Die neue Entspannungspolitik
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz am kommenden Wochenende wird wieder über Werte und Interessen, Eindämmungs- und Entspannungspolitik diskutiert werden. Syrien, der Iran, die Ukraine und die Umbrüche in den arabischen Gesellschaften werden ebenso im Fokus stehen wie das Verhältnis zu Russland.
Die Debatte ist ohne die Vorgeschichte der Entspannungspolitik nicht zu verstehen. Mussten sich Willy Brandt und Egon Bahr von konservativen Kritikern noch böswillige Angriffe gefallen lassen (Verfassungsbruch, Ausverkauf deutscher Interessen, Landesverrat), setzte sich in den Neunzigerjahren zunehmend die Einsicht durch, dass es auch die Ostpolitik war, die den Kalten Krieg überwinden half. Heutzutage jedoch wird sie zunehmend auf Kungeleien mit autoritären Machthabern, Wirtschaftsinteressen und machtorientierte Realpolitik verkürzt.
In einigen Punkten haben die Kritiker recht: Die Entspannungspolitik, die auf dialektischem Wege den Wandel hatte herbeiführen wollen, verlor in den Achtzigerjahren den Wandel selbst aus dem Auge. "Stabilität und Stabilisierung" verkümmerten zunehmend zum Selbstzweck, während sie in der ursprünglichen Konzeption als Mittel zur Liberalisierung der kommunistischen Systeme verstanden worden waren.
Die deutsche Außenpolitik insgesamt, aber insbesondere auch die damalige Opposition, versäumte es - von wenigen Ausnahmen abgesehen - in den Achtzigerjahren, Kontakte zu den Dissidentenbewegungen in Osteuropa und der DDR aufzubauen. Im Gegensatz zu diesen konnten sich viele im Westen bis in den Herbst 1989 hinein offenbar keine andere Ordnung mehr vorstellen als die von Jalta.
Kritiker verkennen jedoch die Erfolge und das Konzept der Entspannungspolitik. Der Westen verhandelte sehr wohl hartnäckig und gegen den erbitterten Widerstand Moskaus auch die Menschen- und Freiheitsrechte in das Abschlussdokument der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Für die osteuropäischen Dissidenten wurde dieses erzwungene Bekenntnis der Regierenden zu universellen Rechten zum Hebel im Kampf gegen die Regime. Die Ostpolitik von Brandt und Bahr war eine auf weite Sicht angelegte Strategie zur Transformation kommunistischer Herrschaft. Dazu gehörten die Schaffung von Regeln und Institutionen im Rahmen der KSZE sowie die Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa durch die BRD - damals noch gegen erbitterten Widerstand der CDU/CSU.
Entspannungspolitik und Wandel durch Annäherung sind heute von unverminderter Relevanz - gerade in Regionen mit neuen, weltpolitisch relevanten Krisen. Damals wie heute muss der Außenpolitiker den Dialog auch mit jenen suchen, deren Herrschaftssystem er verachtet und deren konkrete Politik ihn empört. Er muss den Status quo anerkennen, um ihn zu verändern. Das ist mühsam und gibt keine gute Presse. "Hört auf zu reden, handelt endlich!" Wer verspürt angesichts der Massaker in Afrika und in Syrien und angesichts der Proteste in der Ukraine nicht den Wunsch nach schnellen Lösungen? Im Gegensatz zu denen, die das Privileg haben, Analysen und Handlungsempfehlungen auf dem Reißbrett und ex post zu entwerfen, muss der Außenpolitiker in einer konkreten Situation handeln. Verabredungen mit illegitimen und undemokratischen Herrschern sind unvermeidbar; aber man sollte versuchen, sie so zu gestalten, dass sie auf Öffnung und Transformation zielen. Selbstbewusste Außenpolitik muss sich nicht zwischen Regime und Gesellschaft entscheiden. Die Entspannungspolitik hat in Osteuropa durch das beharrliche Angebot zum Dialog, durch Empathie und geschicktes Verhandeln den inneren Wandel befördert.
In Zeiten neuer Spannungen brauchen wir eine neue Entspannungspolitik. Nach der vorläufigen Verständigung mit dem Iran und den hartnäckigen Vermittlungsbemühungen von John, Kerry im Nahost-Friedensprozess öffnet sich in diesem Jahr ein einzigartiges Fenster der Gelegenheiten für die Region. Die Syrien-Gespräche von Montreux und Genf könnten der Auftakt für erste direkte Hilfen in Syrien sein, aus denen sich später politische Chancen einer Konfliktbearbeitung ergeben. Dabei bleibt Putins Russland ein schwieriger Partner, den wir gleichwohl zur Lösung vieler Probleme brauchen. Russland hat in Folge der Annäherung durch die Entspannungspolitik eine Vielzahl internationaler Konventionen unterzeichnet. Was also spricht dagegen, die russische Rhetorik zu Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Korruptionsbekämpfung, Abrüstung und der zentralen Rolle der Vereinten Nationen beim Wort zu nehmen? Russland an seinen Selbstverpflichtungen zu messen, ist keine Einmischung in innere Angelegenheiten.
Für Menschenrechte und Demokratie kann wiederum nur glaubhaft eintreten, wer diese nicht für eine Ausgeburt amerikanischen Messianismus hält. Menschenrechte sind, obgleich eine "Erfindung" des Westens, dennoch unteilbar. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat nach nur wenigen Wochen im Amt gezeigt, wie eine selbstbewusste Außenpolitik aussehen kann. Die Wirklichkeit ist kompliziert und kluge Außenpolitik muss dieser Komplexität Rechnung tragen. Deswegen ist die Diskussion, ob deutsche Außenpolitik werte- oder interessengeleitet sein soll, rein akademisch. Interessen und Werte sind kein Widerspruch - im Gegenteil, sie bedingen sich wechselseitig. Wir brauchen beides: eine wertebasierte Außenpolitik auf der einen und eine pragmatische Konzentration auf das Machbare auf der anderen Seite.
Dr. Rolf Mützenich ist stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion.