Kommentar zur Akademikerrepublik von Armin Schäfer
Armin Schäfer bemängelt in seinem Artikel, dass der Bundestag nicht in angemessener Weise die Bevölkerungsstruktur widerspiegele, da Arbeiter und Geringgebildete nicht angemessen vertreten seien. Auch wenn ich den Begriff der "Geringgebildeten" etwas unglücklich finde, der Befund von Armin Schäfer stimmt: Der Bundestag repräsentiert ohne Zweifel nicht die Bevölkerungsstruktur Deutschlands.
Die Abgeordneten liegen, was den Bildungsgrad angeht, jedenfalls weit über dem Bundesdurchschnitt. Arbeiter sind im Deutschen Bundestag hingegen deutlich unterrepräsentiert. Das war schon in der Frankfurter Paulskirche 1848 so und wird vermutlich auch nach der nächsten Wahl so bleiben. Die Akademisierung des Deutschen Bundestages ist also kein neues Phänomen. "Der Bundestag ist mal voller und mal leerer, aber immer voller Lehrer", kalauerte schon Otto Graf Lambsdorff. Die Akademikerschwemme betrifft im übrigen nicht nur den Bundestag, sondern ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Die Akademikervorherrschaft in den Parlamenten ist im Übrigen auch kein deutsches "Problem". In England und Frankreich sind die wirtschaftlichen und politischen Eliten noch mehr unter sich als bei uns.
Ein Blick auf die Zusammensetzung des neu gewählten Bundestages bestätigt den Befund der Akademikerrepublik. Im 18. Bundestag, der jetzt seine Arbeit aufnimmt, sitzen fast doppelt so viele Männer wie Frauen. Viele von ihnen sind um die 50 und waren in ihrem Vorleben "administrativ entscheidende Berufstätige", wie es in der offiziellen Statistik des Bundeswahlleiters heißt. Mehr als die Hälfte der insgesamt 631 Abgeordneten gehören dieser Berufsgruppe an: Verwaltungsangestellte, Lehrer, Juristen. 150 Abgeordnete kommen aus dem öffentlichen Dienst (im letzten Bundestag waren es sogar über 200) - das sind fast ein Viertel der Mandatsträger. Gemessen am Durchschnitt der Erwerbstätigen dürften es gerade 11 Prozent sein. Die zweitgrößte Gruppe stellen die Juristen. 117 Abgeordnete sind Anwälte, Notare etc. - fast dreimal so viel wie 1961. An dritter Stelle folgen die Pädagogen: 52 Abgeordnete sind Lehrer, Erzieher - dies ist gut ein Drittel weniger als Mitte der 90er Jahre. Im neuen Bundestag sitzen nur noch zwei klassische Arbeiter (ein Bergmann und eine Schlosserin).
Damit ist auch der neue Bundestag kein Spiegelbild der Gesellschaft. Nicht nur Arbeiter sind unterrepräsentiert, sondern nach wie vor auch Frauen und Migranten. Durch das Ausscheiden der FDP ist auch der Anteil von Unternehmern und Selbständigen weiter zurückgegangen. Zwar sind alles in allem rund hundert Berufe vertreten, aber der öffentliche Dienst dominiert. Dies ist auch nicht besonders verwunderlich. Ein Selbstständiger kann nicht einfach für vier Jahre sein Unternehmen ruhen lassen. Dann hat er längst seinen Kundenstamm verloren. Beamte hingegen, das garantiert das Abgeordnetengesetz, müssen keinen Jobverlust nach der Amtsperiode befürchten. Sie genießen ein uneingeschränktes Rückkehrrecht zu ihrem alten Arbeitsplatz.
Ist das deutsche Parlament also auf dem Weg, ein bundesrepublikanisches Oberhaus zu werden? Es ist so offensichtlich wie noch nie: Formelle Schulbildung entscheidet auch über den politischen Erfolg. Und das in einem Land, in dem die sozialen Aufstiegschancen immer geringer werden. Der Trend geht zur Selbstreproduktion der Eliten. Wenn man Sohn eines Juristen ist und Jura studiert, und danach noch in einem Parteivorstand voller Juristen Karriere macht, ist es eher unwahrscheinlich, dass man dieses Land von einem anderen Blickwinkel als dem eines Juristen aus sehen lernt.
Andererseits schlagen sich Erwerbsbiographien nicht automatisch in entsprechendem Wahlverhalten nieder. Nicht jeder Unternehmer und Zahnarzt wählt automatisch die FDP und nicht jeder Arbeiter wählt selbstverständlich die SPD. Eine Erfahrung, die beide Parteien schmerzlich zuletzt bei der Bundestagswahl machen mussten.
Das Auseinanderdriften der sozialen Schichten in Deutschland zeigt sich längst in den Mitgliederstatistiken der Volksparteien. Auch die SPD hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend akademisiert. Selbst wenn wir uns immer noch auch als Arbeiterpartei und Partei der kleinen Leute verstehen, ist auch die SPD zunehmend zur Studenten- und Beamtenpartei mutiert.
Das Hauptproblem ist m.E. dass unsere Gesellschaft immer undurchlässiger wird. Auch mir wurde als Kind einer Arbeiterfamilie nicht an der Wiege gesungen, dass ich einmal Bundestagsabgeordneter werden würde. Eine Karriere wie meine vom Hauptschulabschluss mit Schüler-Bafög zum Abitur und dann zu Studium wird? immer seltener. Hier muss unsere Bildungspolitik ansetzen und junge Menschen aus bildungsfernen Schichten gezielt fördern.
An der Diagnose lässt sich also nicht rütteln. Die Frage, die Armin Schäfer ja auch zu Recht stellt ist jedoch die, ob eine spiegelbildliche Repräsentation überhaupt wünschenswert ist. Oder mit anderen Worten: Die Tatsache, dass Abgeordnete im Vergleich zu ihren Wählern in der Regel einen höheren Bildungsabschluss besitzen, bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie die Nöte und Anliegen der Bevölkerung nicht verstehen oder vertreten können. Die ins Parlament gewählten Eliten stehen zweifelsohne in einer besonderen Verantwortung. Sie müssen den Menschen zuhören, den Kontakt halten. Dies bedeutet auch verstehen wollen, statt alles schon verstanden haben zu meinen. Nur so kann man der Politikverdrossenheit und den notorisch niedrigen Wahlbeteiligungen entgegenwirken. Im Gegensatz zu unseren Wirtschafts- und Verwaltungseliten müssen sich Abgeordnete alle vier Jahre zur Wiederwahl stellen. Der Wähler hat es also in der Hand zumindest die Arbeit seines direkt gewählten Wahlkreisabgeordneten bei der nächsten Wahl durch das Abgeben seiner Stimme zu belohnen oder zu bestrafen. Am Ende sind ohnehin alle Abgeordnete, unabhängig von ihrem erlernten Beruf, Dienstleister ? sie sind Politiker im Dienste der Bürgerinnen und Bürgerinnen ihres Landes.