Neuer Schwung statt Selbstblockade

Wenn Deutschland am 1. Juli 2020 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, sind die Erwartungen hoch. Nach dem Austritt Großbritanniens kommt Deutschland als größtem und wirtschaftlich stärkstem EU-Mitglied eine besondere Verantwortung für den Zusammenhalt und die Fortentwicklung der Europäischen Union zu.

Wir wollen die EU-Ratspräsidentschaft in enger Zusammenarbeit mit der neuen EU-Kommission und dem Europäischen Parlament dazu nutzen, um endlich die schon oft angekündigte Finanztransaktionssteuer und eine gerechte internationale Mindestbesteuerung einzuführen, die sicherstellt, dass auch große Konzerne ihren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten. Wir streben einen europäischen Mindestlohn und eine Arbeitslosenrückversicherung an, um wirtschaftliche Krisen solidarisch abzusichern. Damit die Steuerzahler nie wieder für Bankverluste haftbar gemacht werden können und die Banken besser kontrolliert werden, hat Olaf Scholz einen Vorstoß unternommen, um die europäische Bankenunion zu vollenden.

Investitionen in die Zukunft

Die Weichen für die Zukunft der EU werden auch durch den mehrjährigen Billionen-schweren Finanzrahmen gestellt. Fest steht, dass es Kürzungen bei den Agrarsubventionen und mehr Zukunftsinvestitionen geben wird. Die Strukturförderung muss zielgenauer werden. Infolge der Transformation der Arbeit durch Digitalisierung und zur Erreichung der Klimaziele muss die EU konkrete Unterstützungen und Verabredungen treffen. Zurecht wird auch über eine Konditionierung der Gelder nach Einhaltung von rechtsstaatlichen Kriterien diskutiert. So oder so stehen äußerst komplizierte und emotional aufgeheizte Verteilungsdebatten zwischen Netto-Zahlern und -Empfängern ins Haus. Eine weitere Bewährungsprobe wird die Implementierung einer gemeinsamen Flüchtlings- und Asylpolitik sein.

Die Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist mit PESCO auf einem guten Wege und längst gibt es gemeinsame europäische Stabilisierungsmissionen. Wichtiger jedoch bleibt weiterhin, dass die EU ihre zivilen Kompetenzen und Fähigkeiten stärkt und dazu nutzt, um Krisen vorzubeugen und Konflikte friedlich zu regeln. Hierzu gehören auch gemeinsame Initiativen zur Abrüstung und Rüstungskontrolle. Wichtig bleibt auch eine einheitliche und vor allem restriktive europäische Rüstungsexportkontrollpolitik.

Deutschland und die überwiegenden Mehrheit der EU-Mitglieder stehen zur europäischen Beitrittsperspektive für Albanien und Nordmazedonien, nicht zuletzt weil dies im europäischen Sicherheits- und Stabilitätsinteresse liegt. Hier befinden wir uns in einem Interessenskonflikt mit Frankreich, das bislang auch aus innenpolitischen Gründen sein Veto einlegt. Wenn die EU dem Westbalkan keine Perspektive bietet, werden andere Länder bereit sein, in diese Lücke zu stoßen, seien es China, Russland oder die Türkei.

Ein zentrales Thema der Ratspräsidentschaft wird das Verhältnis der EU zu China sein. Angesichts der sich abzeichnenden chinesisch-amerikanischen Bipolarität muss Europa seine Kräfte bündeln, um sich in der neuen Weltordnung behaupten zu können. Dazu gehört auch die Frage, wie wir es mit chinesischen Anbietern für den Aufbau des 5G-Netzes halten. Im Kern geht es darum, wem wir die Sicherheit unserer Daten und die Zuverlässigkeit des Datenverkehrs in Europa anvertrauen. Es wäre besser, sich einem europäischen Anbieter bei diesem strategischen Projekt anzuvertrauen und sich nicht von den Interessen Dritter abhängig zu machen. Die EU muss endlich eine einheitliche China-Politik verfolgen. Deshalb werden wir im September 2020 einen EU-China-Gipfel in Leipzig ausrichten, an dem erstmals alle 27 EU-Regierungen teilnehmen werden.

Sicherheitspolitisch stehen wir vor der Aufgabe, einerseits den europäischen Pfeiler innerhalb der NATO zu stärken und gleichzeitig die transatlantischen Beziehungen zu stabilisieren. Das Verhältnis zur Türkei und zu Russland und der Ukrainekonflikt werden die EU ebenso beschäftigen, wie die Krisen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft in Syrien, Libyen oder in der Sahel-Zone. Unter Federführung des Auswärtigen Amtes soll während unserer Präsidentschaft ein Kompetenzzentrum für ziviles Krisenmanagement gegründet und ein gemeinsames Hauptquartier für sämtliche Einsätze der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU eingerichtet werden.

Auf die EU kommt es jetzt an

Die EU, immerhin mit 500 Millionen Menschen der größte Binnenmarkt der Welt, muss politisch und ökonomisch handlungsfähiger werden. Ziel der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist es, diesem einmaligen Friedens- und Zukunftsprojekt neuen Schwung zu geben und die europäische Selbstblockade zu überwinden. Die zerstörerische Politik von Johnson und Trump, das Auftrumpfen Chinas, der Vormarsch der Rechtspopulisten und das Heraufdämmern neuer Flüchtlings-, Konjunktur- und Schuldenkrisen machen mehr als deutlich, wie dringend die Menschen in Europa auf die EU angewiesen sind – auch und gerade diejenigen, die deren Sinn in Frage stellen.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Ratspräsidentschaft: Deutschland trägt eine besondere Verantwortung für den Zusammenhalt der EU
Veröffentlicht: 
Vorwärts-Spezial, 1/2020, S. 7