Politischer Islam. Chance oder Bedrohung?

Aus den Umbrüchen in der arabischen Welt sind islamistische Gruppen bislang als die eigentlichen Gewinner hervorgegangen. Der politische Islam ist jedoch keine homogene Bewegung, sondern tritt regional, ideologisch und konfessionell in verschiedenen Varianten auf. Reform-islamistische Parteien nehmen die nicht eingelösten Versprechen und Forderungen des arabischen Nationalismus nach Unabhängigkeit, Gerechtigkeit, Partizipation, Entwicklung und Würde auf und präsentieren sie in einem "islamischen" Gewand. Es sind vor allem diese politischen Ziele verbunden mit der Enttäuschung über die alten Garden und weniger religiöse Motive, die ihren Aufstieg erklären. Neben den reform-islamistischen Parteien haben sich fundamentalistische Salafisten als  zweite politische Kraft etablieren können.

Das Dilemma des Westens im Umgang mit dem politischen Islam ist nicht neu. Obwohl es in der Vergangenheit immer wieder Stimmen gegen Dialogverbote gab, wurde in Folge des 11. September 2001 unter Präsident George W. Bush de facto ein Kontaktverbot verhängt, das alle islamistischen Gruppierungen über einen Kamm scherte und prophylaktisch unter Terrorismusverdacht stellte. Dies war ein Fehler, der sich rächen sollte, weil der politische Islam immer auch ein maßgeblicher Akteur auf der politischen Bühne war und ist. Durch Kontakt- und Denkverbote verspielte man den ohnedies geringen Einfluss, den man auf gemäßigte Gruppierungen des politischen Islam hätte nehmen können. Wichtig ist ein nüchterner und unvoreingenommener Blick. Politischer Islam ist nicht das Gleiche wie radikaler Islamismus. Der politische Islam ist nicht per se rückwärts gewandt, anti-modern und undemokratisch. Zugleich gilt es aber davor zu warnen, nun ins andere Extrem zu fallen und die Islamisten als bevorzugte Gesprächspartner anzusehen. Dies wäre nicht nur ein fatales Signal an die demokratischen Kräfte, man würde damit die Fehler der Vergangenheit wiederholen. Nur dass man statt der autoritären Machthaber nun die ebenfalls demokratiefeindlichen Islamisten und Salafisten hofiert. Es besteht durchaus die Chance, dass sich gemäßigt islamische Kräfte demokratisieren. 
 
Die vom  islamfeindlichen Mohammed-Film provozierten neue Proteste und Gewalt in der islamischen Welt, sind auch ein Symbol für den Machtkampf, der derzeit in der arabischen Welt zwischen radikalen und gemäßigten Islamisten stattfindet. Während die gemäßigten Islamisten sich an der Macht pragmatisch verhalten müssen, sehen sie sich zunehmend der Konkurrenz der radikaleren Salafisten ausgesetzt, die die Deutungshoheit darüber beanspruchen, wie die neue arabisch-islamische Welt aussehen soll. Zwar sind die Radikalen in der Minderheit, aber sie haben Einfluss, dank einfacher Parolen.

Der Westen sollte dem politischen Islam selbstbewusst gegenübertreten, die Einhaltung rechtlicher Standards einfordern und ihn an seinem Handeln messen. Meinungsfreiheit ist nicht grenzenlos, aber diese Grenzen bestimmen die demokratischen Rechtsstaaten selbst und nicht der fundamentalistische Mob auf den Straßen der arabischen Welt - zumal auch die Mehrheit der Muslime die Anwendung von Gewalt ablehnt und sich von diesem Mob distanziert. Die Jugend der islamischen Welt, die die Umbrüche erst durch ihre Proteste möglich gemacht haben, sehnen sich nicht nach neuen Ideologien sondern nach ökonomischen Perspektiven, Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität.
 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Die Umbrüche in der arabischen Welt und ihre Konsequenzen.
Veröffentlicht: 
Kommentar für das Berliner Forum Außenpolitik der Körber-Stiftung, September 2012