Die neue Normalität - auch für unsere Demokratie

In der Coronakrise war zunächst schnelles Handeln der Regierung wichtig. Jetzt wird das Parlament deren Entscheidungen überprüfen, debattieren und falls nötig korrigieren - denn hier schlägt das Herz unserer Demokratie.

Unser Land befindet sich seit Wochen im Ausnahmezustand, auch wenn wir in den vergangenen Tagen unserem gewohnten Leben wieder ein Stück nähergekommen sind. Die Sehnsucht nach Normalität ist überall greifbar. Doch: Was ist normal, heute und morgen? Das zu beantworten, ist vor allem die Aufgabe des Parlaments. In den nächsten Wochen werden entscheidende Weichen für unsere Zukunft gestellt: Bundeshaushalt, nachhaltige Wachstumsimpulse in Deutschland, sozialer und wirtschaftlicher Neustart in Europa - am Deutschen Bundestag führt hier kein Weg vorbei.

Dass wir jetzt behutsam und begründet die massiven Einschränkungen wieder lockern können, ist kein Zufall. Es ist der Erfolg gemeinsamer Anstrengung: Das Ergebnis einer umsichtigen und entschlossenen Politik, die an einem Strang gezogen hat. Ein gemeinsamer Erfolg ist es aber vor allem deshalb, weil die Menschen in Deutschland auf beeindruckende Weise ihren Teil der Verantwortung in der Coronakrise übernommen und damit zur Beherrschbarkeit dieser großen Krise wesentlich beigetragen haben.

Auch die Politik sah sich in den ersten Wochen mit bis dahin ungekannten Herausforderungen konfrontiert. Sofortmaßnahmen in einem gewaltigen Finanzvolumen mussten auf den Weg gebracht werden. Die Abstimmung mit den Ländern zur Umsetzung der Beschlüsse erforderte schnelles Handeln. Gesetze mussten in Höchstgeschwindigkeit auf den Weg gebracht, beraten und beschlossen werden - weil es die rasante Ausbreitung des Virus verlangte. Und weil die Coronakrise auch sozial und wirtschaftlich immer stärker durchschlug. Die Stunde der Exekutive - so haben es viele beschrieben. Weniger beachtet in dieser Phase, aber nicht minder bedeutsam: der Deutsche Bundestag. Hier schlägt das Herz unserer Demokratie. Und wenn das Tempo anzieht, schlägt es schneller, zuverlässig: Komplexe Sachverhalte mussten in Rekordzeit unter den Bedingungen der Kontakteinschränkungen beraten werden, die natürlich auch die Abgeordneten zu berücksichtigen hatten. Und wir haben sofort reagiert. So wurden in enger Abstimmung zwischen allen Fraktionen zeitlich befristet neue Parlamentsregeln verabschiedet, um während der Pandemie handlungsfähig zu bleiben.

Ein handlungsfähiges Parlament, das meint aber keinesfalls: Das Parlament nickt ab, was die Regierung vorlegt. Denn natürlich haben sich Fachpolitikerinnen und -politiker trotz Kontaktbeschränkungen in die jeweilige Materie eingearbeitet, meist unter hohem Zeitdruck. Regierungs- und Oppositionsfraktionen haben kritisch geprüft, sich in Video- und Telefonkonferenzen ausgetauscht, in der Sache miteinander gerungen. So manchen Regierungsentwurf haben die Koalitionsfraktionen mit eigenen Änderungsanträgen verändert, besser gemacht. Das ist unsere Aufgabe.

Darüber hinaus werden wir in den kommenden Monaten überprüfen, wie die Bundesregierung mit in der Krise beschlossenen Verordnungsermächtigungen umgegangen ist. Um schneller auf die pandemische Herausforderung reagieren zu können, wurden Regelungskompetenzen ganz bewusst auf die Exekutive übertragen. Aber unsere Rolle als Parlament verlangt auch, dass wir jetzt überprüfen, wie die Bundesregierung diese Kompetenzen genutzt hat. Und wo es nötig ist, werden wir diese Regelungskompetenzen wieder ins Parlament zurückverlagern.

Wir sind in die nächste Phase der Krisenbewältigung eingetreten. Einschränkungen werden schrittweise gelockert. Das schafft auch im Bundestag mehr Raum für das unmittelbare, persönliche parlamentarische Miteinander. Das bedeutet aber auch, dass wir wieder mehr öffentliche und auch parlamentarische Debatte führen müssen.

Nur eine intensive öffentliche Debatte - ob in den Ausschüssen oder im Plenum - schafft auf Dauer die notwendige Legitimation, von der jede parlamentarische Demokratie lebt. In diesem Sinne funktioniert der Deutsche Bundestag wie ein Spiegel der Gesellschaft - eine Stärke, die wir gerade in so turbulenten Zeiten voll ausspielen sollten.

Die neue Normalität darf sich nicht auf Abstandsregeln beschränken

Das Parlament ist Garant und Korrektiv dafür, dass Regierungshandeln demokratisch legitimiert ist. Jede und jeder Abgeordnete ist Botschafterin oder Botschafter der Menschen im eigenen Wahlkreis und gleichzeitig Vertreter des ganzen Volkes. Mit ihrem Vertrauen nach Berlin geschickt, ihren Interessen und dem eigenen Gewissen verpflichtet. Die Gewissheit, dass in Deutschland Gesetzentwürfe der Regierung nicht einfach durchgewunken werden, ist ein wichtiger Baustein für das Vertrauen in das Krisenmanagement der Koalition. Die Debatte darüber, ob Einschränkungen und Regeln angemessen sind, über den besten Weg, die Gesundheit zu schützen und gleichzeitig die wirtschaftlichen und sozialen Folgen bestmöglich abzufedern, findet im Parlament statt. Wir sorgen für demokratische Willensbildung und garantieren Mitsprache, auch und gerade in historischen Krisenzeiten.

Die Abgeordneten sind Experten für das Leben der Menschen vor Ort, dafür, wie die Unterstützung im eigenen Wahlkreis ankommt. Wirkt sie, braucht es mehr oder etwas anderes? Das sehen Abgeordnete durch den direkten Kontakt zu Bürgerinnen und Bürgern oftmals früher und sehr viel deutlicher als viele andere.

In ihren Heimatgemeinden treffen die Abgeordneten etwa auf die Folgen der Grenzschließungen in europäischen Regionen, die sich in der Vergangenheit längst nicht mehr an Schlagbäumen orientiert hatten: im Saarland etwa, in Nordrhein-Westfalen oder in Baden-Württemberg. Die Folgen für den Kiez mit seiner bunten Kulturszene sind andere als für das Industriegebiet am Stadtrand oder das Dorf auf dem Land. Das alles sind unverzichtbare Einblicke, die gerade in der nächsten Phase der Krisenbewältigung gebraucht werden: Wenn wir schnell wieder zur gewohnten Normalität zurückkehren wollen und, wo nötig, auch neue Richtungen einschlagen.

Beides zusammen wird Teil der neuen Normalität werden: das Gute wieder schnell aufzubauen, aber auch aus Fehlern zu lernen. Natürlich werden wir auch in Zukunft unterschiedliche Vorstellungen von politischen Zielen und den Wegen dorthin haben. Was uns aber eint, ist die Überzeugung, dass unsere Demokratie stark und lebendig ist. Und dass das Parlament eine elementar wichtige Rolle hierbei spielt. Die Menschen in unserem Land haben in den vergangenen Wochen erfahren, dass unsere Demokratie funktioniert. Dass sie für die Menschen da ist. Dass sie auch unter erschwerten Bedingungen handlungsfähig und leistungsfähig ist. Dass in offenen Debatten über den besten Weg gerungen wird. Diese Wahrnehmung kann sich schnell wieder verändern. Die neue Normalität darf sich deshalb nicht nur auf Abstandsregeln beschränken. Sie sollte das gewachsene Vertrauen ineinander bewahren. Und die Überzeugung stark machen, dass unsere Demokratie ein Schatz ist, den es zu hüten gilt. Das ist uns als Abgeordneten Verpflichtung und Auftrag zugleich.

Zu den Autoren:

Rolf Mützenich, geboren 1959, ist Fraktionsvorsitzender der SPD im Deutschen Bundestag. Mützenich ist direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Köln III und gehört dem Parlament seit 2002 an.

Ralph Brinkhaus, geboren 1968, ist Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Deutschen Bundestag. Brinkhaus ist direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Gütersloh I und seit 2009 Mitglied des Bundestags.

Autor: 
Ein Gastbeitrag von Ralph Brinkhaus und Rolf Mützenich, Fraktionsvorsitzende von CDU/CSU und SPD im Deutschen Bundestag
Thema: 
Parlamentarismus in der Pandemie
Veröffentlicht: 
Spiegel.de, 28.05.2020