Eine Massenvernichtungswaffenfreie Zone Mittlerer Osten. Von der Utopie zum Konzept
Auf der XL. Münchener Konferenz für Sicherheitspolitik griff Bundesaußenminister Joschka Fischer die amerikanische Initiative für einen "Greater Middle East" auf und forderte seinerseits eine transatlantische Initiative für den Nahen und Mittleren Osten. Als ersten Schritt regte der Außenminister dabei einen ?gemeinsamen Mittelmeer-Prozess der NATO und der Europäischen Union? an, deren erster Schwerpunkt auf der Entwicklung einer engen politischen Kooperation und Sicherheitspartnerschaft liegen sollte. Dabei müssten, so der Außenminister, "die legitimen Sicherheitsinteressen aller Staaten in der Region [...] in einer auf Transparenz und Verifikation, auf Abrüstung und Rüstungskontrolle beruhenden regionalen Sicherheitskooperation beantwortet werden".
Eine neue Initiative für einen Friedensprozess im Mittleren Osten tut Not und die Zeit dazu ist reif. Die Region ist nicht zuletzt durch die Terroranschläge des 11. September 2001 wieder verstärkt in die öffentliche Wahrnehmung gerückt. Ihre gravierenden Sicherheitsprobleme, die nicht zuletzt in Form des Terrorismus zunehmend auch Europa und die USA bedrohen, haben besonders das Thema der Proliferation von Massenvernichtungswaffen wieder in den Vordergrund treten lassen.
Die internationalen Bemühungen zur Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen können in jüngster Zeit auch eine Reihe von Fortschritten vorweisen: So gab die Führung des Iran im November 2003 dem internationalen Druck nach und unterzeichnete das Zusatzprotokoll zum Nichtverbreitungsvertrag (NPT). Weiterhin zeichnete die Regierung in Teheran eine Erklärung zur iranischen Atompolitik. Libyens Staatschef Muammar al Gaddafi verkündete im Dezember 2003 den Verzicht seines Landes auf Massenvernichtungswaffen und legte sein Atomprogramm offen.
Diese Entwicklungen wirken sich zunächst positiv auf die regionale und globale Stabilität aus. Die Atomprogramme in Libyen und Iran haben allerdings auch deutlich gemacht, wie groß der Schwarzmarkt für Bauteile für Atomwaffen ist und welche Brisanz das Thema Proliferation in der Region hat. Nach Einschätzung des Generaldirektors der IAEA, Mohammed al Baradei, war die Gefahr eines Atomkrieges daher "noch nie so groß wie heute" (SPIEGEL 5/2004). Baradei wird daher im Juli 2004 zu Gesprächen nach Israel reisen und dabei auch Vorschläge für eine atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten ansprechen. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die Region Mittlerer Osten durch ein hohes Konfliktpotenzial, wenig rationale Akteure und ? verstärkt nach dem Ende des Kalten Krieges - durch massive Aufrüstung auszeichnet, besteht eine erhebliche Eskalationsgefahr, die durch die Präsenz von Massenvernichtungswaffen noch problematischer wird. Damit stellt sich erneut die Frage nach der Möglichkeit einer atom- oder massenvernichtungswaffenfreien Zone als Beitrag zu einem Friedensprozess in der Region. Beispielsweise griff die "Teheraner Erklärung" dieses Projekt kürzlich wieder auf. Dass dieses Ziel nicht von heute auf morgen erreicht werden kann, sondern als anzustrebender Endzustand eines langfristigen Prozesses von vertrauensbildenden und rüstungskontrollpolitischen Maßnahmen gesehen werden muss, versteht sich dabei von selbst.
Unter dem sicherheitspolitischen Subsystem "Mittlerer Osten" sollen hier der üblichen Definition der Region entsprechend die Anrainerstaaten des persischen Golfes also Iran, die Staaten auf der arabischen Halbinsel incl. Jemen und Jordanien sowie die Anrainerstaaten des Mittelmeers (Syrien, Israel, Libanon und Ägypten) subsumiert werden. Darüber hinaus muss man, wenn man über die sicherheitspolitische Architektur der Region spricht, auch den überdurchschnittlich starken Einfluss externer Akteure auf die sicherheitspolitische Situation berücksichtigen, allen voran der USA aber auch von Ländern wie Pakistan, Indien oder der Türkei.
1. Erfahrungen
Derzeit existieren weltweit fünf kernwaffenfreie Zonen (Antarktis, Mittel- und Lateinamerika, Südpazifik, Südostasien, Afrika). Die Mitglieder dürfen weder im Geltungsbereich noch anderswo Kernwaffen entwickeln, bauen, erwerben oder kontrollieren. Sie verzichten ferner auf die Stationierung, den Transport oder den Test von Nuklearwaffen und dürfen auch keinem anderen Staat vergleichbare Aktivitäten auf ihrem Territorium gestatten. Die Freiheit der hohen See, das Recht zur friedlichen Durchfahrt, der Transit von Schiffen und Flugzeugen besteht in der Regel und wird von den Mitgliedsstaaten in souveräner Verantwortung gestaltet. Ein Kontrollsystem überwacht die Bestimmungen. In einem Protokoll können die (offiziell fünf) Kernwaffenstaaten bestätigen, weder Atomwaffen gegen eine Vertragspartei einzusetzen noch mit deren Einsatz zu drohen.
Vorschläge für den Aufbau einer nuklearwaffenfreien Zone (NWFZ) im Mittleren Osten gibt es bereits seit über vierzig Jahren. Die erste Initiative hierzu kam interessanterweise aus Israel: Nachdem im Jahre 1957 sechs von sieben Mitglieder der israelischen Atomenergiekommission aus Protest gegen die Nuklearwaffenambitionen der Regierung zurückgetreten waren, gründeten zwei von ihnen das "Committee for Denuclearization of the Arab-Israel Conflict", das 1962 erstmals öffentlich zur Errichtung einer nuklearwaffenfreien Zone in der Region aufrief und eine lebhafte Debatte in der Öffentlichkeit und der Knesset auslöste. Die israelische Regierung hielt jedoch an ihrem Kurs der ?bewussten Zweideutigkeit? fest und äußerte sich ambivalent zum Besitz von Nuklearwaffen. Heute kann als sicher gelten, dass Israel Atomwaffen besitzt, unabhängig von Stellungnahmen der Regierung, man werde nicht als erster Atomwaffen in die Region einführen.
Bemühungen, das israelische Potenzial abzubauen, wurden fortan vor allem von Ägypten getragen, das 1974 zusammen mit Iran eine Initiative in die UN-Generalversammlung einbrachte, in der beide Staaten den Entwurf für eine Resolution für eine NWFZ im Mittlerer Osten vorlegten, den die Generalversammlung bei zwei Enthaltungen (Israel und Burma) mit Unterstützung der fünf Kernwaffenstaaten annahm. Die Resolution appelliert an alle Staaten der Region, dem Nichtverbreitungsvertrag beizutreten - eine klare Aufforderung an Israel, das gegenwärtig der einzige Staat der Region ist, der dem Nichtverbreitungsregime ferngeblieben ist. Kernpunkte der Resolution 3263(XXIX) sind:
- 1.Die Staaten der Region sollen auf den Erwerb und die Produktion verzichten sowie die Entwicklung von Atomwaffen unterlassen;
- Die Kernwaffenstaaten sollen keine Nuklearwaffen in die Region bringen oder sie dort benutzen;
- Die Einrichtung eines Überwachungssystems wird angeregt.
Zwar signalisierte Israel grundsätzliche Zustimmung, forderte jedoch immer wieder direkte Verhandlungen darüber. Für die arabischen Staaten wäre dies einer Anerkennung des jüdischen Staates gleichgekommen - wozu sie nicht bereit waren. Auf UN-Ebene wurde die Initiative weiter verfolgt. Die Resolution für eine NWFZ im Mittleren Osten wurde von der Generalversammlung von nun an jährlich - und seit 1980 einstimmig, also mit israelischer Zustimmung - verabschiedet. Das dass Thema relevant blieb, wurde besonders deutlich, als die israelische Luftwaffe im Jahr 1981 in einem Präventivschlag den irakischen Atomreaktor Osirak zerstörte und damit das irakische Atomprogramm - vorläufig - beendete.
Nachdem der irakische Präsident Saddam Hussein im Jahr 1990 angekündigt hatte, Chemiewaffen zu besitzen und sie im Falle eines israelischen Angriffs auch gegen die israelische Zivilbevölkerung einsetzen zu wollen, wurde auf Initiative des ägyptischen Präsidenten Mubarak die ursprünglich auf Nuklearwaffen zielende Initiative erweitert: Am 16. April 1990 startete Ägypten eine Initiative für eine massenvernichtungswaffenfreie Zone (WMDFZ) Mittlerer Osten. In dieser so genannten "Mubarak-Initiative" wird ein für alle Staaten gleichermaßen geltendes Verbot von Massenvernichtungswaffen gefordert. Ebenso wird die Notwendigkeit wirkungsvoller Verifikationsmechanismen betont. Nach dem Golfkrieg 1991 wurde die Initiative neu belebt, als der Golf Kooperationsrat (Gulf Cooperation Council) eine massenvernichtungswaffenfreie Zone Mittlerer Osten forderte und auch der UN-Sicherheitsrat die Abrüstung des Irak in seiner Waffenstillstandsresolution mit dem Ziel einer WMDFZ verknüpfte.
Mit der Eröffnungssitzung der Madrider Friedenskonferenz für den Mittleren Osten im Jahr 1991, die den Impetus zu nutzen versuchte, den der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende der Ost-West-Konfrontation in die internationale Politik brachte, schienen die Bemühungen um Abrüstung in der krisengeschüttelten Region erst mal greifbare Ergebnisse zu zeigen. Neben bilateralen Verhandlungen wurden auch multilaterale Foren für sicherheitspolitische Diskussionen bereitgestellt, allen voran die Arms Control and Regional Security (ACRS)-Gruppe. Von 1992 bis 1995 fanden die ACRS-Gespräche zwischen Israel, 13 arabischen Staaten und einer palästinensischen Delegation statt, bevor sie schließlich ergebnislos eingefroren wurden. Es war besonders der israelisch-ägyptische Disput, der zum Scheitern der Gespräche führte. Ägypten, das 1981 den NPT ratifiziert hatte, setzte den Schwerpunkt der Gespräche vor allem auf nukleare Rüstungskontrolle, also darauf, Israel der Kontrolle des NPT-Regimes zu unterwerfen. Wie alle anderen arabischen Staaten sahen sie in den israelischen Atomwaffen die Hauptbedrohung für die Region. Es wurde argumentiert, das israelische Monopol auf Kernwaffen könne auf Dauer keinen Bestand haben und sei insbesondere im Falle eines israelischen Regierungswechsels unter der Dominanz aggressiver und radikaler Kräfte eine Gefahr für die Region, zumal wenn die Waffen offensiv für eine expansive Politik eingesetzt würden.
Israel dagegen wollte den Schwerpunkt der Gespräche auf eine politische Einigung und die Errichtung von vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen legen - Rüstungskontrolle sollte nur in Verbindung mit einem umfassenden Frieden durchgesetzt werden. Die Friedensregelung sollte die Anerkennung Israels durch die arabischen Staaten, einen formellen Friedensvertrag und Verifikationsmechanismen für Rüstungskontrolle enthalten - wobei auch konventionelle Waffen mit einbezogen werden sollten. Bereits 1980 hatte Israel eigene Konzeptionen zur Errichtung einer nuklearwaffenfreien Zone präsentiert und dabei einen genuin regionalen Ansatz verfolgt. Vor allem die Skepsis gegenüber der Wirksamkeit der IAEA-Kontrollen und internationaler Institutionen führte Israel dazu, ein eigenes Verifikationsregime zu fordern, welches in einem multilateralen Vertrag festgehalten werden sollte.
Die ACRS-Konsultationen endeten schließlich in der Sackgasse, da sich letztlich zwei unvereinbare Positionen gegenüberstanden: Während Israel eine umfassende Friedensregelung als Voraussetzung für Gespräche über atomare Abrüstung forderte, vertraten die arabischen Staaten die genau umgekehrte Position: Sie wollten zuerst über das israelische Nuklearpotenzial sprechen, um erst dann über eine Friedensregelung zu debattieren. Dieses Dilemma spiegelt die fundamental unterschiedlichen Bedrohungsperzeptionen der Akteure: Während Israel sich durch seine Nachbarn nach wie vor existenziell bedroht sieht und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der geringen eigenen strategischen Tiefe an der Nuklearoption als Überlebensgarantie festhält, fühlen sich die arabischen Staaten, die Israel als aggressive, expansiv orientierte Hegemonialmacht sehen, durch das israelische Potenzial bedroht. Einige Akteure streben ihrerseits nach Massenvernichtungswaffen. Diese Haltung wird u.A. in den Äußerungen des syrischen Präsidenten Assad im Januar 2004 deutlich, in denen er Massenvernichtungswaffen als legitimes Element der Verteidigung bezeichnete. So lange Abrüstung und ein Verzicht auf MVW nicht für alle Staaten gleichberechtigt gelten, werde Syrien dem libyschen Beispiel nicht folgen. Dabei verwies er explizit auf die israelischen Atomwaffen.
Obgleich die ACRS-Gespräche an diesem Gegensatz gescheitert waren, blieb das Thema in der internationalen Diskussion. So beschäftigte sich die Revisions- und Verlängerungskonferenz zum NPT im Jahr 1995 auch mit dem Friedensprozess im Nahen Osten. Sie griff dabei die Initiativen der Vergangenheit auf und betonte deren Verbindung mit der Errichtung einer NWFZ.
Bereits 1988 hatte der Generalsekretär der Vereinten Nationen eine Studie in Auftrag gegeben, in der Maßnahmen zur Errichtung einer NWFZ im Mittleren Osten diskutiert wurden. Die Studie wurde der Generalversammlung jedoch erst nach der Irakischen Invasion in Kuwait und dem darauf folgenden Zweiten Golfkrieg vorgelegt und von ihr verabschiedet. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie zwar keine explizite Vorformulierung eines möglichen Vertrages zur Errichtung einer NWFZ vornimmt, aber konkrete Maßnahmen zu ihrer Umsetzung auflistet, die fortan die Diskussion prägen sollten. So wird davon ausgegangen, dass die Umsetzung eines derartigen Projektes mehrere Jahre in Anspruch nehmen würde. Ebenso wird die Notwendigkeit einer Einbeziehung der Kernwaffenstaaten betont und vertrauensbildende Maßnahmen vorgeschlagen. Auch mit entsprechenden Verifikationsmechanismen setzt sich die Untersuchung auseinander. Sie konstatiert dabei, dass ein sehr viel schärferes Verifikationsregime als das des NPT installiert werden müsse.
2. Der Mittlere Osten: Komplexität und Konfliktpotenziale
Auch wenn für einen Rüstungskontrollprozess im Mittleren Osten die Erfahrungen aus dem Ende des Kalten Krieges und des Entspannungsprozesses von Nutzen sein können, so kann man die verschiedenen Initiativen und Schritte nicht einfach kopieren und Eins zu Eins auf die Region übertragen. Die Situation im Mittleren Osten wird durch mehrere Faktoren enorm verkompliziert und ist mit der des Ost-West-Konfliktes nicht vergleichbar:
- Der Konflikt ist nicht bi-, sondern multipolar. Auch wenn der israelisch-arabische Gegensatz eine Zweiteilung nahe legt, so darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die arabischen Staaten und der Iran keinesfalls als geschlossener Akteur auftreten, sondern in einen Konflikt um die regionale Vorherrschaft verwickelt sind. Außerdem gibt es keine regionale Führungsmacht, die eine Einigung herbeiführen könnte.
- Das sicherheitspolitische System ist strategisch nicht ausbalanciert. Israel bildet die regional dominante Militärmacht und befindet sich als einziges Land im Besitz von Nuklearwaffen. Durch den Erwerb von U-Booten der Delphin-Klasse ist es zudem bemüht, eine seegestützte Zweitschlagskapazität aufbauen.
- Massenvernichtungswaffen haben keinesfalls nur eine abschreckende Wirkung: C-Waffen etwa wurden in der Region bereits mehrfach eingesetzt. Unklar ist, ob die israelischen Atomwaffen allein der Abschreckung dienen.
- Es gibt keinen territorialen Status quo, sondern nach wie vor ungeklärte Gebietsfragen sowie Versuche, die staatliche Souveränität der Nachbarländer zu untergraben.
- Es gibt bisher keine regionale multilaterale Institution, die vertrauensbildend wirken könnte.
- Die pakistanische Atomoption tangiert ebenso den regionalen Konflikt im Nahen und Mittleren Osten.
Die Situation ist also wesentlich komplizierter als die während des Ost-West-Konflikts in Europa, vor allem weil die Kapazitäten ungleich verteilt sind. Während Israel der einzige Kernwaffenstaat in der Region ist, und als einziger nicht dem NPT-Regime beigetreten ist, wird von einigen weiteren Staaten der Region vermutet, dass sie über C-Waffen verfügen. Neben Israel sind dies insbesondere Ägypten, Syrien und der Iran. Ägypten und Syrien sind zudem der C-Waffenkonvention ferngeblieben. Libyen ist dem Vertrag erst vor kurzem beigetreten. Israel hat die Konvention zwar unterzeichnet, aber bis heute nicht ratifiziert. Der Irak besaß in der Vergangenheit Massenvernichtungswaffen und unterhielt ein Atomprogramm. Das Abkommen zum Verbot von B-Waffen wurde dagegen von allen Staaten bis auf Syrien und Ägypten ratifiziert. Es lässt sich also feststellen, dass die internationalen Regimes zur Eingrenzung von Massenvernichtungswaffen in der Region offensichtlich nicht greifen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist es notwendig, den Unterschied zwischen einer atomwaffenfreien und einer massenvernichtungswaffenfreien Zone zu betonen. Während ersteres lediglich bedeuten würde, dass Israel seine Atomwaffen aufgibt und andere Länder von nuklearen Ambitionen - sofern vorhanden ? Abstand nehmen, umfasst eine massenvernichtungswaffenfreie Zone auch die B- und C-Waffenbestände und -programme.
In der Vergangenheit verliefen multilaterale Abrüstungsinitiativen in der Region wenig erfolgreich, was mit den oben diskutierten Gründen zusammenhängt. Die Situation wird jedoch durch einige Faktoren noch zusätzlich verkompliziert:
- In Fragen der Sicherheit herrscht im Mittleren Osten nach wie vor eine "Nullsummenmentalität" vor, in der Sicherheitsgewinne der einen Seite als relative Verluste der eigenen Sicherheit gewertet werden. Dieses Denken fördert ein Klima des Misstrauens und macht Kooperation im Bereich der Sicherheitspolitik nahezu unmöglich.
- Die Beteiligung nicht- bzw. substaatlicher Akteure am Konflikt sowie die massive Präsenz externer Akteure (in erster Linie der USA) erschwert eine regionale, zwischenstaatliche Lösung.
- Die nukleare Aufrüstung Indiens, Pakistans und potenziell auch Nordkoreas wird aufmerksam beobachtet. Pakistan wird vor allem von Iran als Konkurrent um die regionale Vormachtstellung wahrgenommen. Dabei wurde registriert, dass Pakistan in der Folge des 11. September einen internationalen Bedeutungsgewinn verbuchen konnte, da die USA es als wichtigen strategischen Partner im Kampf gegen den internationalen Terrorismus ansehen. Schwerwiegender war jedoch die Akzeptanz der internationalen Politik gegenüber der Nuklearisierung des Konflikts in Südasien. Genauso aufmerksam wurde in der Region registriert, dass Nordkoreas atomares Aufrüstungsprogramm bislang keine militärischen Konsequenzen nach sich gezogen hat, im Gegensatz zum Irak, bei dem offensichtlich das bloße Verdachtsmoment für eine Invasion genügte.
- Das Streben nach MVW erfüllt darüber hinaus in den arabischen Staaten und im Iran auch andere Funktionen: Sie bringen den auf Prestige angewiesenen, autoritären Staatsführungen ein für ihre Legitimation notwendiges Ansehen, verschaffen ihnen regionalen und internationalen Respekt und können - wie im Falle der Kurden im Irak unter Saddam Hussein - in internen Konflikten eingesetzt werden.
3. Chancen und Möglichkeiten für Abrüstung
Trotz dieser Voraussetzungen existiert im Mittleren Osten ein generelles Interesse an einer kooperativen Verbesserung der Sicherheitsposition und Konfliktvermeidung, an das sich anknüpfen ließe. Die Initiativen und Erfahrungen mit den Instrumentarien Rüstungskontrolle und Kooperation existieren und könnten Anknüpfungspunkte bieten. Zur Entschärfung des israelisch-arabischen Konfliktes, zum Abbau von Massenvernichtungswaffen in der Region und zum Aufbau von Vertrauen kann daher Rüstungskontrolle einen Beitrag leisten. Darüber hinaus nähme eine Befriedung der Region den despotischen Regimes mit dem israelisch-arabischen Konflikt ein zentrales Argument, sich gegen Demokratie zu sperren. Eine Beschränkung der regionalen Aufrüstung und die politische Kontrolle bestehender Rüstungspotenziale könnte also den Weg in einen Mittleren Osten ebnen, der nachhaltig friedlich und demokratisch ist.
Es geht dabei, wie oben gezeigt, nicht darum, das Szenario des Kalten Krieges direkt auf die Region zu übertragen. Ein solcher Vergleich spiegelt nicht die Realität des Mittleren Ostens wieder. Aber die Erfahrungen, die besonders in Europa während des KSZE-Prozesses gemacht wurden, können auch im Mittleren Osten von Nutzen sein. Ein effektives Rüstungskontrollregime käme dabei nicht nur den mittelöstlichen Gesellschaften zugute, deren Haushalte durch Militärausgaben und regionale Rüstungswettläufe stark belastet werden, sondern es könnte auch die Chance zur Aufnahme von vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen in der Region bieten. Diese Gespräche könnten dazu beitragen, Vertrauen zu schaffen und so den Friedensprozess in der Region neu beleben.
Die Chancen dafür stehen nicht gänzlich schlecht: Die sicherheitspolitische Situation Israels hat sich mit dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins, der iranischen Unterzeichnung des Zusatzprotokolls zum Nichtverbreitungsvertrag und dem Verzicht Libyens auf Massenvernichtungswaffen deutlich verbessert. Ob noch eine existenzielle Bedrohung Israels durch die Aggression auswärtiger Staaten besteht, darf zumindest diskutiert werden, nachdem auch Syrien öffentlich von dem Ziel abgerückt ist, den jüdischen Staat zu zerstören und sich stattdessen auf die Forderung nach der Wiederherstellung der Grenzen von 1967 konzentriert.
Israel befindet sich also in einer sicherheitspolitisch gestärkten Position wieder und hat nicht zuletzt aufgrund ökonomischer Probleme ein Interesse daran, den Rüstungswettlauf in der Region zu begrenzen.
Diese sicherheitspolitische Situation ermöglicht der israelischen Regierung in Fragen der Rüstungskontrolle also durchaus einen gewissen Spielraum, zumal sie eine de facto Sicherheitsgarantie und die Unterstützung der Weltmacht USA genießt. Allerdings sollten sich auch die arabischen Staaten und der Iran damit abfinden, dass das israelische Nuklearpotenzial vorerst nicht auf der Agenda von Rüstungsgespräche zu finden sein wird. Eine solche, die Sicherheitsarchitektur der Region und die Situation Israels fundamental verändernde Entwicklung an den Anfang eines Prozesses zu setzen, der auf gegenseitiges Vertrauen angewiesen ist, wäre eher kontraproduktiv. Aufgrund seiner Erfahrungen mit einer überwiegend feindseligen Umgebung, die zudem mehrfach versucht hat, die Existenz des jüdischen Staates auszulöschen, ist das Szenario eines Verzichts auf die Nuklearoption für die israelische Seite schlicht undenkbar. Dennoch ist das israelische Bekenntnis zum Ziel einer massenvernichtungswaffenfreien Zone sicherlich mehr las nur ein Lippenbekenntnis: Eine wirkungsvolle Kontrolle über die Militärbestände in der Region verbunden mit Rüstungskontrollgesprächen mit der Perspektive von Abrüstungsschritten würden letztendlich auch für Israel mehr Sicherheit bedeuten.
Welche Szenarien sind also vorstellbar? Wie könnte der Weg zu einer Region Naher und Mittlerer Osten bestellt sein, die letztendlich frei von Massenvernichtungswaffen und den damit verbundenen Eskalationsgefahren ist?
Zunächst sind vertrauensbildende Maßnahmen (VSBM) auf multilateraler Ebene unerlässlich. Auf bilateraler Ebene sind sie teilweise schon durchaus erfolgreich umgesetzt worden: So enthält der Friedensvertrag mit Ägypten Bestimmungen über demilitarisierte Zonen, Verifikationsmechanismen durch Dritte, Frühwarnsysteme und institutionalisierte Gespräche auf Offiziersebene. Auch der Friedensvertrag mit Jordanien beinhaltet vertrauensbildende Maßnahmen und Kooperationsmechanismen, die zwar nicht reibungslos, aber insgesamt doch befriedigend funktionieren und zu einem Vertrauenszuwachs auf beiden Seiten beigetragen haben. Die Wasseraufteilung und der freie Zugang zu Plätzen von religiöser und historischer Bedeutung sind Beispiele hierfür. Dem Vertrag folgten weiteren Abkommen zu den Themenbereichen Tourismus, Grenzverkehr, Energie, Gesundheit und zum gemeinsamen Kampf gegen Drogenmissbrauch. Die Einrichtung dieser Dialogforen könnte über lange Sicht hinweg auch zu ernsthaften Abrüstungsgesprächen führen.
Auf multilateraler Ebene wären zunächst institutionalisierte Gespräche denkbar, die eine Bestandsaufnahme der Waffenarsenale zum Ziel haben. Die damit verbundene Einschätzbarkeit der jeweiligen Potenziale ist eine Grundvoraussetzung für gegenseitiges Vertrauen.
Im Anschluss daran könnten bestimmte (konventionelle) Waffensysteme thematisiert werden, mit dem Ziel, sie zu begrenzen oder zu reduzieren. Hier müssten die arabischen Staaten von ihrer bisherigen Forderung abrücken, konventionelle Waffen erst nach dem Verzicht auf Massenvernichtungswaffen zu thematisieren. Dabei ist es in der Tat wichtig, wie von israelischer Seite mehrfach betont wurde, dass ein zuverlässiges Verifikationsregime installiert wird. Die alarmierenden Nachrichten aus Pakistan oder dem Iran beweisen aus israelischer Sicht die Anfälligkeit des IAEA-Kontollregimes. Hier besteht in der Tat dringender Reformbedarf.
Ein weiterer Schritt könnte die Entmilitarisierung bestimmter Zonen sein - oder der Abzug offensiver Waffensysteme aus Grenzregionen, um Vertrauen zu schaffen. Wenn schließlich die Abschaffung von Massenvernichtungswaffen thematisiert werden sollte, so könnten Sicherheitsgarantien der USA diesen Schritt insbesondere für Israel erleichtern.
Mit Vorsicht sollte man dagegen Plänen für eine KSZNO begegnen - einer der KSZE analogen Institution für den Nahen Osten. Obgleich sich arabische Politiker bereits für ein solches Forum ausgesprochen, und obgleich sich Israel und Jordanien im Friedensvertrag dazu verpflichtet haben, eine solche Institution einzurichten, genießt sie in der arabischen Welt nur wenig Ansehen. Zu deutlich verbindet man damit den KSZE-Prozess, der zu Transparenz, zur Öffnung und letztendlich auch zur Demokratisierung und zum Zerfall der Sowjetunion geführt hat. Die Eliten und autoritären Führer der arabischen Staaten wollen sich ein solches Schicksal naturgemäß ersparen.
Ein großer Vorteil eines solchen Forums wäre jedoch sein genuin regionaler Charakter, der es von jedem Verdacht befreit, ein Versuch externer Akteure zu sein, die Region im eigenen Interesse neu zu ordnen. Letzten Endes kann ein solcher Prozess jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn die Hauptakteure in der Lage sind, ihr gemeinsames Interesse an Rüstungskontrolle als ersten Schritt zum Frieden zu begreifen.
4. Die Rolle Europas und der Sozialdemokratie
Im Verbund mit den USA kann Europa diesen Prozess unterstützend begleiten. Die EU genießt bei den Arabern insgesamt ein höheres Ansehen als die USA, die gegenüber Israel als voreingenommen - teilweise parteiisch - gelten. Die Amerikaner wiederum können vor allem auf Israel einwirken, sich auf einen Abrüstungsprozess einzulassen. Auch das Nahostquartett (USA, EU, UNO und Russland) sollte gleichfalls verstärkt in die Bemühungen eingeschaltet werden. Die USA und Europa können diese Entwicklung jedoch niemals steuern, sie muss sich vielmehr aus der Region selbst entwickeln.
Europa kann dabei seine Erfahrungen mit den Rüstungskontrollgesprächen aus dem Kalten Krieg einfließen lassen. Dieser Ansatz ist im Wesentlichen ein sozialdemokratischer. "Wandel durch Annäherung" ging auch im KSZE-Europa nicht von heute auf morgen. Seit den Anfängen der Arbeiterbewegung ist sozialdemokratische Politik durch die Bemühung um Abrüstung und Frieden geprägt. Auch in einer neuen Weltordnung muss die SPD diese Politik nicht nur verteidigen, sondern sie aktiv vorantreiben. Abrüstung und Rüstungskontrolle können trotz aller zweifellos vorhandenen Widerstände und Schwierigkeiten auch im Nahen und Mittleren Osten dazu beitragen, Konflikte einzuhegen und von einer aggressiven Nullsummenmentalität zu einem Verständnis von Sicherheit zu gelangen, das auf Kooperation und guter Nachbarschaft beruht. Einen Versuch ist es alle Mal wert.