Probleme einer Neuorientierung sozialdemokratischer Außenpolitik seit 1990

Es ist gut, dass das wichtige Thema der „Neuorientierung sozialdemokratischer Außenpolitik seit 1990“ auf einer Tagung der Historischen Kommission diskutiert. Zumal wir, die wir derzeit mit der aktuellen internationalen Politik befasst sind, sei es gegenüber Russland und der Ukraine oder gegenüber dem arabischen Raum, immer wieder mit „Geschichte“ konfrontiert werden. „Geschichte“ dient dabei nicht nur zur Erklärung von gegenwärtigen Konflikten und Zusammenhängen, sondern sie wird auch von allen Seiten immer wieder zur Begründung und Legitimation von bestimmten Handlungen benutzt und instrumentalisiert. Deshalb lohnt es sich immer wieder solche Mythen und Erweckungsdoktrinen kritisch zu hinterfragen, zumal wenn diese dazu beitragen, dass Europa kriegerischer und unsicherer wird.

Andreas Wirsching hat in seinem Vortrag darauf hingewiesen, dass Geschichte nicht linear verläuft. Mit Sicherheit nicht. Sie haben es dialektisch beschrieben, man könnte es auch mit „widersprüchlich“ umschreiben. Und ich kann Ihnen versichern, auch die Tagespolitik verläuft nicht linear und steht vor immer neuen Herausforderungen. Ich will im Folgenden kurz skizzieren, was aus meiner Sicht die Ansprüche und Herausforderungen an eine sozialdemokratische Außenpolitik sind, die wir immer auch als Friedens- und Entspannungspolitik definiert und verstanden haben.

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands steht seit ihrer Gründung vor mehr 150 Jahren für eine Politik des Friedens und der internationalen Verständigung. Die SPD hat ihre Werte der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität immer auch als internationalen Auftrag für eine gerechte Friedensordnung verstanden. Mutige Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben ihren Widerstand gegen den nationalsozialistischen Angriffs- und Vernichtungskrieg mit Haft, Verfolgung und Tod bezahlt.

Die sozialdemokratische Ostpolitik der 1960er und 1970er Jahre begann in Moskau und verfolgte anschließend die Aussöhnung mit Polen und der damaligen Tschechoslowakei. Dass die Deutschen mit den Worten von Willy Brandt heute als „Volk der guten Nachbarn“ in Europa leben können, verdanken wir maßgeblich dieser von Brandt und Bahr entwickelten Politik. Kritiker verkennen jedoch die Erfolge und das Konzept der Entspannungspolitik. Der Westen verhandelte sehr wohl hartnäckig und gegen den erbitterten Widerstand Moskaus auch die Menschen- und Freiheitsrechte in das Abschlussdokument der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Für die osteuropäischen Dissidenten wurde dieses erzwungene Bekenntnis der Regierenden zu universellen Rechten zum Hebel im Kampf gegen die Regime. Die Ostpolitik von Brandt und Bahr war eine auf weite Sicht angelegte Strategie zur Transformation kommunistischer Herrschaft. Dazu gehörten die Schaffung von Regeln und Institutionen im Rahmen der KSZE sowie die Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa durch die BRD – damals noch gegen erbitterten Widerstand der CDU/CSU. Deren Prinzipien sind im Übrigen auch von den Unionsparteien im Wesentlichen akzeptiert und übernommen worden. Ebenso wie in den 1950er und 60er Jahren die Sozialdemokratie die Westbindung Adenauers als Bedingung ihrer erfolgreichen – und damals noch von der Union erbittert bekämpften – Ostpolitik übernommen hat. Dabei sollte wir uns auch in Zukunft von einem Grundprinzip deutscher Außenpolitik leiten lassen: Niemals allein, immer zusammen mit unseren Partnern und Verbündeten. Dies ist eine der zentralen Lehren aus der deutschen Geschichte.

Nun sagen viele, Russland hat mit seinem Verhalten auf der Krim und in der Ostukraine der Entspannungspolitik quasi die „Geschäftsgrundlage“ entzogen. Das ist auch sicher nicht vollkommen falsch. Nun habe ich das Privileg, gelegentlich mit Egon Bahr zu reden und sage deshalb klar und deutlich, dass die Grundlagen der Entspannungspolitik bis heute nichts von ihrer Bedeutung verloren haben – auch wenn diese von der russischen Seite zweifelsohne eklatant verletzt wurden. Im Gegenteil: Gerade in Zeiten neuer Spannungen brauchen wir eine neue Entspannungspolitik. Doch wahr ist auch, dass diese nicht eins zu eins von damals auf heute übertragen werden kann.

Die deutsche und europäische Russlandpolitik bedarf einer ungeschminkten Bestandsaufnahme: Wir stecken zweifelsohne in der schwersten Krise Europas seit dem Ende des Kalten Krieges. Die russische Regierung hat mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der militärischen Infiltration der Ostukraine fundamentale Prinzipien der europäischen Sicherheitsordnung in Frage gestellt und damit auch der Zusammenarbeit im Rahmen der bilateralen Modernisierungspartnerschaft die Grundlage entzogen.  

Zusammen mit seinen europäischen Partnern hat sich Deutschland in der Ukraine-Krise intensiv für eine Vermittlung und Deeskalation engagiert. Die Außenminister Deutschlands, Polens und Frankreichs haben in Kiew zwischen den Demonstranten und dem damaligen Präsidenten Janukowitsch vermittelt, um eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) – die Nachfolgeorganisation der KSZE – hat eine führende Rolle bei der Verabschiedung eines Waffenstillstands und bei der Überwachung und Entflechtung der militärischen Gruppen übernommen. Auch für die Kontaktgruppe, in der Separatisten und die ukrainische Regierung über die Lage in der Ostukraine beraten, hat Deutschland in enger Kooperation mit europäischen Partnern immer wieder wichtige Impulse gegeben.

Aber wir haben auch nicht gezögert, die Eskalationsschritte der Konfliktbeteiligten zu verurteilen und eindeutige Stoppsignale zu senden. Dazu gehören die Beschlüsse der NATO,  aber auch die Sanktionen der Europäischen Union. Wir handeln dabei im engen Schulterschluss mit unseren Verbündeten. Und was mir besonders wichtig ist: Wir haben uns zugleich immer wieder dafür eingesetzt, dass Gesprächskanäle offen gehalten werden und der NATO-Russland-Rat nicht abgeschafft wird. Hier gibt es zweifelsohne noch einiges zu tun und hier sind sicherlich noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft.

Die deutsche Außenpolitik setzt sich mit Nachdruck dafür ein, die Vereinbarungen der aus Ukraine, Russland und der OSZE bestehenden trilateralen Kontaktgruppe umzusetzen. Die Sicherung des Friedens kann nur gelingen, wenn wir auf der Basis europäischer und internationaler Prinzipien mit Russland zu einer Politik der Kooperation zurückkommen können, die die legitimen Interessen aller Beteiligten berücksichtigt. Die Europäische Union und Deutschland dürfen das europäische Russland nicht aufgeben. Unser Ziel bleibt die Einbindung Russlands in gesamteuropäische politische, wirtschaftliche und Sicherheitsstrukturen.

Aber auch für Russland gelten – ebenso wie für die USA – dieselben Regeln (territoriale Integrität und Unverletzlichkeit von Grenzen), die in der Schlussakte von Helsinki 1975 und der Charta von Paris 1990 gemeinsam erarbeitet wurden. Die Nato darf sich nicht aus Furcht vor Russland in eine neue Konfrontation begeben. Wir brauchen deshalb eine überzeugende Antwort gegenüber Russlands neuen territorialen Ambitionen und Angebote an Russland, um gemeinsam Vereinbarungen über bestehende und neue Regeln für die europäische Sicherheitsarchitektur zu treffen. Wir brauchen beides: Sicherheit vor und Sicherheit mit Russland. Ziel muss sein, perspektivisch wieder ein Verständnis von gemeinsamer Sicherheit zu entwickeln. Wir müssen deshalb immer wieder Gespräche anbieten und versuchen die Konfliktparteien an einen Tisch zu bringen, wie es unser Außenminister nicht nur in der Ukraine, sondern auch in der Syrienkrise in Wien versucht.

Ich möchte im Folgenden einige Punkte und Eckpfeiler benennen, die nach meinem Dafürhalten die Grundlagen einer sozialdemokratischen Außenpolitik bilden:

  1. Die weitere Verregelung und Verrechtlichung der internationalen Politik. Dazu gehört die Weiterentwicklung des Völkerrechts zwischen Staatensouveränität und Menschenrechten, mit allen Problemen, die sich daraus ergeben – Stichwort „Responsibility to Protect“ und die Gefahr der Instrumentalisierung. Aber auch die Umsetzung der UN-Milleniumsziele, die Weiterentwicklung der internationalen Strafgerichtsbarkeit und des Klimaschutzes. Die Weiterentwicklung und vor allem die Einhaltung von Regeln befördert Erwartungsverlässlichkeit. Diese ist wiederum Voraussetzung dafür, dass das internationale System nicht in die Anarchie zurückfällt. Deswegen müssen wir auf für alle – Groß- wie Atommächte – gültigen internationalen Regeln bestehen, Regelverletzungen anmahnen und neue Regeln mitentwickeln.
  2. Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe auch im Sinne von „Hilfe zur Selbsthilfe“ leisten. Sowohl in der Ukraine aber auch in den Flüchtlingslagern in der Türkei, Jordanien und anderswo müssen wir schnell und unbürokratisch helfen. Dazu gehört auch die Aufnahme von syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen. Hier tun wir zweifelsohne noch nicht genug, aber ich möchte doch darauf hinweisen, dass es uns gelungen ist, in den Haushaltsberatungen die Mittel für humanitäre Hilfe maßgeblich aufzustocken.
  3. Ein weiterer mit sehr wichtiger Punkt ist der Themenkomplex Abrüstung und Rüstungskontrolle, der mir nicht zuletzt auch deshalb am Herzen liegt, weil ich in meiner Zeit als abrüstungspolitischer Sprecher hier versucht habe einiges voranzubringen oder manchmal auch zu verhindern. Hier gibt es leider nur wenig Positives zu berichten. Eine Welt ohne Atomwaffen ist weiterhin nicht in Sicht. Zumal alle fünf "offiziellen Atommächte“ dabei sind, neue Systeme für den Einsatz von Kernwaffen zu entwickeln, oder entsprechende Programme angekündigt haben. Allein die USA planen, im nächsten Jahrzehnt 350 Milliarden US-Dollar für die Modernisierung ihrer Atomwaffen zu investieren. Auch bei den multilateralen nuklearen Abrüstungsthemen gibt es keinerlei Fortschritte. Die konkreten abrüstungspolitischen Fortschritte der letzten Jahre lassen sich an einer Hand abzählen. Dazu gehören das Inkrafttreten des Vertrages über den Waffenhandel (Arms Trade Treaty) im Dezember 2014, der Beitritt Syriens zum Chemiewaffen-Übereinkommen im Oktober 2013 und die Zerstörung seiner chemischen Kampfstoffe und Produktionsanlagen unter internationaler Aufsicht. Deutschland hat dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet. Ein weiteres positives Signal könnte von einer Einigung im Konflikt um das iranische Atomprogramm Ende März ausgehen. Einmal mehr zeigt sich: Wenn das internationale Umfeld nicht stimmt, nutzen hehre Absichtserklärungen über eine atomwaffenfreie Welt nur wenig. Wir müssen versuchen, das, was von der Rüstungskontroll-Architektur noch übrig ist, zu retten - zumal Fortschritte letztlich vom Verhältnis USA-Russland abhängig sind. Dazu bedarf es Beharrlichkeit und neuer Ideen. Gerade in Zeiten von Krisen und Konflikten brauchen wir Rüstungskontrolle, Vertrauensbildung und Abrüstung nötiger denn je.

Damit komme ich zu meinem letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. Bernd Faulenbach hatte das mit „Probleme“ überschrieben. Ich würde es eher Entwicklungen oder globale Trends nennen. Andreas Wirsching hat darauf hingewiesen: Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass Europa nicht mehr im Fokus der internationalen Politik steht. Die globale Verschiebung zugunsten der politisch selbstbewusst auftretenden Wirtschafts- und Handelsmächte des asiatisch-pazifischen Raumes zeigen, dass dies deutlich. Die USA haben diesen „pivot to asia“ bereits in operative Politik umgesetzt.

China hat in den vergangenen Jahrzehnten klassische Geopolitik betrieben, sich aber vor allem um seinen wirtschaftlichen Aufstieg gekümmert. Territoriale Ansprüche erhob es lange Zeit nur auf Taiwan und Tibet, wo der Status quo ohnehin zementiert war. Doch nun fordert Peking im Süd- und Ostchinesischen Meer lautstark Gebiete ein und trifft dabei auf ein kaum weniger aggressives, nationalistisch agierendes Japan. Die drittgrößte (Japan) und die größte (China) Wirtschaftsmacht der Erde beharken sich mittlerweile mit so feindseligen Drohgebärden wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Bisher verliefen die Streitereien um Luftraum und Inseln, unter denen Rohstoffe vermutet werden, glimpflich. Aber es gibt keine Garantie, dass dies so bleibt, denn die Verschränkung von Handel und Wirtschaft allein hat noch nie gewaltsame Konflikte verhindert. Dazu sind Vertrauen, Regeln und Institutionen, aber auch verantwortungsbewusste Politiker notwendig. Derzeit verfolgt China Territorialansprüche gegen sechs Nachbarn gleichzeitig und provoziert damit, wovor es sich am meisten fürchtet: eine Eindämmungs-Allianz zwischen Vietnam, Japan, Malaysia, den Philippinen, Taiwan, Südkorea und den Vereinigten Staaten. Mit anderen Worten: Nicht nur in der Ukraine und im Nahen Osten auch im Südchinesischen Meer: Weltweit mehren sich die Anzeichen dafür, dass alte Kategorien wie Macht und Konkurrenz, Einflusszonen und Rivalität in der internationalen Politik neuen Einfluss gewinnen. Doch mit diesen Begriffen werden sich die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts weder begreifen noch bewältigen lassen. All dies zeigt: Entspannungspolitik und „Wandel durch Annäherung“ sind heute von unverminderter Relevanz – gerade in Regionen mit neuen, weltpolitisch relevanten Krisen.

Damals wie heute müssen Außenpolitiker den Dialog auch mit jenen suchen, deren Herrschaftssystem er verachtet und deren konkrete Politik ihn empört. Er muss den Status quo anerkennen, um ihn zu verändern. Das ist mühsam und gibt keine gute Presse. "Hört auf zu reden, handelt endlich!" Wer verspürt angesichts der Massaker in Afrika und in Syrien und angesichts der Krise in der Ukraine nicht den Wunsch nach schnellen Lösungen? Im Gegensatz zu denen, die das Privileg haben, Analysen und Handlungsempfehlungen auf dem Reißbrett und ex post zu entwerfen, muss der Außenpolitiker in einer konkreten Situation handeln. Gespräche und Verhandlungen mit illegitimen und undemokratischen Herrschern sind dabei unvermeidbar. Man sollte aber versuchen, sie so zu gestalten, dass sie auf Öffnung und Transformation zielen. Selbstbewusste Außenpolitik muss sich nicht zwischen Regime und Gesellschaft entscheiden. Die Entspannungspolitik hat in Osteuropa durch das beharrliche Angebot zum Dialog, durch Empathie und geschicktes Verhandeln den inneren Wandel befördert.

Die Wirklichkeit ist kompliziert und kluge Außenpolitik muss dieser Komplexität Rechnung tragen. Deswegen ist die Diskussion, ob deutsche Außenpolitik werte- oder interessengeleitet sein soll, rein akademisch. Interessen und Werte sind kein Widerspruch - im Gegenteil, sie bedingen sich wechselseitig. Wir brauchen beides: eine wertebasierte Außenpolitik auf der einen und eine pragmatische Konzentration auf das Machbare auf der anderen Seite. Auch wenn ich hier sicher nicht die großen historischen Linien ziehen konnte, hoffe ich doch, dass ich hier einige Punkte für die Notwendigkeit einer sozialdemokratischen Außenpolitik für das 21. Jahrhundert skizzieren konnte.

 

 

 

 

 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Beitrag zum Forum der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD im März 2015
Veröffentlicht: 
In: Bernd Faulenbach/Bernd Rother (Hrsg.),  Außenpolitik zur Eindämmung entgrenzter Gewalt: Historische Erfahrungen der Sozialdemokratie und gegenwärtige Herausforderungen, Essen 2016, S. 121-128