Nukleare Teilhabe – ein überholtes Konzept

Eine offene Debatte über die Rolle der Nuklearwaffen, die Nuklearstrategie der NATO und der in Deutschland und Europa stationierten amerikanischen Atomwaffen ist längst überfällig. Und dies nicht nur, weil in Berlin bis 2025 die Entscheidung über ein Nachfolgeflugzeug des potentiellen Trägersystems Tornados ansteht. Wir agieren und diskutieren immer noch in den veralteten und überkommenen Abschreckungskategorien des Kalten Krieges. Dabei sind wir mit einer neuen nuklearen Ordnung konfrontiert, die weit komplexer, unübersichtlicher und vor allem gefährlicher ist, als das relativ stabile „Gleichgewicht des Schrecken“, welches im Übrigen bei weitem nicht so sicher war, wie es im Nachhinein vielen scheinen mag. Man stelle sich nur kurz einmal vor, während der Kuba-Krise 1962 wären Donald Trump und Wladimir Putin die verantwortlichen Akteure auf beiden Seiten gewesen!

Wir sehen uns heute zunehmend mit neuen nuklearen Akteuren (Nordkorea, Indien, Pakistan, Israel) und der Gefahr der Proliferation (Iran, Türkei) konfrontiert. Hinzu kommen die technologische Modernisierung (Mini Nukes, Cyberwar, Drohnen, Überschallwaffen etc.) und eine Vermischung von konventionellen und nuklearen Abschreckungssystemen. Eine immer unübersichtlichere Gemengelage, die äußerst gefährlich ist.

Vor diesem Hintergrund sind die Risiken einer fortgesetzten Stationierung amerikanischer Atomwaffen in Deutschland und Europa weitaus größer als ihr sicherheitspolitischer Nutzen.  Aus diesem Grunde plädiere ich dafür, mittelfristig auf die Stationierung von US-Atomwaffen in Europa zu verzichten. Die nukleare Teilhabe der NATO ist militärisch überholt, das Festhalten an ihr erschöpft sich zunehmend in inkonsistenter Symbolpolitik hinter der auf beiden Seiten des Atlantiks knallharte rüstungsindustriepolitische Interessen stehen. Das der nuklearen Teilhabe zu Grunde liegende Szenario, wonach im Kriegsfall die in Büchels stationierten Atombomben von deutschen Piloten ins Ziel geflogen werden, ist nicht nur komplett unrealistisch, sondern angesichts der neueren sicherheitspolitischen Entwicklungen geradezu absurd.

Interessant ist, dass selbst die glühendsten Verfechter der technischen nuklearen Teilhabe nicht leugnen, dass die in Europa stationieren taktischen Nuklearwaffen der USA sicherheits- und abschreckungspolitisch keinen Sinne mehr machen, wenn sie denn je einen hatten. Vielmehr sollen sie die symbolische Anbindung an den nuklearen Schutzschirm der USA garantieren und die (durchaus berechtigten) Sorgen der osteuropäischen NATO-Staaten vor einer russischen Bedrohung mindern. Um dies zu gewährleisten braucht man aber nicht die nukleare Teilhabe, sondern berechenbare und verlässliche Partner.

Eine notwendige sicherheitspolitische Debatte über die nukleare Teilhabe und die Rolle von Nuklearwaffen sollte sich auch trauen, über neue Wege nachzudenken. Dafür ist es notwendig, dass die fünf Staaten, in denen noch US-Atomwaffen stationiert sind (Belgien, Deutschland, Italien, die Niederlande und die Türkei), ihre Interessen abstimmen. Auch in Belgien und den Niederlanden ist die technische nukleare Teilhabe alles andere als unumstritten. Parallel dazu sollte die von NATO-Generalsekretär Stoltenberg im März ins Leben gerufene „Reflexionsgruppe“ dieses Thema ebenfalls auf die Agenda nehmen, ebenso wie die Frage nach dem nuklearen Dispositiv in einem neuen strategischen Konzept der NATO, das ebenfalls überfällig ist.

Es ist zudem höchste Zeit, die stagnierenden Abrüstungsbemühungen mit neuem Leben zu erfüllen. Die über Jahrzehnte aufgebaute und verhandelte Rüstungskontrollarchitektur liegt in Trümmern. Das iranische Atomabkommen, den INF-Vertrag und das Open Skies-Abkommen hat Donald Trump bereits gekündigt. Mit dem Auslaufen des New Start-Vertrages im nächsten Jahr drohen das Ende des letzten Abrüstungsvertrages und eine neue Aufrüstungsspirale im Bereich der strategischen Nuklearwaffen. Wir brauchen deshalb dringend Initiativen zur Abrüstung und Rüstungskontrolle, wie sie Heiko Maas bereits im Rahmen der Stockholm Initiative unternommen hat. Ein weiterer Anknüpfungspunkt könnte Emmanuel Macrons jüngster Vorstoß zur Stärkung der europäischen Rüstungskontrolle sein. Um Moskaus Ernsthaftigkeit zu prüfen, sollten dabei sowohl nukleare als auch konventionelle Systeme auf die Agenda gesetzt werden, einschließlich der in Europa lagernden 2.000 russischen taktischen Nuklearwaffen. Auch der Vorschlag des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) nach einer fünfjährigen Aufrüstungspause für Europa sollte ernsthaft geprüft werden.

Spätestens die Corona-Krise hat uns deutlich vor Augen geführt, dass die tatsächlichen existenziellen Bedrohungen wie Pandemien und die globale Erderwärmung sich nicht durch Militarisierung und nukleare Abschreckung lösen lassen, sondern nur durch internationale Kooperation und Solidarität.

 

 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Nukleare Teilhabe
Veröffentlicht: 
In: WeltTrends, September 2020, S. 68-70.