Von Kalten Kriegern und Russlandinterpreten

Die deutsche Debatte zur Krim-Krise ist von eindimensionalem Denken geprägt. Die Ukraine wird bisweilen nicht mal mehr als souveräner Staat, sondern lediglich als russisches Glacis oder Europäisch-russisches Kondominium wahrgenommen. Ein Gastbeitrag.

Mit der faktischen Annexion der Krim stellt Russland die Grundlagen der europäischen Sicherheit infrage. Im Gegensatz zu denen, die schon immer alles gewusst und vorhergesehen haben, hätte ich persönlich diesen Rückfall in Chauvinismus und das Denken in Einflusszonen in Europa 25 Jahre nach Ende des Kalten Krieges nicht mehr für möglich gehalten.

In Deutschland ist die Krise um die Krim auch ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen Kalten Kriegern und Russlandinterpreten. Im Mittelpunkt steht die Frage: Was will Putin, was treibt ihn an? Selbstzweifel kennen dabei beide Fraktionen nicht - im Gegenteil: Beide fühlen sich vielmehr in ihren intakten, eindimensionalen Weltbildern bestätigt. Bedenklich ist, dass in beiden politischen Schulen die Frage unbeantwortet bleibt, was nach den von ihren Vertretern vorgeschlagenen Maßnahmen politisch passieren soll.

Für die Kalten Krieger ist die Antwort einfach: Putin betreibt zaristische Machtpolitik und versucht die Reste des auseinandergefallenen Sowjetimperiums unter der Überschrift "Eurasische Union" zusammenzuklauben. Dabei ist ihm jedes Mittel recht: Drohung, Einschüchterung, Bruch des Völkerrechts etc. Die einzige adäquate Antwort lautet deshalb Abschreckung, Gegenmaßnahmen, Sanktionen und eine unverzügliche Nato-Mitgliedschaft der (Rest-)Ukraine. Bei einigen Kalten Kriegern herrscht sogar offene Euphorie darüber, dass Putin die Maske hat fallen lassen und Russland nun sein wahres Gesicht zeige. Erstaunlicherweise finden sich unter den Kalten Kriegern nicht nur US-Republikaner, sondern mittlerweile auch eine wachsende Anzahl von Vertretern in Politik und Medien, bei denen man zuweilen den Eindruck gewinnt, auch sie würden am liebsten unverzüglich die Nato gegen Russland mobil machen.

Auf der anderen Seite finden wir die Russlandinterpreten. Auch sie wissen selbstverständlich genau, was Russland, respektive Putin, will. Es sind die selbst ernannten Kenner der "russischen Seele" - sie finden sich überdurchschnittlich oft bei der Linken und treffen ganz offensichtlich den Nerv einer großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Sie nähern sich Putin nicht machtpolitisch, sondern tiefenpsychologisch. Die Stichworte lauten hier Psychose, Einkreisungs- und Verlustängste sowie Phantomschmerzen. Geht es nach den Russlandapologeten, so ist das russische Vorgehen eine direkte Folge der EU- und Nato-Osterweiterung.

Demnach hätte das Recht der Balten, der Polen, der Ungarn, der Slowaken, der Tschechen und der Rumänen, ihre Gesellschaftsordnung frei wählen zu dürfen, den "legitimen" russischen Sicherheitsinteressen untergeordnet werden müssen. Die Nonchalance, mit der einige offenbar nicht nur die russischen Nachbarstaaten, sondern ganz Osteuropa als russischen "cordon sanitaire" betrachten, in dem Moskau nach Gusto frei schalten und walten darf, ruft nicht nur bei Polen, Ungarn und Balten Erinnerungen an ein anderes Ereignis auf der Krim wach - die Konferenz von Jalta 1945, als Truman und Churchill ganz Mittel- und Osteuropa in die stalinistische Obhut übergaben - beziehungsweise meinten übergeben zu müssen.

Es ist schon auffällig, wie empathisch gerade in Deutschland über die Rechte und Ängste der Russen gesprochen wird und wie wenig über die der Ukrainer. Sie werden bisweilen nicht mal mehr als souveräner Staat, sondern lediglich als russisches Glacis oder EUropäisch-russisches Kondominium wahrgenommen. Diese Reflexe gab es auch unmittelbar nach Ende des Ost-West-Konflikts - man erinnere sich nur an den denkwürdigen Ausspruch von Günter Grass, die deutsche Teilung sei die gerechte Strafe für Hitlers Angriffskrieg - nur, dass diese bedauerlicherweise die Ostdeutschen alleine zu verbüßen hatten.

Moskau verstößt gegen die UN-Charta

Den Kalten Kriegern wiederum, die die Krim-Krise als Beweis dafür sehen, dass das Konzept der sozialdemokratischen Entspannungspolitik nun endgültig gescheitert sei, kann man nur erwidern: Durch die russische Aggression ist nicht die Entspannungspolitik desavouiert, sondern sie beweist im Gegenteil deren unveränderte Notwendigkeit. Gerade in Zeiten neuer Spannungen brauchen wir eine neue Entspannungspolitik. Doch dazu gehören zwei. Und ja, Empathie für Russland ist wichtig. Sie bedeutet jedoch nicht, dass man das Vorgehen Moskaus billigt.

Deswegen gilt es bei allem Verständnis für die russischen Einkreisungs- und Bedrohungsängste ein paar Dinge unmissverständlich klarzustellen: Die Annexion der Krim ist völkerrechtswidrig. Daran gibt es nichts zu deuteln. Moskau verstößt gegen die UN-Charta, die KSZE-Schlussakte von Helsinki und ein gutes Dutzend weiterer bi- und multilateraler Verträge.

Mit der Einverleibung der Krim hat Putin Fakten geschaffen. Zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges hat eine Großmacht Europas Grenzen durch Gewalt verändert. Man muss der russischen Seite nun klarmachen, dass es zur Rückkehr zur Diplomatie keine Alternative gibt. Wir brauchen dringend eine starke Beobachtermission der OSZE im Osten und Süden der Ukraine und das Unterlassen von Provokationen. Die OSZE muss gestärkt werden und Abrüstung und Rüstungskontrolle gehören dringend wieder auf die europäische Tagesordnung. Und wir sollten über der Ukraine nicht vergessen, dass wir bei der iranischen Atomkrise und dem syrischen Bürgerkrieg weiterhin mit Russland gemeinsame Interessen haben und deshalb die Zusammenarbeit suchen müssen. Mit seinem Vorgehen schadet Russland nicht nur der europäischen Friedensordnung, sondern am meisten sich selbst.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Ukraine-Krise
Veröffentlicht: 
Frankfurter Rundschau, 20.03.2014