Ein neuer Rüstungswettlauf droht
Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher haben in den vergangenen Monaten mehrfach angemahnt, dass Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle wieder auf die Tagesordnung der internationalen Politik zu setzen. Die amerikanischen Präsidentschaftskandidaten John McCain und Barack Obama wollen so schnell wie möglich mit Russland einen Vertrag über die Begrenzung der strategischen Atomwaffen vereinbaren. Und erst vor wenigen Tagen hat der russische Präsident Dmitri Medwedew angeboten, eine neue Sicherheitsarchitektur auf der nördlichen Halbkugel von Vancouver bis Wladiwostok zu errichten - einschließlich weitreichender Abrüstungsverpflichtungen.
Worauf sollten sich Rüstungskontrollverhandlungen konzentrieren? In Europa muss der angepasste Vertrag über den Abbau der konventionellen Streitkräfte (AKSE) unbedingt gerettet werden. Außerdem müssen aus europäischer Sicht die taktischen Kernwaffen abgerüstet werden. Diese Überbleibsel aus dem Kalten Krieg mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern haben weder eine Berechtigung noch einen militärischen Wert.
Darüber hinaus müssten die Atommächte, allen voran die USA und Russland, ihre strategischen Waffen weiter abrüsten. Die Rückführung auf wenige Hundert strategische Atomwaffen wäre ein wichtiges Signal für Abrüstung und die Herstellung von Stabilität. Dies erfordert allerdings, dass auch Frankreich, Großbritannien und die Volksrepublik China nachziehen und auf Verbesserungen ihrer Arsenale verzichten.
Die Regierung Bush hat mit der Raketenabwehr vor allem auf ein Rüstungsprojekt gesetzt, um der Verbreitung von Atomwaffen und Trägerraketen zu begegnen. Bei der Nato ist ein vergleichbarer Beschluss, wenn auch für ein kleineres System, auf dem Gipfel in Bukarest getroffen worden.
Auf den ersten Blick ist die amerikanische Raketenabwehr eine überzeugende Antwort auf die Bedrohung durch ballistische Trägermittel. Vorausgesetzt, ein derart komplexes und anspruchsvolles System wie die Raketenabwehr würde funktionieren, könnte es Angriffe außerhalb der Atmosphäre im wahrsten Sinne pulverisieren. Zugleich könnte die Raketenabwehr den vorherrschenden Rüstungsautismus durchbrechen. Ein rein defensives System provoziert keine Rüstungswettläufe
So weit, so gut.
Problematisch ist jedoch die Kombination einer nominell defensiven Raketenabwehr mit einem System, das auch zu Angriffen in der Lage ist. Handelt es sich dabei um ein breitgefächertes Angebot offensiver Fähigkeiten, wie die, über die die USA verfügen, wird ein solches Raketenabwehrsystem in den Augen potenzieller Gegner das letzte Bindeglied in einem Geflecht sich gegenseitig bedingender Teilrüstungen. Staaten, die sich herausgefordert fühlen, rüsten auf mit dem Ziel, die Raketenabwehr durch Überrüstung und die Fähigkeit zu schneller Offensive zu überwinden.
Eine neue Regierung in Washington wird das Projekt eines Raketenabwehrschildes nicht beenden. Vielleicht wird sie einzelne Bausteine zurückfahren oder aufgeben. Auch die Nato wird ihren Beschluss nicht rückgängig machen. Und andere Länder, wie Russland oder China werden ähnliche Rüstungssysteme entwickeln, anschaffen und stationieren. Würden diese Vorhaben weiterhin ungeregelt umgesetzt werden, droht ein neuer Rüstungswettlauf.
Deshalb ist es an der Zeit, die Rüstungskontrolle wieder zu Wort kommen zu lassen. Ein Abkommen, ähnlich dem von George W. Bush gekündigten ABM-Vertrag, muss in den kommenden Jahren verhandelt und geschlossen werden. Eine Begrenzung der Raketenabwehr auf wenige Systeme würde ausreichen, um den vorhandenen Gefahren zu begegnen. Für Europa wäre es ein Sicherheitsgewinn.