivile Unterstützung ergänzt und abgelöst werden kann, werden wir in Afghanistan noch vielfältig engagiert bleiben müssen, wenn die letzten Bundeswehrsoldaten längst abgezogen sind.