Der persische Scheinriese

Das Atomabkommen mit Iran sieht vor, dass sich das Land in den nächsten 15 Jahren von 98 Prozent seines Bestandes an angereichertem Uran und von 15.000 seiner 20.000 Zentrifugen trennen muss. Zudem wird der Schwerwasserreaktor in Arak so umgebaut, so dass er kein waffenfähiges Plutonium mehr herstellen kann und sämtliche Atomanlagen werden von Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) überwacht. Nach der Umsetzung des Abkommens wird der Iran das am meisten inspizierte und kontrollierte Land der Welt sein.

Das Abkommen wird dazu beitragen, ein atomares Wettrüsten im Nahen und Mittleren Osten zu verhindern. Und auch die Argumentation Saudi-Arabiens, es nehme für sich dieselben Rechte in Anspruch wie Iran, würde in der Konsequenz nur bedeuten, dass auch Riad im Falle einer zivilen Urananreicherung umfassende internationale Kontrollen akzeptieren müsste. Präsident Obama brachte es auf den Punkt: "Glauben Sie wirklich, dass ein überprüfbares Abkommen, wenn es komplett umgesetzt wird und hinter dem die wichtigsten Mächte der Welt stehen, eine schlechtere Option ist als das Risiko eines weiteren Krieges in Mittelost?"

Droht nun ein konventionelles Wettrüsten?

Nachdem somit ein atomares Wettrüsten, zumindest für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre, gebannt scheint, malen Kritiker des Abkommens, wie Shimon Stein, der ehemalige israelische Botschafter, bereits ein konventionelles Wettrüsten an die Wand: Die Einwände der amerikanischen Verbündeten in der Region wie Israel und Saudi Arabien gegen das Abkommen sind ja nicht nur berechtigt. Und deren - milde ausgedrückt - Unbehagen wird zu einer gewissermaßen kompensatorischen militärischen Aufrüstung dieser Länder durch die Vereinigten Staaten führen - was für sich genommen schon eine Schwäche des Abkommens offenbart. Das wiederum dürfte zu einer iranischen Aufrüstung nach dem Ablauf des fünf beziehungsweise acht Jahre andauernden Waffenembargos auf konventionelle Waffen und ballistischen Raketen führen; ein Embargo übrigens, dessen Aufhebung nicht an eine iranische Gegenleistung geknüpft war. Ein Wettrüsten ist also vorprogrammiert. Schon deshalb kann von einer regionalen Stabilisierung in Folge des Abkommens keine Rede sein.

Israel, Saudi-Arabien und die Golfstaaten wollen also aufrüsten, um der "iranischen Gefahr" zu begegnen. Welcher Gefahr? Es gibt in der Tat ein gefährliches Kräfte-Ungleichgewicht im Nahen Osten, allerdings zu Ungunsten Teherans. Und es droht kein Wettrüsten in der Region, sondern dieses ist bereits seit mehr als einem Jahrzehnt in vollem Gange. Denn konventionell ist Iran Saudi-Arabien, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder erst recht Israel hoffnungslos unterlegen. Diese Staaten haben in den letzten Jahren ihr Militär stark modernisiert und investieren weiter massiv - sowohl aus klassischen Verteidigungsgründen, aber auch, um Gefahren wie den "Islamischen Staat" effektiver bekämpfen zu können.

Der New York Times zufolge verfügt der Iran über einen Rüstungsetat, der nur ein Zehntel der Militärbudgets der sunnitischen Staaten und Israels ausmacht. Zudem sieht das Atomabkommen vor, dass die langjährigen Sanktionen, die den Transfer größerer konventioneller Waffen, Raketen und Raketensysteme an den Iran verbieten, über weitere Jahre fortbestehen. Allein die arabischen Golfstaaten geben jährlich 130 Milliarden Dollar für Verteidigungszwecke aus. Der Iran investiert rund 14 Milliarden Dollar, Saudi-Arabien über 80 Milliarden Dollar und Israel etwa 16 Milliarden Dollar. Darüber hinaus verfügen Israel und die arabischen Staaten über hochmoderne westliche Waffensysteme, die den veralteten des Iran haushoch überlegen sind, darunter amerikanische F-16- und F-15-Kampfjets und Mehrzweckkampflugzeuge des Typs Eurofighter Typhoon. Dagegen ist das modernste Kampfflugzeug, über das der Iran verfügt, die russische MiG-29, die Anfang der 1990er Jahre geliefert wurde. Der Rest der Luftflotte besteht aus alten F-14-, F-4- und F-5-Kampfflugzeugen sowie aus russischen S-24-Kampfjets. Zudem sind viele dieser Waffensysteme unbrauchbar, da Iran aufgrund der jahrelangen Sanktionen keinen Zugang zu den erforderlichen Ersatzteilen hatte.

Mit anderen Worten: Eine konventionelle Gefahr geht von Iran - zumindest derzeit - nicht aus. Sie an die Wand zu malen ist lediglich ein Vorwand, um das bereits stattfindende konventionelle Wettrüsten weiter anzuheizen. Es gibt bereits eine konventionelle - und nukleare - Asymmetrie in der Region - und zwar zu Lasten Teherans. Denn mit ihren Warnungen vor einem atomwaffenfähigen Iran haben die USA, wie der Westen insgesamt, die Aufrüstung in der Region in der Vergangenheit angeheizt und ihre Waffenschmieden haben entsprechend gute Geschäfte gemacht, vor allem in Saudi-Arabien und den Golfstaaten.

Es mutet deshalb schon absurd an, dass, nachdem die Gefahr eines atomaren Iran gebannt ist, nun eine angeblich konventionelle Gefahr von Teheran ausgehen soll, der man natürlich wiederum nur mit weiteren Aufrüstungsrunden begegnen kann. Hier geht es ganz offensichtlich nicht um Stabilität in der Region, sondern um die Geschäftsinteressen der Rüstungsindustrie. So denken die USA bereits über weitere Waffenlieferungen an enge Verbündete wie Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) nach.

Fakt ist: Eine konventionelle Bedrohung seitens Iran besteht jedenfalls auf absehbare Zeit nicht. Im Gegenteil: Wenn ein Staat in der Region Anlass dazu hätte, konventionell nachzurüsten, dann der Iran - auch wenn hier beileibe keiner Aufrüstung Teherans das Wort geredet werden soll. Die Zeit bis zum Ablauf des Waffenembargos sollte deshalb genutzt werden, um mehr Vertrauensbildung in der Region zu erreichen. Dies erfordert allerdings eine konstruktivere Rolle sowohl von Seiten Teherans als auch Riads. Denn nicht nur Iran, sondern auch Saudi-Arabien ist längst zum unberechenbaren Risikofaktor geworden. So könnte das umfassende Kontroll- und Verifikationsregime des Wiener Abkommens perspektivisch durchaus dazu beitragen, dem Ziel einer Massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren Osten näher zu kommen.

Nicht zuletzt kann die vielkritisierte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU mit dem Abkommen einen großen Erfolg vorweisen. So haben Deutsche, Franzosen und Briten die Gespräche vor zwölf Jahren - zunächst gegen amerikanischen Widerstand - initiiert und die Europäische Union war als eigenständiger Akteur von Beginn an den Verhandlungen beteiligt. Zudem übernimmt Frederica Mogherini, die Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik, in einer Gemeinsamen Kommission der Unterzeichnerstaaten die Aufsicht und Koordination des Umsetzungsprozesses.

Quo Vadis Iran?

Allerdings sollte man sich über den Charakter des iranischen Regimes keinen Illusionen hingeben. Durch das Nuklearabkommen wird der Iran auch nicht über Nacht zu einem liberalen, demokratischen und friedlichen Staat. Die Menschenrechtsverletzungen des Regimes wie die Verfolgung politischer Gegner wie der Bahai, die Diskriminierung von Frauen, Schwulen und Lesben, die Unterdrückung der Menschenrechte, Folter und Todesstrafe müssen auch weiterhin angesprochen und angeprangert werden.

Ob sich infolge des Abkommens im Inneren des Iran liberalisierende Elemente in der Zivilgesellschaft durchsetzen können, ist bislang noch eine fromme Hoffnung. Wie die Ausladung Daniel Barenboims zeigt, wird das antizionistische Feindbild auch nach - oder gerade nach - dem Atomdeal mit dem Westen noch gebraucht. In welche Richtung sich der Iran entwickelt, lässt sich aufgrund der vielen widerstrebenden Kräfte nur schwer vorhersagen. Auch wenn Präsident Rohani das Abkommen als eine "Versöhnung mit der Welt" preist, heißt dies noch lange nicht, dass Teheran nun bei der Lösung anderer Konflikte in der Region, die es bisher schürte, hilfreich sein wird. Auf jeden Fall besteht eine reelle Chance, dass die moderaten und reformorientierten Kräfte im Iran durch das Abkommen, das sie als ihren Erfolg verkaufen können, mittel- bis langfristig gestärkt werden. Es bleibt abzuwarten, ob das Land reformfähig und in der Lage ist, um seiner jungen und gut ausgebildeten Mittelschicht eine Perspektive zu bieten.

Des Weiteren gilt es vor überzogenen wirtschaftlichen Erwartungen zu warnen, sowohl bei der Bevölkerung im Iran, als auch bei vielen westlichen Unternehmen, wo sich schon Goldgräberstimmung breitzumachen beginnt. Ebenso blauäugig wäre die Annahme, dass das Nuklearabkommen nun Irans Unterstützung schiitischer Gruppierungen im Irak, Syrien, dem Libanon bis hin zum Jemen oder gar die hegemoniale Rivalität mit Saudi-Arabien von einem auf den anderen Tag ändern könnte. Doch es bietet zumindest die Chance nach dem Grundsatz "Wandel durch Annäherung" mittel- bis langfristig eine innenpolitische Dynamik zu eröffnen, die das Verhalten und die Außenpolitik des Regimes im Idealfall schrittweise zu mehr Kooperation hin ändert. Iran muss sich entscheiden, ob es weiterhin ein Unruheherd oder eine konstruktive Regionalmacht sein will. Dem saudischen Königshaus wiederum muss vermittelt werden, dass eine veränderte Rolle Teherans nicht zwangsläufig von Nachteil für Riad sein muss.

Auch wenn die Gefahr eines atomaren Wettrüstens zunächst gebannt ist, drohen - wie oben ausgeführt - weitere konventionelle Rüstungswettläufe in der Region. Wir brauchen deshalb parallel zum atomaren Abrüstungs- und Nichtverbreitungsprozess dringend auch Initiativen zur Begrenzung der konventionellen Rüstung wie die vom Auswärtigen Amt finanzierte Konferenz, die vom 11. bis 13. Februar 2015 in Beirut gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern aus 14 arabischen Staaten zum Thema Rüstungskontrolle stattfand.

Im besten Fall kann die Einigung im Nuklearstreit dazu beitragen, den Einstieg in eine Lösung des syrischen Bürgerkrieges zu finden. Darüber hinaus geht es um die schier unlösbare Aufgabe, eine umfassende Sicherheitsarchitektur für die gesamte Region zu entwickeln. Perspektivisch könnte hierfür eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten (KSZNO) ein mögliches Format sein. Die Wiener Einigung hat immerhin gezeigt, dass selbst in tief sitzenden, historisch komplexen und von Misstrauen und Feindschaft überlagerten Konflikten eine Lösung möglich ist und dass es zu langwierigen, oft jahre- oder gar jahrzehntelangen Verhandlungen keine Alternative gibt.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Das Gerede über eine konventionelle Gefahr aus dem Iran ist absurd.
Veröffentlicht: 
IPG-Journal, 17.09.2015