Vor dem Kollaps!
Am 26. März veröffentlichte die Weltbank ihren Bericht über die wirtschaftliche Lage in Palästina. Demnach wird sich die prekäre Finanzsituation der palästinensischen Regierung in diesem Jahr weiter verschlechtern und die Autonomiegebiete noch stärker von ausländischer Hilfe abhängig. So schrumpfte das palästinensische Bruttoinlandsprodukt 2006 zwischen fünf und zehn Prozent und liegt damit heute fast 40 Prozent unter dem Betrag vor der zweiten Intifada 1999.
Die Ursachen für die desolate wirtschaftliche Situation liegen natürlich auch in der diplomatischen und finanziellen Isolation der Regierung sowie im Fehlen von Steuereinnahmen im Haushalt begründet, die von Israel zurückgehalten werden. 2006 verfügte die Autonomiebehörde demnach über gut ein Drittel weniger Finanzmittel als noch im Jahr zuvor. Dagegen hat sich die ausländische Hilfe im vergangenen Jahr mit fast 565 Millionen Euro im Vergleich zu 2005 mehr als verdoppelt. Dennoch: Ohne Erholung der Wirtschaft sowie kräftige internationale Hilfe droht das wirtschaftliche und soziale Chaos.
Im Durchschnitt haben die Staatsbediensteten Palästinas nur 50 bis 55 Prozent ihrer Löhne und Gehälter bekommen. Konkret empfiehlt die Weltbank der palästinensischen Regierung eine Reihe unpopulärer politischer Entscheidungen, um die Haushaltslücken zu schließen: Dazu gehören beispielsweise die Senkung der Personalausgaben, die Beendigung der Subventionierung von Erdölprodukten und das Eintreiben offener Rechnungen für Wasser, Strom und Gas. Grundvoraussetzung für eine Wiederbelebung der Privatwirtschaft bleibt jedoch, dass Israel die Einschränkungen bei der Bewegungsfreiheit für Palästinenser lockert.
Auch die an der Hamas-Regierung vorbei geleisteten Finanzhilfen für die Palästinenser haben nach Angaben der Weltbank eine Reihe negativer Auswirkungen. Beispielsweise habe es keinen ordentlichen Haushaltsplan und keine zentrale Kontrolle mehr gegeben. Außerdem seien die Transparenz bei Einnahmen und Ausgaben sowie die Rechenschaftspflicht gesunken.
Für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung benötigt Palästina freien Personen- und Warenverkehr sowie Zugang zu internationalen Märkten. Konkret fordert der Weltbankbericht die Öffnung des Grenzübergangs Rafah zwischen dem Gaza-Streifen und Ägypten für den Handel. Der Import und Export von Waren sei der Schlüssel, um den wirtschaftlichen Zusammenbruch der palästinensischen Gebiete aufzuhalten. Die häufigen Schließungen durch Israel haben den Warenfluss stark reduziert und die Preise in die Höhe getrieben. Derzeit ist der Übergang nur für den Personenverkehr geöffnet. Waren passieren ausschließlich den israelisch-palästinensischen Grenzübergang Karni. Israel hat die Schließung damit begründet, dass die Grenze zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen häufig von Extremisten passiert und für Waffenschmuggel missbraucht werde.
Eine weitere Empfehlung des Weltbankberichtes lautet, dass die internationalen Hilfsgelder für Palästina wieder auf ein vom Finanzministerium kontrolliertes zentrales Konto fließen sollen. Dabei dürfte es für die Empfehlung hilfreich gewesen sein, dass der ehemalige Weltbank-Mitarbeiter Salam Fayed neuer palästinensischer Finanzminister in der Regierung der nationalen Einheit ist.
Neben den äußerst ungünstigen politischen Rahmenbedingungen gibt es natürlich auch eine Reihe interner Ursachen für die Finanzmisere Palästinas, die wohlbekannt und nicht neu sind. Die Stichworte lauten Korruption, aufgeblähte "Staatsapparate", Misswirtschaft und politische Unfähigkeit. Zudem haben wir in Palästina - wie auch in Bosnien, im Kosovo und andernorts - das Phänomen, dass ein Großteil der internationalen Finanzhilfen unauffindbar in dunklen Kanälen versickert oder auf Privatkonten im Ausland landet. Um das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft wie der Bevölkerung zu gewinnen, wird die neue Regierung Korruption und Vetternwirtschaft bekämpfen, ein transparentes Finanzgebaren gewährleisten und für Rechtssicherheit sorgen müssen - angesichts der realen Verhältnisse eine überaus anspruchsvolle Agenda für die externe Finanzhilfe gebraucht wird.
Der drohende wirtschaftliche Kollaps reflektiert auch die politischen Verhältnisse. Die derzeitige Situation ist jedenfalls untragbar. Daraus folgt, dass die neue Regierung der nationalen Einheit Anlass für einen differenzierten Umgang von Seiten der EU sein sollte. Richtschnur bleiben die Kriterien des Nahost-Quartetts. Wichtig ist, wie man mit der neuen Regierung umgeht. Man sollte hier auch auf Zwischentöne achten. Sie besteht eben nicht nur aus Hamas-Mitgliedern, sondern auch aus unabhängigen und gemäßigten Politikern ?insbesondere der Fatah ?, die es zu unterstützen gilt. Die EU unter deutscher Ratspräsidentschaft sollte jetzt rasch die Beziehungen zur neuen palästinensischen Regierung überprüfen. EU-Gelder könnten gezielt und konditioniert an bestimmte Ressorts geleitet werden. Insbesondere muss es gelingen Infrastrukturprojekte stärker zu fördern. Die Zeit drängt. Denn eines ist klar: Ohne finanzielle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft dürfte die neue palästinensische Regierung nicht lange lebensfähig sein. Dies kann weder im europäischen noch im israelischen Interesse liegen.
Dr. Rolf Mützenich, MdB, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und Nahostbeauftragter der SPD-Bundestagsfraktion