Die NATO in der Krise.

Heute vor 40 Jahren, am 14. Dezember 1967, verabschiedete der NATO-Rat den "Harmel-Bericht". Er war das Ergebnis einer intensiv geführten Debatte über die Zukunft des westlichen Bündnisses. Damals übernahm der belgische Außenminister Pierre Harmel den Vorsitz einer Gruppe von hochrangigen Repräsentanten verschiedener NATO-Mitglieder. Statt eines kompromisslosen "Entweder-Oder" zwischen Abschreckung und Entspannung definierte der Harmel-Bericht eine "Doppelstrategie" von militärischer Stärke und einer "Politik der ausgestreckten Hand", die sich historisch als visionär erwies. Damit unterstützte die NATO nicht nur die Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland dieser Jahre sondern auch die Gespräche zwischen den USA und der UdSSR über die Begrenzung ihrer strategischen Nuklearwaffen, und leitete eine erste Phase der Entspannung zwischen Ost und West ein.

40 Jahre danach befindet sich das "erfolgreichste Militärbündnis aller Zeiten" (Volker Rühe) wieder einmal in der Krise. Wie schon Mitte der sechziger Jahre wird intensiv über die Zukunft der Allianz gestritten. Dies ist umso bemerkenswerter als die NATO bis Ende der neunziger Jahre noch als institutionelle "Allzweckwaffe" reüssierte. Immerhin hat das Bündnis seit dem Ende des Ost-West-Konflikts zwei Erweiterungsrunden hinter sich gebracht, mit dem NATO-Russland-Rat, dem Euroatlantischen Partnerschaftsrat, den Partnerschaften für den Frieden und dem Mittelmeerdialog eine ganze Palette von Kooperationsgremien entwickelt und sich auf dem Balkan und in Afghanistan mehr oder weniger erfolgreich als Subunternehmer der UNO betätigt - im Kosovo führte sie 1999 gar einen Krieg ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates. Zu ihren Hochzeiten verstand sich die NATO sowohl als kollektives Verteidigungsbündnis, kooperatives Sicherheitssystem, bewaffneter Arm der UNO und gesamteuropäische Alternative zur OSZE.

Dies hat sich mit dem 11. September 2001 - wie so vieles - grundlegend geändert. Zwar rief die NATO unmittelbar nach den Anschlägen den Bündnisfall aus und ist spätestens mit dem Engagement in Afghanistan endgültig zur globalen NATO geworden ? zugleich ist das Bündnis auf der Suche nach seiner Identität. Auch stellt sich die Frage, ob sich die "Operation Enduring Freedom" sechs Jahre nach dem 11.9.  tatsächlich noch durch das Recht auf Selbstverteidigung begründen lässt. M.a.W.: Die durch das Ende der Sowjetunion und den Erfolg im Kosovo ausgelöste Euphorie über eine NATO, die fast alles kann, ist der Ernüchterung über die Beschränktheit ihrer Kräfte gewichen.

An Vorschlägen über die künftige Rolle der Allianz mangelt es dabei nicht. Auch an Bemühungen, das Bündnis den neuen politischen und militärischen Herausforderungen, den globalen Bedrohungen wie dem internationalen Terrorismus, der unkontrollierten Verbreitung von Massenvernichtungswaffen oder der Gefahr durch zerfallende Staaten anzupassen, hat es in den vergangenen Jahren nicht gefehlt.

Das Problem ist ein anderes: Bei der Bewertung dessen, was eine Bedrohung der Sicherheit ist und darin, wie man auf sie reagieren sollte, tun sich die Bündnispartner zunehmend schwer eine gemeinsame Position zu finden. Einige wollen die NATO zur militärischen Sicherung der Öl- und Gasversorgung einsetzen, was andere strikt ablehnen. Auch die Frage nach weiteren Mitgliedern, der Streit um das geplante Raketenabwehrschild mit Russland, die Zukunft des Vertrages über die konventionelle Rüstungskontrolle und die Energiesicherheit sorgen für Reibungen im Bündnis. Schon in dieser Aufzählung wird deutlich, dass die sicherheitspolitische Herausforderungen zunehmend nichtmilitärischer Natur sind. Die neuen Bedrohungen machen das Militär zwar nicht überflüssig, aber sie marginalisieren es.

Im Kern geht es um die Frage, wofür wir die NATO noch brauchen? Als (westliches) Verteidigungsbündnis oder als globale Eingreif-Allianz? Nach dem Selbstverständnis vieler Mitglieder ist die NATO nach wie vor in erster Linie ein Verteidigungsbündnis demokratischer Staaten. Gerade in einer Vereinigung demokratischer Staaten ist deshalb auch eine Debatte über das Verhältnis von Demokratien und militärischer Gewalt dringend notwendig.

Vor allem in den USA mehren sich dagegen die Stimmen, die argumentieren, dass angesichts der globalen Herausforderungen für die NATO auch ihre Mitgliedschaft global sein sollte. Neben den traditionellen pazifischen Partnern Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea werden in Washington auch Israel, Südafrika, Georgien und die Ukraine als mögliche Beitrittskandidaten gehandelt. Diese "neue NATO" wäre dann jedoch kein Bündnis und keine Wertegemeinschaft mehr sondern realistischerweise eine Art "Dauerpool" von Koalitionen der Willigen unter amerikanischer Führung.

Fest steht nur eins: Zur westlichen Schicksalsgemeinschaft des Kalten Krieges führt kein Weg zurück. Wenn die Nordatlantische Allianz auch in den kommenden Jahrzehnten noch relevant sein will, braucht sie ein einleuchtendes strategisches und politisches Konzept. Die meisten Mitglieder sind sich durchaus darin einig, dass die NATO wieder zum Hauptforum transatlantischer Debatten über globale Sicherheitsprobleme werden muss. Denn die Strukturen der NATO sind funktionsfähig. Woran es mangelt ist eine gemeinsamen Strategie, um diese Strukturen mit Leben zu füllen.

Es wäre deshalb vernünftig eine internationale Expertengruppe einzusetzen, die ein neues politisches und strategisches Konzept erarbeitet, das jedoch mehr sein muss als eine Ansammlung von Beschwörungsformeln zur transatlantischen Freundschaft. Dieser neue "Harmel-Bericht" über die NATO der Zukunft könnte zum 60jährigen Gipfeljubiläum 2009 in Auftrag gegeben werden und zur Grundlage eines neuen strategischen Konzepts werden ? das bisher gültige stammt von 1999. Seine Aufgabe wäre, das Verständnis einer erneuerten transatlantischen Partnerschaft zu entwickeln und die Rolle der Allianz in einer veränderten Welt zu definieren. 

Dazu gehört auch eine engere Abstimmung mit der EU, den Vereinten Nationen, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und den G-8. Damit würde auch der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die Stabilisierung in Konfliktregionen sich nicht auf die militärische Absicherung beschränken darf, sondern auch die politische, diplomatische, ökonomische und rechtliche Dimension berücksichtigen muss. Dennoch: Für militärische Operationen, die Amerikaner und Europäer gemeinsam unternehmen, bleibt die NATO alternativlos. Gemeinsame Stäbe, Doktrinen, Übungen und inzwischen mehr als ein Jahrzehnt Einsatzerfahrung sorgen dafür, dass die Truppen von 26 Mitgliedsnationen (oft im Verbund mit Einheiten aus Partnerstaaten) mit unterschiedlichen Ausrüstungen und Traditionen zusammen arbeiten. Davon ist die EU noch weit entfernt.

Auch wenn die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) noch im Aufbau steckt, sind doch erhebliche Fortschritte erreicht worden. Darauf wird sich auch eine neue NATO-Strategie einstellen müssen. Die institutionellen Beziehungen zwischen beiden Organisationen müssen dringend verbessert und effektiver werden. Hier gibt es einige Hindernisse, die aus dem Weg geräumt werden müssen. So wird in Washington immer wieder geargwöhnt, dass die EU mit der ESVP die Bedeutung der unter amerikanischer Führung stehenden NATO mindern oder gar in Konkurrenz zu ihr bringen will. Darüber hinaus blockiert das NATO-Mitglied Türkei vielfach die Zusammenarbeit von EU/ESVP und Allianz, um damit dem eigenen Anspruch auf Mitgliedschaft in der EU Nachdruck zu verleihen. Es gibt also von beiden Seiten eine noch Menge zu tun, um die bislang nur auf dem Papier stehende Zusammenarbeit zwischen ESVP und NATO real werden zu lassen. Der von US-Präsident Bush vollmundig angekündigte "Aufbruch in eine neue transatlantische Ära" wird sich in Zukunft auch daran messen lassen müssen, wie weit die USA tatsächlich bereit sind, die Europäer als gleichberechtigte strategische Partner anzuerkennen.

Ohne eine couragierte strategische Neuausrichtung wird die NATO vermutlich zu einem sicherheitspolitischen Debattierclub mutieren. Gebraucht wird deshalb ein neues strategisches Konzept, das auf Zusammenarbeit und Rüstungskontrolle setzt - nicht nur mit Russland, sondern auch mit den großen globalen Partnern in der neuen multipolaren Weltordnung. Dabei geht es auch um eine realistische Einschätzung dessen, was die NATO leisten soll und vor allem kann. Dabei sollte man sich von der Einsicht leiten lassen, dass das Bündnis für bestimmte Probleme auf absehbare Zeit zwar die bei weitem beste Lösung bleibt - aber bei weitem nicht die Lösung für alle unsere Sicherheitsprobleme ist und sein kann. Vielleicht nicht einmal für die dringendsten. Die NATO kann nicht anstelle der UNO zur Weltpolizei werden ? zumal nur der UN-Sicherheitsrat Militäreinsätze legitimieren kann. Aber sie kann ihre Dienste anbieten und ihre Kernfunktion - Schutz für ihre Mitglieder - wahrnehmen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Brauchen wir 40 Jahre danach einen neuen Harmel-Bericht?
Veröffentlicht: 
Berlin, 14.12.2007