Wie wir lernen, auf die Bombe zu verzichten

Hunderttausende Menschen starben, als US-Piloten am 6. August 1945 die erste Atombombe über der japanischen Stadt Hiroshima abwarfen. Diese euphemistisch "Little Boy" genannte totale Waffe beendete nicht nur den Zweiten Weltkrieg im Pazifik, sondern symbolisierte zugleich einen Dammbruch, der von der Möglichkeit der Menschheit zeugte, sich selbst zu vernichten. Die Zündung der sowjetischen Bombe am 29. August 1949 nahe der kasachischen Stadt Semipalatinsk schuf dann mit dem "Gleichgewicht des Schreckens" - eine Ära, der die Bombe den Namen gab. Das Atomzeitalter lebte von der gegenseitigen glaubhaften Vernichtungsdrohung und bescherte zumindest Europa eine lange Zeit eines waffenstarrenden Friedens. Für George Orwell war es eine "scheußlich stabile Welt", in der sich Washington und Moskau weitgehend mit Stellvertreterkriegen begnügten und auch bei der Auswahl ihrer Verbündeten alles andere als wählerisch waren. Die Atombombe half dabei, sich ab- und andere einzugrenzen. Sie machte ihre Besitzer machtpolitisch bedeutend und auf den ersten Blick berechenbar. Das galt auch noch, als Großbritannien (1953), Frankreich (1964) und die Volksrepublik China (1964) in den Club der Atommächte aufrückten. Seitdem spielt im Spannungsfeld von Aufstieg und Fall der Großmächte die nukleare Macht eine nicht zu unterschätzende Rolle und fördert Prestige und Sicherheit eines Staates so schnell und unmittelbar wie keine andere Macht. 

Krieg im Atomzeitalter

Die Welt lernte nicht, die Bombe zu lieben, sondern zu fürchten. Doch je weiter der atomare Schutzschild von den beiden Supermächten über ihre Verbündeten gespannt wurde, desto unglaubwürdiger wurde die Abschreckung. Der ständige Kampf um das Machtgleichgewicht schuf die Bedingungen für den Kalten Krieg, welcher wiederum das nukleare Wettrüsten anspornte, aus dem auf beiden Seiten Tausende von Gefechtsköpfen mit beispielloser Zerstörungskraft hervorgingen. Der Abschreckungsgedanke beruhte darauf, dass Drohung und Gegendrohung, Angriffs- und Vergeltungsschlag ebenbürtig waren. Dies bedeute auch, dass die den ersten Schlag auslösende Seite über den Erwiderungsschlag mit der Selbstvernichtung rechnen musste. Damit war eine neue Qualität in der Geschichte der Menschheit erreicht, eine Wende im Verhältnis von Krieg und Politik. Krieg im Atomzeitalter war ganz offensichtlich kein (beherrschbares) Mittel der Politik mehr, weil diese nicht mehr die Wahl zwischen Krieg und Frieden hatte - zumindest auf der Grundlage gegenseitig garantierter Vernichtung. Dennoch wurden Konzepte und Waffen entwickelt, die einen auch atomar geführten Krieg "führbar" machen sollten. Der amerikanische Vereidigungsminister Robert McNamara prägte in den 1960er Jahren den Begriff der gegenseitig gesicherten völligen Vernichtung (Mutual Assured Destruction), wofür sich bezeichnender Weise das Kürzel MAD einprägte. Auf beiden Seiten wuchs über die 45 Jahre des Kalten Krieges ein Bedrohungsgefühl, dass teilweise hysterische Züge annahm. Erst als die Welt während der Berlin- und der Kuba-Krise zu Beginn der 1960er Jahre an den Rand des Atomkrieges geriet, kam es zum ersten Rüstungskontrollabkommen, dem Moskauer Vertrag über das Verbot nuklearer Explosionen in der Atmosphäre, unter Wasser und im All. Die sich in der Folge herausbildenden Rüstungskontrollregime konnten jedoch die gegenseitigen Aufrüstungsspiralen nicht verhindern: Mitte der 1980er Jahre, auf dem Höhepunkt der sowjetischen Nuklearrüstung, standen 45.000 russische Sprengköpfe 23.000 amerikanischen gegenüber. Genug nukleares Dynamit, um den Planeten gleich dutzendfach auszulöschen.

Eine Erfolgsgeschichte

Die Aufrüstungsspiralen und die damit verbundenen Kosten führten aber auch zu einer Art ?nuklearem Lernen?. Beide Seiten begriffen, dass sie trotz ihrer weltpolitischen Systemkonfrontation auch Elemente der Kommunikation und Kooperation benötigten, um die Gefahr des beiderseitigen Untergangs zu vermeiden. Die Rüstungskontrollverhandlungen der siebziger und achtziger Jahre waren von dieser Einsicht geprägt. 1970 trat der zwei Jahre zuvor beschlossene Atomwaffensperrvertrag in Kraft. Darin ist festgelegt, dass der Club der Nuklearmächte auf fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates begrenzt bleiben soll. Im Gegenzug verpflichten sich die Atommächte den atomaren "Habenichtsen" gegenüber, ihnen bei der zivilen Nutzung der Kernenergie mit Know-how und Technik zu helfen - und ihr eigenes Arsenal abzurüsten.

Der Atomwaffensperrvertrag ist bis heute eine Erfolgsgeschichte. Er half bei der freiwilligen nuklearen Abrüstung atomarer Schwellenländer wie Südafrika und Brasilien ebenso wie später bei der "nuklearen Entsorgung" der sowjetischen Nachfolgestaaten Kasachstan und der Ukraine. Er konnte naturgemäß bei jenen Staaten nicht funktionieren, die ihm nicht beitraten: Indien, Pakistan und Israel. Israel, das offiziell nie sein Streben nach Kernwaffen eingestand, wurde vermutlich bereits 1967 zur Atommacht; Indien und Pakistan brauchten etwa 30 Jahre länger, bevor sie 1998 schließlich kurz nacheinander ihre Kernwaffen zündeten. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges in Libyen lohnt es sich daran zu erinnern, dass auch Gaddafi nach der Bombe strebte. Nach neunmonatigen Geheimverhandlungen mit den USA und Großbritannien willigte er am 20. Dezember 2003 ein, alle Massenvernichtungswaffen zu zerstören und seine Programme zur Entwicklung dieser Waffen zu beenden. 2004 unterzeichnete Libyen das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag und öffnete sich den Kontrollen der IAEA. Eine Entscheidung, welche Gadaffi heute möglicherweise bereuen mag. Auch Syrien strebte und strebt nach der Bombe. Im September 2007 zerstörten israelische Kampfflugzeuge eine Atomanlage in Syrien, die zur Gewinnung von Uran genutzt worden sein soll - auch wenn dies die syrische Regierung bis heute bestreitet.

Geist aus der Flasche

Die Auflösung der bipolaren Stabilität in eine multipolare "Unordnung" hat das internationalen System destabilisiert, aber damit gleichzeitig auch für Veränderungen geöffnet. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes stellte sich nicht nur die Frage, ob erfolgreiche nukleare Abschreckung unter gänzlich anderen Bedingungen auch in Zukunft gelingen kann, sondern auch inwieweit erste Schritte hin zur Vision einer nuklearwaffenfreien Welt realisierbar scheinen.

Spätestens seit seiner Prager Rede hat sich Präsident Obama zumindest deklaratorisch ebenfalls zu dieser Vision - wenn auch als Fernziel - bekannt. Obama betonte in seiner Rede ausdrücklich die moralische Verantwortung der USA: "(...) als Nuklearmacht - als einzige Nuklearmacht, die eine Atomwaffe eingesetzt hat - haben die Vereinigten Staaten eine moralische Verantwortung zu handeln (...) und dass "die Vereinigten Staaten entschlossen sind, sich für den Frieden und die Sicherheit einer Welt ohne Atomwaffen einzusetzen (...)." Zugleich machte der Präsident jedoch auch deutlich: "Solange es diese Waffen gibt, werden wir ein sicheres und wirksames Arsenal zur Abschreckung potenzieller Feinde aufrechterhalten und die Verteidigung unserer Verbündeten garantieren."

Die »International Commission on Nuclear Nonproliferation and Disarmament« hat eine Reihe von Gründen aufgelistet, warum politische Entscheidungsträger nach wie vor an Atomwaffen festhalten.  Zu den gängigsten Glaubensgrundsätzen gehören in erster Linie die nach wie vor für notwendig gehaltene Abschreckungsfunktion gegen konventionelle, chemische und biologische Waffen. Das Kostenargument, dass da lautet, Atomwaffen seien billiger als konventionelle Streitkräfte sowie zu guter Letzt das am häufigsten verwendete Argument, dass die Erfindung von Atomwaffen nicht mehr ungeschehen gemacht werden könne. Da das Wissen über ihre Herstellung nun mal in der Welt sei, gebe es folglich auch keine realistische Möglichkeit, sie abzuschaffen. Der nukleare Geist ist endgültig aus der Flasche. Um den nuklearen Geist in der Flasche zu halten, müsste ein globales Verifikations- und Kontrollverfahren sicherstellen, dass niemand sich heimlich wieder Atomwaffen zulegt.
Auch für Global Zero gilt im Übrigen: "Der Weg ist das Ziel." Abrüstung, Kontrolle und eine weitere Reduzierung bis hin zu einer Minimalabschreckung von wenigen hundert Sprengköpfen sind realistische Ziele.

Ein weiter Weg

Auch wenn es bis zu einer atomwaffenfreien Welt ein weiter Weg ist, sind erste Erfolge zu verzeichnen: Dazu gehören u.a. die Regionen, die sich selbst für atomwaffenfrei erklärt haben. Derzeit sind 114 der 193 UN-Mitglieder Teil regionaler nuklearwaffenfreier Zonen, in denen der Besitz, die Stationierung und die Androhung der Anwendung von Atomwaffen verboten sind. Zu den positiven Entwicklungen  zählt das Inkrafttreten von zwei neuen Verträgen über atomwaffenfreie Zonen in Zentralasien und Afrika in 2009.  Die Einrichtung weiterer solcher Zonen in Nordostasien, der Arktis und in Zentraleuropa sollte genauso ermutigt werden wie Schritte zu einer nuklearwaffenfreie Zone im Nahen und Mittleren Osten.. Deshalb müssen die offiziellen Atomwaffenmächte ihre Vorbehalte gegenüber derartigen regionalen Abmachungen zurückstellen und die erforderlichen Zusatzprotokolle wie den Bangkok-Vertrag unterzeichnen.

Erstmals nimmt auch der US-amerikanische Nuclear Posture Review (NPR) das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt explizit auf und stellt fest, dass es "im Interesse der USA und aller anderen Nationen" liege, wenn der "fast 65 Jahre andauernde Rekord, Nuklearwaffen nicht einzusetzen, auf ewige Zeiten ausgedehnt werden" könne. Washington verpflichtet sich erstmals dazu, keine Atomwaffen gegen Nicht-Atommächte einzusetzen. Das Recht auf den Einsatz nuklearer Waffen will sich Washington künftig nur noch gegen Länder vorbehalten, die entweder selbst über Atomwaffen verfügen oder aber biologische und chemische Waffen besitzen und ihre Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag nicht einhalten.

Mit der Abschaffung aller Atomwaffen würde die nukleare Abschreckung nicht enden. Sie würde in Form von Forschungslaboren weiter existieren. Es geht deshalb nicht darum, Erfindungen rückgängig zu machen, sondern Nuklearwaffen weltweit zu ächten und zu verbieten sowie einen entsprechenden internationalen Kontroll- und Sanktionsmechanismus einzusetzen.  Die Hindernisse auf dem Weg zur Beendigung der atomaren Bedrohung sind in erster Linie politischer und nicht technischer oder militärischer Natur. Kein Naturgesetz steht dem im Wege, sondern mangelnder politischer Wille.

Machtlosigkeit der Bombe?

Seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes befindet sich das internationale System im Wandel. Es ist vor allem geprägt durch Veränderungen der Machtverteilung zwischen den großen Mächten. Der relative Niedergang der USA geht einher mit dem Aufstieg der sogenannten BRIC-Staaten , vor allem Indien und China. Sind die Weltmächte der Zukunft automatisch auch Atommächte?  Nicht zwangsläufig. Wirtschaftskraft, technologische Innovation, Rohstoffe und Energieeffizienz, Bildung und menschliche Intelligenz, kurz all das, was Nye unter den Begriff der "soft power" zusammengefasst hat, sind die Insignien, die eine Weltmacht des 21. Jahrhunderts ausmachen.  Dies bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass Atomwaffen nun völlig bedeutungslos werden. Denn der Besitz der Atombombe verschafft Respekt und ist nach wie vor ein Anreiz für Staaten, besonders für die Parias der internationalen Politik und für Terrororganisationen. 

Hinzu kommt, dass die Nicht-Kernwaffenstaaten, die während des Ost-West-Konflikts Nuklearwaffen, wenn auch widerwillig zumindest zeitlich begrenzt toleriert haben, deren Legitimität für die Post-Kalte-Kriegs-Ära grundsätzlich bestreiten. Als Geschäftsgrundlage für das Fortbestehen des Atomwaffensperrvertrages fordern sie einen globalen Konsens über den Vertrag als ein Instrument zur Schaffung einer kernwaffenfreien Welt.

Doch der Weg zur nuklearen Abrüstung ist noch weit: Weltweit gibt es ca. 25.000 atomare Sprengköpfe. In 40 Staaten der Welt lagern ca. 2.500 Tonnen Spaltmaterial, aus denen weitere 200.000 Kernwaffen gebaut werden könnten. Und die Proliferationsgefahren sind sehr real. Klar ist: Die Bedeutung der Atomwaffen insgesamt muss verringert, das nukleare Tabu gestärkt werden. Ein wichtiger Faktor und Antrieb für weitere Abrüstungsschritte sollte nicht verschwiegen werden: Der größte Katalysator für weitere Reduzierungen liegt in der Weltfinanzkrise, die somit zumindest einen positiven sicherheitspolitischen Aspekt hat, der Abrüstung - auch der im Unterhalt teuren Nuklearwaffen - erleichtern könnte.

Die Atombombe ist die klassische Waffe aus der Zeit des Mächtegleichgewichts. Sie wird angesichts der neuen Konfliktszenarien zunehmend obsolet. Mit welcher Begründung können Atomwaffen mit ihrem unvorstellbaren Zerstörungspotential noch eine sicherheitspolitische Option sein? In einer multipolaren Welt können sie weder sinnvoll eingesetzt werden, noch glaubhaft abschrecken. Nukleare Abschreckung ist gegenüber den neuen Bedrohungen wirkungslos. Cyberwar-Angriffe und terroristische Attacken, failed states, Ressourcenknappheit und Umweltprobleme lassen sich nicht nuklear abschrecken.

Atomwaffen werden ihre Funktion verlieren. In den Augen der meisten Staaten dürften sie sich auf Dauer als zu teuer und zu ineffizient erweisen. Hinzu kommt die zunehmende Unmöglichkeit, atomare Drohungen zur Erreichung politischer oder wirtschaftlicher Ziele zu benutzen. Bei den Kriegen der Franzosen in Algerien, der USA in Vietnam und Afghanistan, Indiens in Sri Lanka und der NATO im ehemaligen Jugoslawien spielte der Besitz von Nuklearwaffen de facto kein Rolle. Die Macht, die die Atombombe verleiht ist keine Gestaltungmacht, sondern Verhinderungs- und Abschreckungsmacht. 

Lehren des Kalten Krieges

Ohne verlässliche regionale Sicherheitsabkommen ist Global Zero undenkbar. Wenn es ein positives Erbe des Kalten Krieges gibt, dann ist es das System der vertraglich abgestützten Abrüstung und Rüstungskontrolle mit umfangreichen Verifikationsmechanismen und Inspektionsregimen. Entscheidend für eine atomwaffenfreie Zukunft sind weder seitenlange Dokumente noch wohlfeile Absichtserklärungen, sondern einzig und allein der politische Wille der Nuklearmächte - allen voran der USA und Russlands. Solange sie nicht ihre Atomwaffen weitreichend reduzieren, bleibt die Vision von einer nuklearwaffenfreien Welt ein frommer Wunsch.

Zudem sollte man über der atomaren Frage die aktuellen Steigerungen der weltweiten Rüstungsausgaben nicht aus den Augen verlieren. Denn de Friedensdividende nach dem Kalten Krieg war nur von kurzer Dauer. Gemessen an den Rüstungsausgaben ist die Welt heute so unsicher wie seit zwanzig Jahren nicht. Mit weltweit rund 1,2 Billionen Euro haben die Ausgaben 2009 ein neues Hoch erreicht.  Global Zero kann deshalb nur ein erster Schritt hin auf eine Welt ohne Atomwaffen sein, wenn parallel dazu auch die Abrüstung und die Rüstungskontrollregime im Bereich der konventionellen Waffen bis hin zu den Minen und den Klein- und Handfeuerwaffen gestärkt und ausgebaut werden.

Die kommenden Dekade wird zeigen, ob die alten, westlichen Mächte und die Aufsteiger um China, Indien und Brasilien in einen Nullsummen-Wettbewerb um knapper werdende Ressourcen, Märkte, Macht und Verbündete abgleiten, oder es im kooperativen Rahmen (der G 20) gelingt, ein Klima zu schaffen, mit dem die Menschheitsaufgaben des 21. Jahrhunderts zu bewältigen sind. Die offiziellen Atommächte des Kernwaffensperrvertrages könnten das Ihrige dazu beitragen, indem sie zeigen, dass sie aus der Geschichte des Kalten Krieges die richtigen Lehren gezogen haben und Atomwaffen weltweit abrüsten, abschaffen und ächten.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Die Zukunft der nuklearen Weltordnung
Veröffentlicht: 
In: WeltTrends, Nr. 82, Januar/Februar 2012, S. 47-53.