Die NATO-Raketenabwehr: Kooperative Sicherheit oder neues Wettrüsten?

Am 19. und 20. November will die NATO auf ihrem Gipfel in Lissabon nach gut einem Jahrzehnt ein neues strategisches Konzept beschließen und sich dabei auch auf einen gemeinsamen Raketenabwehrschild verständigen. Worum handelt es sich konkret? Wie hoch sind die Kosten? Gegen wen richtet sich dieses System? Und: Welche Auswirkungen und Folgen hat es auf und für die europäische Sicherheitsarchitektur?

Wenn von Raketenabwehr die Rede ist, entsteht bisweilen der falsche Eindruck, es handele sich dabei um ein einheitliches komplexes System. In Wahrheit sind es jedoch viele verschiedene Systeme. Ein nationales boden- und seegestütztes US-amerikanisches System mit globaler Reichweite und das noch aufzubauende NATO-System. Daneben existieren eine Vielzahl kleiner Flugabwehrsysteme. Ziel der USA ist es, die europäischen Bündnispartner bis 2018 in ein Netz von Raketenabwehrsystemen einzubeziehen, welches vor allem Angriffe aus Iran abwehren soll ? dies ist zumindest derzeit der einzige namentlich genannte Adressat. Russland - welches immer noch argwöhnt, dass das System sich durchaus auch gegen Moskau richten könnte - wird mittlerweile ausdrücklich zur Beteiligung eingeladen.
 
Die geplante NATO-Raketenabwehr soll vor allem aus der Verbindung bereits vorhandener Raketenabwehrsysteme wie dem amerikanischen PATRIOT-, den französischen ASTER- und dem italienisch-französischen SAMP-T- und künftig möglicherweise dem MEADS-System entstehen. Dabei handelt es sich um so genannten Theater Missile Defense-Systeme, die in erster Linie entwickelt wurden, um die Truppen in Einsätzen außerhalb des NATO-Gebietes zu schützen. Auch wenn der amerikanische Verteidigungsminister und der NATO-Generalsekretär versuchen den Eindruck zu erwecken, das NATO-Raketenschild sei lediglich eine Software-Frage, bei der es um die Verbindung und Vernetzung bereits bestehender nationaler Abwehrsysteme gehe, gestaltet sich das Ganze doch weitaus komplizierter.

Neben der technischen Umsetzung sind vor allem die Kosten und der militärisch-strategische Sinn des Projekts heftig umstritten. So muss erst noch belegt werden, ob die europäischen zu vernetzenden Systeme wirklich einen nennenswerten Sicherheitsbeitrag leisten können. Explodierende Kosten sind wie bei allen Rüstungsprojekten der vergangenen Jahrzehnte nahezu eine Selbstverständlichkeit. Zu den geschätzten 200 Millionen Euro für die Anbindung Europas an die US-Raketenabwehr dürften Milliarden für neue Abfangsysteme in den einzelnen Ländern kommen. Was für die amerikanische Rüstungsindustrie ein lohnendes Geschäft werden dürfte, ist für die NATO ein heikler Spagat. Sie will und muss einerseits streng sparen und rüstet sich andererseits aufwendig für zukünftige Bedrohungsszenarien, deren Wahrscheinlichkeitsgehalt nicht für alle plausibel ist ? zumindest wenn man unterstellt, das Iran ein rational handelnder Akteur ist. Denn warum sollte Teheran Raketen auf das NATO-Territorium abfeuern? Schließlich drohte dann ein nuklearer Gegenschlag. Jedenfalls dürften bis zur Funktionsfähigkeit einer NATO-Raketenabwehr viele Jahre verstreichen. Ob die dafür nötigen Investitionen überhaupt in absehbarer Zeit und angesichts klammer Staatshaushalte aufzubringen sind, weiß derzeit niemand. Vermutlich wird deshalb Vieles auch blanke Theorie bleiben.

So oder so wird das System auf dem NATO-Gipfeltreffen in Lissabon beschlossen werden. Zumal die USA deutlich gemacht haben, dass sie ohne einen entsprechenden Beschluss das System bilateral mit Ländern wie Polen, Tschechien, Rumänien und der Türkei aufbauen werden. Auch das bislang skeptische Deutschland wird mit dem Argument, eine funktionierende Raketenabwehr könne mittelfristig die nukleare Abschreckung der NATO obsolet machen, zustimmen. Das sieht Frankreich wiederum völlig anders. Für Paris ist die Raketenabwehr nicht mehr als eine Ergänzung zur nuklearen Abschreckung - und keinesfalls ein Ersatz.

Auch wenn alle Seiten den defensiven Charakter des Schutzschildes betonen, könnten die dafür vorgesehenen Raketen durchaus auch offensiv genutzt werden. Was defensiv und was offensiv ist, liegt naturgemäß im Auge des jeweiligen Betrachters. Ein funktionierender Abwehrschirm kann je nach politischer Großwetterlage sowohl zu weiteren Abrüstungsschritte bei den Atomwaffen oder zu einem neuen Rüstungswettlauf führen. Denn der weitere Ausbau der Raketenabwehr zu einem funktionstauglichen System könnte aus russischer Sicht auch die russische Zweitschlagfähigkeit untergraben und zu entsprechenden Gegenmaßnahmen Moskaus führen. Deshalb wäre eine vertragliche Begrenzung und Verifikation von Raketenabwehrsystemen sinnvoll und könnte neue Rüstungswettläufe verhindern helfen - auch wenn die Bundesregierung entsprechende initiativen offenbar nicht für erforderlich hält .

Dennoch: Sollten sich die NATO und Russland in Lissabon tatsächlich auf den Aufbau eines gemeinsamen Raketensystems einigen, wäre dies weniger militärisch bedeutsam, als vielmehr politisch. Es signalisiert, dass die NATO offenbar bereit ist, Russland als gleichwertigen Partner zu akzeptieren. Dies ist ein hoffnungsvolles Signal für die Zukunft der europäischen Sicherheit, das es in den nächsten Jahren mit Leben zu füllen gilt.
 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Kommentar zum NATO-Gipfel in Lissabon