Die Neuausrichtung der deutschen Türkeipolitik 

Es lässt sich nicht leugnen, dass sich die Beziehungen zur Türkei seit dem  gescheiterten Putschversuch vor einem Jahr dramatisch verschlechtert haben. Präsident Erdogan hat die Niederschlagung des Aufstandes dazu genutzt, tausende tatsächliche und vermeintliche Putschisten sowie politische Gegner zu inhaftieren und ein undemokratisches Präsidialsystem zu installieren. Schon im Vorfeld des Referendums hat der türkische Präsident mit seinen rhetorischen Ausfällen, wüsten Beschimpfungen und haltlosen Nazi- und Faschismusvergleichen eine Menge politisches Porzellan zerschlagen. Der Tropfen, der nun das Fass zum Überlaufen brachte, war die vollkommen grundlose und willkürliche Verhaftung des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner Anfang Juli in Istanbul. Darüber hinaus sitzen noch immer neun deutsche Staatsbürger in türkischer Untersuchungshaft. In all diesen Fällen muss das Auswärtige Amt mühsam um den völkerrechtlich zustehenden Anspruch auf konsularischen Zugang kämpfen. 

Am 20. Juli kündigte Außenminister Gabriel eine „Neuausrichtung der Türkei-Politik“  und begründete diese mit der zunehmenden Missachtung rechtstaatlicher und demokratischer Prinzipien (Massenentlassungen, Verhaftungen, Enteignungen), den Einschränkungen der Pressefreiheit, der Inhaftierung deutscher Staatsangehöriger wegen vermeintlicher politischer Strafvorwürfe (insbesondere die Fälle Denis Yücel, Meşale Tolu, Peter Steudtner) und den mittlerweile zurückgenommenen türkischen Verdächtigungen gegenüber deutschen Unternehmen wegen angeblicher „Finanzierung des Terrorismus“. Um der Türkei die Konsequenzen ihre Verhaltens zu verdeutlichen, kündigte Sigmar Gabriel u.a. folgende Maßnahmen an: Verschärfung der Reise- und Sicherheitshinweise, Einschränkungen der Exportkredit- und Investitionsgarantien, die Überprüfung der EU-Vorbeitrittshilfen für die Türkei und eine Aussetzung der Verhandlungen über die Modernisierung der Zollunion. Zudem warnte er alle Deutschen vor willkürlichen Festnahmen in der Türkei und forderte deutsche Investoren auf, die Türkei vorerst zu meiden.  

Die Türkei steht am Scheideweg. Wer, wie Erdogan, Hunderttausende Beamte, Soldaten und Richter entlässt, Zehntausende von Menschen, darunter Abgeordnete, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, ins Gefängnis steckt und Hunderte Presseorgane schließt, will offenbar das Rad der Geschichte zurückdrehen und die in den letzten Jahren aufgebauten Fundamente von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der Türkei wieder rückabwickeln. Deshalb haben wir uns schweren Herzens zu einer Neuausrichtung unserer Türkei-Politik entschlossen. 

Die Türkei ist wirtschaftlich auf Europa angewiesen, das weiß auch Erdogan. Wir haben uns lange zurückgehalten, immer wieder den Dialog gesucht und auf Provokationen nicht mit Konfrontation geantwortet, auch deshalb weil wir über drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in unserem Land haben. Türken und Deutsche verbindet eine lange und reichhaltige gemeinsame Geschichte. Das ist ein großer Schatz, der durch die aktuellen Auseinandersetzungen nicht zerstört werden darf. Die überwältigende Teilnahme von Zehntausenden am Marsch der CHP für Gerechtigkeit sowie die aktuellen Proteste in Istanbul für Demonstrationsfreiheit, Pressefreiheit und Toleranz zeigen, dass das Land vielfältiger, demokratischer und aufgeschlossener ist, als viele glauben. Die Menschen in der Türkei haben es nicht verdient, auf Erdogan reduziert zu werden.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Türkei
Veröffentlicht: 
Stadtgespräch SPD Pulheim, 2/2017, S. 14