Das neue strategische Konzept der NATO

Die NATO ist wieder einmal dabei, sich neu zu definieren. Der erste Generalsekretär des Bündnisses, der Brite Lord Ismay, brachte den Daseinszweck der alten NATO noch prägnant auf den Punkt, als er bemerkte, sie sei dazu da "to keep the Americans in, the Russians out and the Germans down". Ganz so einfach lässt sich das Aufgabenspektrum des Bündnisses nun mehr 61 Jahre nach seiner Gründung nicht mehr beschreiben. Heute vereinigt die NATO in sich 70 Prozent aller Militärausgaben des Planeten und übertrifft so alle potenziellen Rivalen. Das Bündnis ist also eine bemerkenswert erfolgreiche Organisation. Es ist allerdings auch bemerkenswert unsicher, was seine Rolle und seine Zukunft angeht. Denn wer ist heute Gegner? Was sind gemeinsame Interessen? Und wie geht man mit Krisen richtig um?

Die Antworten auf diese Fragen sind komplizierter geworden. Art und Anzahl der Aufgaben und Herausforderungen haben sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts dramatisch verändert. Zudem hat sich die Zahl der NATO-Mitglieder von 16 zu Zeiten des Kalten Krieges auf mittlerweile 28 nahezu verdoppelt. Diese 28 Nato-Mitglieder haben wiederum 28 unterschiedliche Vorstellungen über die künftige Rolle des Bündnisses, die von der Rolle des Weltpolizisten bis zur Konzentration auf die Verteidigung der Mitgliedstaaten reichen. Mit einem neuen strategischen Konzept, das auf am 19. und 20. November auf dem Gipfeltreffen in Lissabon von den Staats- und Regierungschef verabschiedet werden soll, versucht man analog zur Quadratur des Kreises die unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten in einem gemeinsamen Dokument zu bündeln. Eine zwölfköpfige internationale Expertengruppe unter Leitung der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright hat bereits im Vorfeld NATO-Generalsekretär Rasmussen zugearbeitet und ihm in einem 55seitigen Papier mit dem Titel ?NATO 2020? einen Vorschlag unterbreitet. Die Außen- und Verteidigungsminister der Allianz werden am 14. Oktober dann erstmals über einen konkreten Textvorschlag beraten, den Rasmussen dann im November den 28 Regierungen vorlegen will. Folgende Eckpunkte werden darin enthalten sein: Die Frage nach den Partnerschaften, die Bedeutung der Beistandspflicht nach Artikel 5 der NATO-Vertrages, die Rolle der Atomwaffen und die Bedeutung der Raketenabwehr sowie die Frage nach der globalen Rolle des Bündnisses.

Das Albright-Papier stellt eine Reihe wichtiger Fragen und bietet wichtige Diskussionsanstöße. Vieles fehlt aber auch oder bleibt ausgeklammert - u.a. die Frage des internationalen Rechts und der übergeordneten Rolle des UN-Sicherheitsrates sowie Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Entscheidend wird deshalb der Text sein, den Rasmussen den Regierungschefs vorlegen wird und der aller Voraussicht nach ein Dokument des kleinsten gemeinsamen Nenners werden wird. Sobald dem Bundestag der Entwurf vorliegt, plant der Auswärtige Ausschuss zusammen mit dem Verteidigungsausschuss hierzu eine öffentliche Anhörung durchzuführen.

Eine neue Ära der Partnerschaften?

Die NATO reagierte auf das Ende des Kalten Krieges mit dem Angebot einer engen Partnerschaft mit den ?Gegnern von Einst?. Inzwischen hat das Bündnis weit mehr Partner als Verbündete. Im sogenannten ?Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat?, der Nordamerika und Europa abdeckt, sind es allein 22 Länder; hinzu kommen ein Kooperationsprogramm für den Mittelmeerraum, eines für den weiteren Nahen Osten sowie bilaterale Verbindungen zu Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea. Das Zeitalter der asymmetrischen Bedrohungen hat das Bündnis nicht nur militärisch auf andere Kontinente ausgreifen lassen (Afghanistan, Golf von Aden), sondern eben auch politisch-diplomatisch.

Die Pflege von Partnerschaften mit anderen Staaten und Organisationen ist folglich auch für die Albright-Gruppe unverzichtbarer Teil einer vorausschauenden Strategie und eine der Kernaufgaben des Bündnisses. Die NATO kann und will nicht auf allen möglichen Schauplätzen aktiv werden, und da, wo sie es wird, kann sie nicht immer die Hauptrolle spielen. Die Kooperation in bestehenden Foren, etwa in der Partnerschaft für den Frieden, soll vertieft und durch neue Formate auch in anderen Weltgegenden ergänzt werden. Gleichzeitig soll die Tür in der näheren Nachbarschaft für allfällige Neumitglieder offen bleiben.

Hier stellt sich jedoch die Frage, wie viele neue Mitglieder die Nato noch verkraften kann? Wenn Georgien im vergangenen August Mitglied gewesen wäre - hätte die Nato einen Krieg mit Russland riskiert? Und wie weit außerhalb Europas sollte das Bündnis überhaupt noch operieren? Wo soll die NATO enden und wie kann der Schutz der Neumitglieder gewährt werden? Die Antwort auf die letzte Frage ergibt sich für die meisten Europäer aus Artikel 10 des NATO-Vertrages. Dort heißt es, dass die NATO "jeden anderen europäischen Staat" zum Beitritt einladen könne, sofern er die Zustimmung aller findet. Demnach bliebe die NATO auf Dauer ein europäisches Bündnis mit den zwei nordamerikanischen Mitgliedern USA und Kanada. In den USA mehren sich hingegen seit Jahren die Stimmen, nach einer globalen NATO, die durch ihre Ausdehnung in die Kaukasusregion die Sicherheits- oder Energie-Interessen ihrer Mitglieder wirkungsvoller vertreten könne. Ähnlich würde nach dieser Logik eine Aufnahme Israels in die NATO die Stabilität im Nahen Osten verbessern. Auch eine NATO-Norderweiterung um Finnland und Schweden wird vor dem Hintergrund der wachsenden strategischen Bedeutung des Nordens - Stichwort: Rohstoffvorkommen der Arktis - mittlerweile wieder verstärkt diskutiert. Es bleibt insofern abzuwarten, ob und welche Staaten zur NATO der 28 noch dazu kommen werden.

Zur Rolle der Atomwaffen

Auch die Wechselbeziehungen von nuklearer Abrüstung, Abschreckung und Abwehrsystemen sorgen in den Diskussionen um das neue Strategiedokument für Zündstoff. Die jüngst wiederbelebte Debatte um vollständige nukleare Abrüstung («Global Zero») hat nicht nur Auswirkungen auf die strategischen Arsenale der USA und Russlands, sondern auch auf die Frage nach der Zukunft der nuklearen Abschreckung als Bestandteil der NATO-Strategie. Sind Kernwaffen als Mittel der amerikanischen erweiterten Abschreckung eines Angriffs auf Europa sinnvoll? Was ist von der nuklearen Teilhabe europäischer Staaten, darunter auch Deutschlands, zu halten? Wie soll die NATO auf das Aufkommen neuer Nuklearmächte reagieren?

"Solange Atomwaffen existieren, sollte die NATO sichere und verlässliche Nuklearkräfte behalten", heißt es mit Verweis auf Staaten wie den Iran und Nordkorea in den Empfehlungen der Experten.

Das nukleare Dispositiv der NATO besteht bislang aus amerikanischen und britischen nuklear bestückten U-Booten, die im Ernstfall dem Oberkommandierenden der NATO unterstellt werden können sowie 150 bis 200 in Europa gelagerten taktischen Nuklearwaffen in Belgien, Deutschland, Niederlande (je 10 bis 20), Italien (70 bis 90) und der Türkei (50).Angesichts der Debatten im Vorfeld sind wesentliche Änderungen der Rolle nuklearer Waffen wenig wahrscheinlich. Am ehesten ist noch ein modifizierter Verzicht auf den Ersteinsatz zu erwarten. Ein Abzug der verbliebenen taktischen Nuklearwaffen auf europäischem Boden kann hingegen ausgeschlossen werden. Vor allem den osteuropäischen NATO-Mitgliedern ist es aus Furcht vor Russland wichtig, dass die USA in Europa ihre nukleare Abschreckung nicht aufgeben, zumal Russland über ein Arsenal von schätzungsweise 5.400 atomaren Sprengköpfen, von denen etwa 2.000 als einsetzbar gelten, verfügt. Der Initiative von Guido Westerwelle, der gemeinsam mit den Benelux-Staaten und Norwegen dafür geworben hatte, in die von Obama angestoßene Abrüstungsdiskussion auch die taktischen Nuklearwaffen in Europa einzubeziehen, dürfte somit kein Erfolg beschieden sein. Der selbst ernannte Abrüstungsminister Westerwelle droht somit als Ankündigungsminister zu enden.

Nukleare Abrüstung und Abschreckung sind dabei unmittelbar mit der strategischen Raketenabwehr verknüpft. Denn sollte die Bedeutung nuklearer Abschreckung in der Nato-Strategie abnehmen, gewinnt Raketenabwehr als Komponente einer neuen Abschreckungstriade aus Kernwaffen, konventionellen Offensivwaffen und defensiven Verteidigungssystemen an Relevanz. Zudem sind neue Ansätze der NATO im Bereich konventioneller Rüstungskontrolle (Stichwort: AKSE) gefordert, die wiederum entscheidend von der Ausgestaltung der Beziehungen zu Russland abhängen.

Russland und die Raketenabwehr

Ziel der neuen NATO-Strategie soll es sein, gemeinsam mit Russland so viel Sicherheit wie möglich zu organisieren. Dabei soll vor allem in Abrüstungsfragen und bei der Piraten- und der Drogenbekämpfung stärker als bisher kooperiert werden. Allerdings dürfte Moskau auch nicht entgehen, dass osteuropäische Länder wie Polen oder die baltischen Staaten im Rahmen der neuen Strategie eine stärkere sicherheitspolitische "Rückversicherung" durch die NATO-Partner eingefordert haben. Für sie bleibt Russland das beherrschende Sicherheitsrisiko.

Kernstück des neuen ?Nato 2020?-Konzepts ist eine eigene, heftig umstrittene, weil von Russland nach wie vor abgelehnte Raketenabwehr. "Der Schutz vor einem möglichen Raketenangriff des Iran ist der Ausgangspunkt für etwas, was für die Nato zu einer unerlässlichen militärischen Aufgabe geworden ist", heißt es dazu in dem Bericht. Die von den USA vorangetriebene Raketenabwehr stehe in Europa nun "voll im Zusammenhang mit der NATO". Immerhin soll Moskau in die Planungen eingebunden werden. Konventionelle Angriffe seien in den kommenden zehn Jahren unwahrscheinlich. Am wahrscheinlichsten seien vielmehr Angriffe durch Raketen, Anschläge internationaler Terroristen und "Computerangriffe unterschiedlicher Intensität". Da sich der Aufbau der Raketenabwehr wohl kaum verhindern lassen wird, ist es unabdingbar, dass diese - zumindest im Verhältnis zu Russland - nicht konfrontativ sonder kooperativ gestaltet wird. Zudem ist es auch auf dem Feld der Raketenabwehr höchste Zeit, die Rüstungskontrolle wieder zu Wort kommen zu lassen. Ein Abkommen, ähnlich dem von George W. Bush gekündigten ABM-Vertrag, sollte deshalb in den kommenden Jahren verhandelt und geschlossen werden. Eine Begrenzung der Raketenabwehr auf wenige Systeme würde ausreichen, um den vorhandenen Gefahren zu begegnen. Für Europa wäre dies ein Sicherheitsgewinn.

Das Ende der Eiszeit zwischen Russland und der NATO hat mit dem neuen START-Vertrag zudem erste Erfolge gebracht. Die neue Entspannung zwischen den beiden Nuklearweltmächten hängt dabei nicht nur mit der neuen US-Administration zusammen, sondern hat durchaus pragmatische Gründe. So wächst bei beiden Seiten die Erkenntnis, dass man sich braucht.  Die USA sorgen sich um ihre Nachschubrouten nach Afghanistan, sind zur Abrüstung ihrer Atomraketen bereit und wollen den gemeinsamen Kampf gegen den Terror verstärken. Putin wiederum hat erkannt, dass eine Strategie, die auf hohe Öl- und Gaspreise setzt, angesichts der dramatischen Weltwirtschaftskrise verfehlt ist - auch Russland braucht Hilfe. Sogar über eine "neue europäische Sicherheitsarchitektur", wie sie Medwedjew vorschlug, wird nun beraten. Dies macht Hoffnung, dass der NATO-Gipfel und das neue strategische Konzept auch eine neue Ära der Partnerschaft mit Russland einläuten werden.

Regionales Bündnis oder globale Allianz?

Zu ihren Hochzeiten verstand sich die NATO sowohl als kollektives Verteidigungsbündnis, kooperatives Sicherheitssystem, bewaffneter Arm der UNO und gesamteuropäische Alternative zur OSZE. Dies hat sich mit dem 11. September 2001 - wie so vieles - grundlegend geändert. Zwar rief die NATO unmittelbar nach den Anschlägen den Bündnisfall aus und ist spätestens mit dem Engagement in Afghanistan endgültig zur global agierenden NATO geworden - zugleich ist das Bündnis auf der Suche nach seiner Identität. Auch stellt sich die Frage, ob sich die "Operation Enduring Freedom" mehr als sieben Jahre nach dem 11. September tatsächlich noch durch das Recht auf Selbstverteidigung begründen lässt.

Festzuhalten bleibt, dass die durch das Ende der Sowjetunion und den (militärischen) "Erfolg" im Kosovo ausgelöste Euphorie über eine NATO, die fast alles kann, der Ernüchterung über die Beschränktheit ihrer Kräfte gewichen ist. Die Hoffnung, dass sich aus einer globalen Einsatzpraxis ein neuer Westen quasi naturwüchsig herausschält und die NATO zu einem, vielleicht sogar dem entscheidenden Spieler in der internationalen Sicherheitspolitik macht, konnte sich nicht erfüllen. Im Gegenteil: Wenn der mächtigste Militärapparat der Welt auf anderen Kontinenten aktiv wird, löst dies fast zwangsläufig Misstrauen über die Motive aus. Selbst bei der Erdbebenhilfe in Pakistan musste die NATO Zweifel zerstreuen, dass der humanitäre Beistand nur das Einfallstor sein sollte, um sich in dem Land festzusetzen.

Die Albright-Gruppe versucht dem Rechnung zu tragen und schlägt vor im neuen strategischen Konzept erstmals auch Leitlinien für die Beschlussfassung zu Out-of-area-Einsätzen festzulegen. Zu den Kriterien gehören unter anderem das Maß und die Unmittelbarkeit der Gefährdung, der Wille und die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, die für einen erfolgreichen Einsatz nötigen Mittel bereitzustellen, und die Unterstützung durch die eigene Bevölkerung.  Dabei wird betont, dass die NATO nicht den Anspruch hat, Weltpolizist zu sein. In dem Bericht wird ein "Drei-Kreise-Modell" favorisiert, wonach je weiter eine Bedrohung vom Bündnisgebiet entfernt liegt, desto weniger wahrscheinlich es ist, dass die NATO alleine eingreift. Der erste Kreis umfasst somit das Bündnisgebiet, der zweite reicht ins nähere Umfeld hinein und der dritte Kreis umfasst den Rest der Welt. Dort würde sich die NATO nur im Zusammenspiel mit den Vereinten Nationen, der Europäischen Union oder etwa der Afrikanischen Union engagieren. Unklar bleibt in dem Bericht die Rolle der Vereinten Nationen und die Frage der Mandatierung.

Deshalb sollte die Hauptverantwortung des UN-Sicherheitsrates im neuen strategischen Konzept ausdrücklich festgeschrieben werden. Bereits im strategischen Konzept von 1999 findet sich immerhin die auf französisches Drängen hinein genommene Formulierung in Art. 7, in der auf ?die in erster Linie bestehende Verantwortung des Sicherheitsrates für die Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit? verwiesen wird. Einigkeit scheint zumindest darüber zu bestehen, dass die NATO keine globale Allianz ist und daher nicht anstelle der UNO zur Weltpolizei werden kann - zumal nur der UN-Sicherheitsrat Militäreinsätze legitimieren kann und darf. Aber sie bleibt eine regionale Allianz mit globalen Aufgaben, die ihre Dienste anbieten und ihre Kernfunktion - Schutz für ihre Mitglieder - wahrnehmen kann. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Mit anderen Worten: Wenn sich die NATO-Staaten einig sind, können sie den Kern globaler Koalitionen bilden, wenn sie uneins sind, gibt es keine globalen Koalitionen.

Abrüstung und Rüstungskontrolle wieder auf die Agenda setzen

Es ist zudem dringend notwendig, dass sich das mächtigste Militärbündnis der Welt auch in seinem neuen strategischen Konzept wieder verstärkt mit Abrüstung und Rüstungskontrolle beschäftigt und seinen Beitrag dazu leistet, um die Erosion wichtiger internationaler Kontrollregime wie des Atomwaffensperrvertrages oder des KSE-Vertrages zu stoppen.

Rüstungskontrolle muss auf der Agenda des Bündnisses ganz nach oben rücken. Ein starkes Profil der NATO auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung stärkt zugleich auch die Sicherheit des Bündnisses - zumal die Allianz damit an eine gute und erfolgreiche Tradition anknüpft. Auch in der Vergangenheit hat die NATO neben der militärischen Abschreckung immer auch die Bereitschaft zum Dialog und zur Zusammenarbeit angeboten, sei es im Harmel-Bericht von 1967, in der Londoner Erklärung von 1990 oder im strategischen Konzept von 1999. Der NATO-Russland-Rat, der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat, die NATO-Ukraine-Charta, die Partnerschaften für den Frieden und der NATO-Mittelmeerdialog dokumentieren eindrücklich die Bemühungen des Bündnisses um Zusammenarbeit und Kooperation. 

Außenminister Frank-Walter Steinmeier hatte sich während seiner Amtszeit unermüdlich darum bemüht, z. B. in der deutsch-norwegischen NATO-Initiative vom 7. Dezember 2007, im Bereich der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle außenpolitische Spielräume zu nutzen. Dass es auf dem NATO-Gipfel am 3./4. April 2008 gelang, Abrüstung und Rüstungskontrolle als genuine Aufgabe der NATO in das Abschlusskommuniqué von Bukarest mit aufzunehmen (Ziffer 39 der Gipfelerklärung von Bukarest) und die bislang noch skeptischen Partner USA und Frankreich einzubinden, war ein Erfolg der deutschen Diplomatie. Es bleibt zu hoffen, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle im neuen strategischen Konzept den Platz eingeräumt bekommen, den sie verdienen.

Fazit

Die Bündnispartner haben ihre Strategiekonzepte nicht oft geändert: 1952, 1967, 1991 und 1999. Das noch immer gültige strategische Konzept der NATO ist mittlerweile zehn Jahre alt und auf dem 50-jährigen Jubiläumsgipfel in Washington verabschiedet worden. Eine Anpassung an die Herausforderungen der Gegenwart ist für viele überfällig. Diese sind mit den Stichworten Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, atomares Wettrüsten, Cyberterrorismus, Klimawandel, Ressourcenknappheit, Energiesicherheit, Staatszerfall und asymmetrische Konflikte beschrieben. Schon anhand dieser Aufzählung wird deutlich, dass die sicherheitspolitische Herausforderungen, denen sich die NATO-Mitglieder gegenübersehen zunehmend nichtmilitärischer Natur sind. Die neuen Bedrohungen machen das Militär zwar nicht überflüssig, aber sie marginalisieren es.

Die größte Stärke der NATO, ihre Fähigkeit zur Anpassung, ist mittlerweile auch ihr größtes Problem: Die NATO ist inzwischen zur multifunktionalen Sicherheitsinstitution mutiert, unter der jeder etwas anderes versteht: Die Amerikaner eine Antiterroreinheit und einen Werkzeugkasten für multilaterale Ad-hoc-Koalitionen, die (alten) Europäer einen kooperativen Sicherheitsrahmen und eine (womöglich die einzige) Möglichkeit die Politik der USA zu beeinflussen; die Russen ein politisches Koordinationsgremium und die alten und die neuen Beitrittskandidaten ein Verteidigungsbündnis zur Rückversicherung gegen künftige russische Hegemoniebestrebungen.

Die große Frage wird deshalb lauten, ob es gelingen kann, die verschiedenen ?Allianzen? auch künftig beieinander zu halten, oder ob die inneren Widersprüche so groß werden, dass das Bündnis daran zerbricht. Diese können auch durch eine neue NATO-Strategie nicht gelöst werden. Bündniszusammenhalt und glaubwürdige Solidarität lassen sich nicht auf einem Blatt Papier erzeugen.  Ein neues strategisches Konzept ist wichtig, es kann aber nur ein Kompass für die Zukunft der NATO sein. Wird es als Ersatz für politische Führung verstanden, steuert die Allianz schwierigen Zeiten entgegen. Gebraucht wird deshalb eine Strategie, die auf Zusammenarbeit und Rüstungskontrolle setzt - nicht nur mit Russland, sondern auch mit den großen globalen Partnern in der neuen multipolaren Weltordnung. Dabei geht es auch um eine realistische Einschätzung dessen, was die NATO leisten soll und vor allem kann. Will die NATO überleben, wird sie sich bescheiden müssen.
 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Wo ist der Platz der Allianz in einer sich rasch ändernden Welt?
Veröffentlicht: 
Nord-Süd Info-Dienst, 104/2010, S. 2-6