Neue Wege in der Russland-Politik
Wer heutzutage für neue Initiativen in der Russlandpolitik wirbt, bekommt nicht selten umgehend das Etikett des „naiven Russland-Verstehers“ verpasst. Deshalb vorweg: Ja, der russische Staat hat das Völkerrecht gebrochen, führt in der Ostukraine und in Syrien Krieg, versucht die EU und die westlichen Demokratien zu destabilisieren und ist womöglich sogar Schuld an der Wahl Donald Trumps. Es wird nicht besser dadurch, dass auch andere Staaten Völkerrecht gebrochen haben und mehr und mehr auf das Recht des Stärkeren setzen. Entscheidend sind jedoch die Fragen: Was folgt daraus? Und wie geht man mit dieser hochexplosiven und schwierigen Ausgangslage um? Gießt man weiter Öl ins Feuer oder versucht man, die Spirale der gegenseitigen Beschuldigungen, Vorhaltungen und Denkverbote zu überwinden?
Ich bin überzeugt: Wir brauchen eine Politik, die mit neuen Initiativen und Formaten dazu beiträgt, Blockaden aufzubrechen und aus Sackgassen herauszukommen. Eine Politik, die von der Akzeptanz und einer schonungslosen Analyse des Status quo ausgeht und versucht, diesen mit einer pragmatischen Politik der kleinen Schritte zu überwinden. Die von Egon Bahr konzipierte und von Willy Brandt umgesetzte Ost- und Entspannungspolitik der 1960er und 1970er Jahre war genau dies.
Wir brauchen – heute wie damals – eine ideologiefreie Durchbrechung von Blockaden und Denkverboten bei schonungsloser Benennung der Gegensätze. Es geht nicht darum, sich die russische Seite schönzureden. Es führt aber kein Weg daran vorbei, dass wir Russland brauchen und es deshalb notwendig ist, auch gemeinsame Interessen zu definieren. Dies muss zusammen mit unseren europäischen Partnern – und nicht über deren Köpfe hinweg – geschehen.
Der Vorwurf, der Westen hätte Russland keine Angebote gemacht ist ganz offensichtlich falsch. Gerade Deutschland hat eine Unzahl von Initiativen und Angeboten auf den Weg gebracht. Um den Stillstand zu überwinden, sollten wir jedoch neue Kooperationsformen zwischen den euro-atlantischen Institutionen und den Organisationen großer Teile der ehemaligen Sowjetunion auf den Weg bringen. In diesem Sinne hat bereits die OSZE während der deutschen Ratspräsidentschaft eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit in einem gemeinsamen europäisch-eurasischen Wirtschaftsraum zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht.
Warum nimmt man Moskau nicht beim Wort und bietet ihm neue Beziehungen und Kontakte zu den von ihm dominierten Institutionen wie der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und der Organisation für den Vertrag über kollektive Sicherheit (OVKS) an? Dies hätte zum einen den Vorteil, dass die Interessenkonflikte „regionalisiert“ würden und sich nicht nur Russland und „der Westen“ gegenüberstünden, sondern die EU und die EAWU (Russland, Belarus, Kasachstan, Armenien und Kirgistan) und – unter dem Dach der OSZE – die NATO und die OVKS (Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Belarus und Russland). Zum anderen käme man damit dem russischen Bedürfnis nach „Augenhöhe“ entgegen.
Im Gegensatz zu einer langen Reihe früherer Integrationsvorhaben hat sich die EAWU im postsowjetischen Raum inzwischen fest etabliert. Die EFTA-Länder Schweiz und Norwegen verhandeln bereits seit einigen Jahren ein Freihandelsabkommen mit der Eurasischen Wirtschaftsunion. Auch China führt Gespräche und sieht die EAWU im Rahmen seines Seidenstraßenprojekts als wichtigen Transitraum auf dem Weg nach Europa. Was fehlt ist ein klares Mandat für die EU-Kommission, einen entsprechenden Dialog zu beginnen. Es geht um einen realistischen Ansatz und einen langen Atem.
In Russland scheint derzeit die Einsicht zu wachsen, dass angesichts der tiefen wirtschaftlichen Krise und der Folgen der westlichen Sanktionen eine Entspannung und enge Partnerschaft mit der EU für die eigene Modernisierung notwendig ist. Zumal sich die Hoffnung, die VR China würde Russland als gleichwertigen Partner akzeptieren, mittlerweile als haltlos erwiesen hat.
Die OVKS wiederum ist die einzige rein militärische Regionalorganisation im postsowjetischen Raum, die über ein breites Spektrum an Institutionen zur Reaktion auf unterschiedliche Arten externer Bedrohungen verfügt. Doch bisher fehlt es an einer gemeinsamen Zielsetzung, die die Mitgliedsstaaten mit ihren unterschiedlichen Interessen verbinden könnte. Die OVKS hat allerdings durchaus Potenzial und Möglichkeiten zur transregionalen Kooperation im Bereich der Bekämpfung neuer Sicherheitsbedrohungen. Warum initiiert man nicht unter dem Dach der OSZE gemeinsame Arbeitsfelder von NATO und OVKS zu vertrauensbildenden Maßnahmen und Rüstungskontrolle?
Die militärischen Risiken müssen reduziert werden, etwa durch Beschränkungen bei Manövern, Truppenstationierungen in den gefährdeten Zonen, funktionsfähige Kommunikationskanäle und effektive Inspektionen sowie durch eine Stärkung des Wiener Dokuments zu Vertrauens- und Sicherheitsbildenden Maßnahmen. Es gilt zudem, die stockende oder abgebrochene Rüstungskontrolle wieder aufzunehmen und auf unbemannte Flugkörper, die Raketenabwehr, zielgenaue Präzisionswaffen und Cyberfähigkeiten auszudehnen. Der INF-Vertrag muss erhalten werden, auch wenn dies eine Neubewertung der Raketenabwehrprogramme der NATO in Europa erfordert. Die deutsche Diplomatie muss jede Chance auf eine Verständigung und Kooperation mit Russland sorgfältig ausloten – zusammen mit unseren Partnern und illusionslos. Parallel dazu können Parteien, zusammen mit gleichgesinnten Bewegungen, diesem Prozess den Boden bereiten. Kluge Außenpolitik kann nicht warten, bis überall Demokratien existieren, sondern sie bewährt sich gerade im Umgang mit Andersdenkenden.