Nagelprobe für Peking
Unabhängig davon, wie die Krise in Nordkorea und der angrenzenden Region weitergehen wird, steht bereits heute fest: Verlauf und Ausgang werden Einfluss auf die weitere Gestalt des Internationalen Systems haben. Unter anderem wird davon abhängen, ob die Volksrepublik China tatsächlich eine Weltmacht werden will und kann, ob in Asien Regeln und Institutionen für die friedliche Regelung von Konflikten entstehen, ob Kernwaffen in der internationalen Politik künftig eine noch wichtigere Rolle spielen werden und wer über diese Waffen verfügen will. All dies sollte uns interessieren, denn wir werden unter diesen Bedingungen unsere Außenpolitik gestalten müssen. Und wem das nicht reicht: Nordkorea liefert zudem Raketen und Ausrüstung an Länder wie Syrien, einem Kriegsschauplatz an den europäischen Außengrenzen, wo Tod, Flucht und Elend täglich vorherrschen.
Das Vorgehen der Machthaber in Pjöngjang schafft nicht nur Unsicherheit, sondern wirft auch die noch offene Frage auf, ob die neue chinesische Führung bereit und in der Lage dazu ist, einen Ordnungsrahmen in seinem Umfeld zu schaffen, der Konflikte dämpfen und bearbeiten kann. Denn weitere Krisen und Spannungen, die jederzeit in Gewalt umschlagen können, zeichnen sich seit langem ab: Streit um Grenzen an Land und vor allem auf dem Meer, Autonomiebestrebungen, Zugang zu Trinkwasser, Nationalismus, Wettrüsten.
All das spielt sich zudem vor dem Hintergrund des Anspruchs der USA ab, ebenfalls Ordnung in der Region zu schaffen. Sollte es der neuen Führung in Peking gelingen, die Krise zu beruhigen, Nordkorea von völkerrechtswidrigen Provokationen abzuhalten und den Konflikt in einen diplomatischen Prozess zu überführen, der bilaterale Gespräche zwischen den USA und Nordkorea ermöglicht und Regeln für künftige Krisen schafft, wäre der Volksrepublik China der Beweis gelungen, als Ordnungsmacht zumindest in der Region das öffentliche Gut "Sicherheit" herstellen zu können. Der asiatische Raum, die Kernregion der künftigen internationalen Ordnung, würde sich damit mehr oder weniger freiwillig nicht nur den USA, sondern auch der Gestaltungsmacht China unterordnen. Führung erschließt sich erfahrungsgemäß nicht allein aus numerischer Stärke, sondern aus politischer Fähigkeit und Sendungsbewusstsein.
Gelingt dem Machtzentrum in Peking dieser Beweis kluger Politik hingegen nicht, dann werden weitere Länder am Ordnungswillen und an den Fähigkeiten Chinas zweifeln. Mit allen Konsequenzen: der Herstellung eigener Sicherheit durch Aufrüstung bis hin zum Besitz von Atomwaffen, dem Verzicht auf friedliche Streitschlichtung, der Abwesenheit regionaler Sicherheitsinstitutionen und vor allem der Anlehnung an die Schutzmacht USA.
Wenn man sich diese langfristigen Auswirkungen vor Augen führt, treten die möglichen weltpolitischen Konsequenzen der nordkoreanischen Krise deutlich zutage. Und noch mehr: Die Rolle von Atomwaffen in der internationalen Politik ist mit aller Wucht wieder da. Einige Länder - auch außerhalb der Region - könnten aus dem aktuellen Verlauf der nordkoreanischen Atomkrise den Schluss ziehen, dass nur der Besitz von Raketen und nuklearen Sprengköpfen Souveränität und das eigene (politische) Überleben garantieren kann. Und dies, obwohl man derzeit beobachten kann, wie nachteilig und kontraproduktiv nukleare Abschreckung letztendlich ist.
Die Konsequenzen wären noch größere Aufwendungen für Rüstung und Militär, der Aufbau angeblich funktionstüchtiger Raketenabwehrsysteme und die Verfestigung offensiver Sicherheitskonzepte, einschließlich der Rückkehr von Ungewissheit und Angst wie im Kalten Krieg. Kurzum: Es wäre ein neuer Akt von Unsicherheit zwischen Staaten.
Was kann Europa jetzt tun? Zur direkten Krisenbewältigung fehlen uns Einfluss, Kapazitäten und Wille. Dennoch gibt es Handlungsmöglichkeiten: Zwei europäische Länder verfügen noch immer über Atomwaffen und deren Befehlshaber tragen eine große Verantwortung. Deshalb befördern offizielle Stellungnahmen aus London oder Paris, der Besitz von Kernwaffen garantiere eine unabhängige und durchsetzungsfähige Außenpolitik, ähnliche Sichtweisen auch anderswo. Es wäre daher besser, wenn die britische und französische Regierung erklären würden, dass Atomwaffen keine Sicherheit schaffen und man langfristig darauf verzichten könne, so wie es US-Präsident Obama getan hat.
Frankreich und Großbritannien könnten auch gemeinsam beschließen, die kernwaffenfreie Zone in Südostasien (Bangkok-Treaty) vertraglich zu respektieren. Dies wäre ein wichtiges Signal auch an die koreanische Halbinsel, wo ein ähnlicher Vertrag seit Jahrzehnten Ziel der Diplomatie ist. Europa könnte noch intensiver die Zusammenarbeit mit Regionalorganisationen in Asien suchen und anbieten, bei der Lösung von Krisen oder beim präventiven Konfliktmanagement zu helfen. Alles das wäre zwar kein unmittelbarer Beitrag zur aktuellen Bewältigung der Krise um Nordkorea, aber es wäre ein langfristiger Beitrag für den Frieden in der Region.