Irrlehren - Eine erste Nachlese zum Natokrieg in Jugoslawien
"Es wird ein nächstes Mal geben, obwohl ich nicht weiß, wann und wo."
(Generalinspekteur a.D. Klaus Naumann in der FAZ vom 01.10.1999)
Der Natokrieg gegen Jugoslawien war eine Zäsur in der Weltgeschichte. So hieß es in den Tagen der medialen Erregung vom 24. März bis zum 09. Juni 1999. Allerdings ist diese Einsicht in den Hintergrund gerückt. Alles was vom Krieg geblieben zu sein scheint, sind selbstgerechte Tagebücher und Kurzmeldungen in der Tagespresse, die vor allem eines dokumentieren: nicht ein multiethnisches, sondern ein ethnisch homogenes Kosovo ist in 78 Nächten herbeigebombt worden.
Doch so einfach wird man nicht zur Tagesordnung übergehen können. Seit sich das mächtigste Verteidigungsbündnis der Weltgeschichte zum Weltpolizisten mandatiert und seine Ernsthaftigkeit zeitgleich am realen Objekt praktiziert hat, wird auch dem letzten Hoffenden klar geworden sein: Das Ende des Ost-West-Konfliktes ist nicht der Anfang einer neuen Friedensepoche. Der Krieg ist als Mittel einer Politik zurückgekehrt, die sich nur noch dann dem internationalen Völkerrecht unterordnet, wenn es opportun erscheint. Die vielbeschworene Friedensdividende wird nicht ausgeschüttet.
Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik
Auch in der Geschichte der Bundesrepublik markiert der Krieg eine Zäsur. Deutsche Soldaten haben sich erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder an einem Angriffskrieg beteiligt.
Daß es eine sozialdemokratische Bundesregierung war, die die vor zehn Jahren begonnene ?Normalisierung" der Außenpolitik mit dem Kriegseintritt exekutiert hat, stellt eine besondere Pikanterie des Vorgangs dar.
Es bleibt dabei: Die deutsche Außenpolitik hat vor Kriegsbeginn nicht deeskaliert. Sie hat keinen Ausweg aufgezeigt, wie der Krieg zu vermeiden gewesen wäre. Erst als die Kriegsmaschinerie in Gang war, sich die "Kollateralschäden" häuften und die öffentliche Meinung schwankend wurde, hat Außenminister Fischer mitgeholfen, den Krieg zu beenden. Deutschland war dabei. Und deutsche Sozialdemokraten rechtfertigen bis heute mit moralinsaurer Verve ihren Kriegseintritt ohne Mandat der Vereinten Nationen. Diese nicht mehr rückholbare Fehlentscheidung rächt sich seitdem in jedem neuen Konflikt. Wer etwa im Tschetschenienkrieg auf internationale Verträge verweist, bekommt die Brüskierung der VN durch die NATO vorgehalten - und bleibt ohne Gegenargument.
Heute, fast ein halbes Jahr nach Ende des Krieges, kann eine erste Bilanz gezogen werden.
Die SPD bläst zum großen Parteitag. Man hofft, die Außen- und Sicherheitspolitik wird ein zentrales Thema sein.
Bilanzieren sollten alle: Kriegsbefürworter ebenso wie Kriegsgegner
Zur Erinnerung: Die Hauptargumente der Kriegsbefürworter waren: Dieser Krieg ist alternativlos, da nur so die Vertreibung und der Massenmord an den Kosovo-Albanern verhindert (!) werden kann. Nur mit NATO-Waffengewalt kann das Militätpotential des Aggressors Jugoslawien nachhaltig zerstört werden. Nur mit Waffengewalt bleibt das Kosovo multiethnisch und Teil der Bundesrepublik Jugoslawien. Nur durch die Beseitigung Milosevics kann die Region Südosteuropa stabilisiert und an Europa herangeführt werden.
Diese Kriegsziele, so die Befürworter, sind moralisch ehrenwert, ja Teil eines neuen Paradigmas in der internationalen Politik. Sie rechtfertigten die bewußte Ausklammerung der VN.
Die Kriegsgegner hielten dem vor allem entgegen: Dieser Krieg ist nicht alternativlos, vielmehr hat das Verhalten des Westens den Konflikt erst richtig entfacht. Die Selbstmandatierung der NATO fügt der Weltgemeinschaft nachhaltigen Schaden zu - und das auch noch im Namen von Moral und Humanität. Der Einsatz militärischer Mittel steht in keinem Verhältnis zum Nutzen, da der Krieg bestehende Probleme nicht löst und neue hervorruft.
Wer heute ehrlich bilanziert, der kommt zu folgendem Ergebnis:
- Die Vertreibung der Kosovo-Albaner konnte nicht verhindert werden, im Gegenteil, die Bombardements haben die Gewaltspirale nach oben katapultiert. Die Vertreibungsopfer haben gewechselt. Nun jagen, vertreiben und lynchen nicht mehr Serben Kosovo-Albaner, sondern Kosovo-Albaner jagen, vertreiben und lynchen Serben und Roma. Das multiethnische Kosovo ist unter den Augen der KFOR zu einer Schimäre geworden.
- Das Kosovo ist weit von demokratischen Zuständen entfernt. Die UCK hat sich als das entpuppt was ihr die Kritiker immer vorgeworfen hatten, eine nationalistische Organisation zu sein, die auch mit terroristischen Mitteln ihre Ziele verfolgt. Sie hält bis heute an einem unabhängigen (oder mit Albanien verschmolzenen) Kosovo fest. Der Westen seinerseits ist über den Endstatus uneins.
- Das Militärpotential der Bundesrepublik Jugoslawien ist auch nach dem Dauerbombardement keineswegs wirklich geschwächt. Statt dessen ist die zivile Infrastruktur Serbiens nachhaltig so zerstört, daß in der Kombination mit dem Embargo schlimmste Folgen für die Zivilbevölkerung im Winter zu befürchten sind. Eine Demokratisierung unter diesem Vorzeichen scheint mithin und angesichts des desolaten Zustandes der serbischen Opposition auf absehbare Zeit unmöglich.
- Die gesamte Region Südosteuropa ist mindestens ebenso instabil wie vor dem Krieg. Alle Anrainerstaaten haben wirtschaftlich erheblich unter dem Krieg mitgelitten. Die Folgen sind kaum überwunden, sondern dauern wegen des fortdauernden Embargos gegen Jugoslawien unvermindert an. Bis heute bleibt unklar, ob es sich beim geplanten Stabilitätspakt jemals um mehr als eine Luftnummer handeln wird. Angesichts der handelnden besten Männer" bleiben Zweifel angebracht.
Und: Das wie eine Unterstützung wirkende Schweigen gegenüber dem nunmehr auch nach staatlicher Unabhängigkeit strebenden Montenegro zeichnet am Horizont bereits die kommenden Konflikt-, wenn nicht Kriegslinien vor.
- Die VN sind nach der Selbstmandatierung der NATO nachhaltig geschwächt. Daran ändern auch große Reden von Dauerläufen nichts. Schlimmer noch: Die VN werden weiter geschwächt. Die USA verweigern standhaft ihre Schuldentilgung gegenüber den VN. Das Repräsentantenhaus blockiert die Ratifizierung des Atomteststop-Vertrages - mit verhängnisvoller Ermunterung an potentielle Atommächte. An einem Rakentenabwehrsystem wird gearbeitet, der ABM-Vertrag ist in Frage gestellt. Die russische Militärstrategie greift angesichts konventioneller Schwächen auf den frühzeitigen Einsatz atomarer Mittel zurück.
Und in Europa?
Hier lautet die Lehre aus dem Krieg offenkundig, den militärtechnologischen Abstand zu den USA schnellstmöglich durch eigene Rüstungsanstrengungen aufzuholen. Kaum anders müssen die Bemühungen interpretiert werden, nicht die OSZE als regionale Partnerorganisation der VN zu stärken, sondern die WEU in die EU zu integrieren. Am lautesten tönt wieder einmal der deutsche Verteidigungsminister und fordert in diesem Zusammenhang, von allen Sparpaketen der Zukunft ausgenommen zu werden.
Moral und Humanität als Maßstab für neues internationales Handeln entpuppt sich als das, was es von Anfang an war: als Camouflage. Wie auch immer man den Konflikt zwischen Rußland Tschetschenien bewertet, die Reaktionen des Westens machen deutlich, daß Atommächte kaum zum Ziel "humanitärer" Operationen erklärt werden können. Aber Moral ist nicht teilbar. Ihr Mißbrauch durch den Westen wirkt heute wie eine Ermunterung, staatliche Souveränität künftig am besten über Atomwaffen abzusichern. Auch das eine schwere Hypothek aus dem NATO-Krieg.
Die Medien sind ein weiteres Mal zum Gehilfen der Militärs gemacht worden. Besser inszeniert als während des Golfkrieges ahnten die Seriösen unter ihnen bereits, was die Militärs im Schilde führen, indes der Wahrheit konnten auch sie kaum näher kommen. Die wird heute Stück für Stück nachgeliefert. So werden vor allem Zahlen korrigiert:
Von vermutlich Hunderttausenden Toten und Vertriebenen sind nach Angaben des Haager UN-Tribunals rund 11.000 übriggeblieben (FR vom 3.8.1999). Diese Rechnung mag gefühllos klingen, wer aber ernsthaft bilanzieren will, muß auch solche Zahlen an der Kriegspropaganda messen - vor allem müssen sich die Propagandisten an ihren Zahlen messen lassen.
Gleiches gilt für die Trefferquoten: Von ursprünglich 180 getroffenen Panzern der jugoslawischen Armee sind tatsächlich nach neueren NATO-Angaben nur 93 getroffen worden. Ob sie völlig zerstört wurden, wissen wir bis heute nicht. (FR vom 17.9.1999)
Schließlich klagt das französische Verteidigungsministerium in einer Studie, die USA hätten ihren eigenen Krieg geführt, General Clark hätte nicht nur der NATO, sondern auch der US-Regierung unterstanden, häufig sei die Auswahl der Angriffsziele gegen den Willen Frankreichs getroffen worden.
Weitere Wahrheiten werden ganz sicherlich in den kommenden Monaten und Jahren noch durchsickern.
Was bedeutet das politisch?
Nun kann sich niemand damit zufrieden geben, Recht zu haben, ohne es zu bekommen. Bilanzen machen nur Sinn, wenn sie richtig sind und wenn die richtigen Schlußfolgerungen gezogen werden. Mehr denn je kommt es also darauf an, die in der Sozialdemokratie durcheinander geratenen Maßstäbe für außen- und sicherheitspolitisches Handeln wieder zu ordnen. Wie weit die Bereitschafft für eine offene Diskussion reicht, wird u.a. der Bundesparteitag zeigen. Man darf gespannt sein, ob der Antrag des Joso-Bundesvorstandes nach Einrichtung einer Aufklärungskommission zum Kosovo-Einsatz eine Mehrheit findet.
Darüberhinaus lauten die Anforderungen für eine künftige Außen- und Sicherheitspolitik:
1. Die Ursachen von inneren Konflikten können nicht mit Gewalt, schon garnicht von außen und ohne Mandatierung durch die VN beseitigt werden. Im Kern sind diese Konflikte ökonomische und soziale Verteilungskonflikte. Selbst sogenannte ethnische Konflikte resultieren im wesentlichen aus sozio-ökonomischen Problemlagen.
2. Konflikte müssen frühzeitig bearbeitet werden. Erforderlich sind die Früherkennung von Konfliktlagen, das Angebot zur Konfliktvermittlung, Schaffung von ökonomischen Anreizen und die Stärkung der VN. Demokratisierung, Integration, Abrüstung und die Herstellung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung sind allemal friedensfördernder als militärisch geleitete Sicherheitspolitik.
3. Die OSZE hat sich als Forum der Vertrauensbildung und Gewaltverhütung bewährt. Sie muß gestärkt werden. Die NATO dagegen hat ausgedient. Das Berliner Grundsatzprogramm hat recht, wenn es festhält: "Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen." Die NATO muß daher Schritt für Schritt in die Strukturen der OSZE überführt werden.
4. Die Zusammenarbeit und Integration in der EU muß ausgebaut und vertieft werden. Die Union braucht keinen "militärischen ARM". Demokratie, Rechtssicherheit, Anerkennung der Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit sind allemal friedensförderlicherer als eine neue militärische Oraganisation.