Irak-Konflikt und US-Strategie

Wir sind gegenwärtig Zeugen bedeutender Veränderungen des Internationalen Systems. Ein drohender Krieg im Irak würde diese beschleunigen und hätte verschiedene Auswirkungen: Der weiterhin ungehinderte Zugang zu und der Transport von wichtigen Rohstoffressourcen bleibt für alle Industriegesellschaften existenziell. Dies gilt vor allem für die USA, deren nationale Rohstoffpolitik sich an einem bedeutenden Zuwachs fossiler Brennstoffe ausrichtet. Ob zu deren Sicherung künftig auch militärische Interventionen als adäquates Mittel angesehen werden, entscheidet sich unter Umständen im Irak. Der Krieg wird dabei auch auf die politischen Systeme im Nahen und Mittleren Osten einwirken und darüber hinaus auch die Neuordnung eines palästinensischen Staates beeinflussen. Darüber hinaus würde ein Krieg auch dem internationalen Terrorismus neue Nahrung geben. Und nicht zuletzt könnte ein Dritter Golfkrieg der Auslöser für eine weltpolitische Konfrontation zwischen Islam und Christentum sein. Nicht nur in der Summe sondern schon allein für sich genommen sind diese Ergebnisse problematisch genug. Strukturbildend wird hingegen sein, ob die neue "Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika" in Zukunft auch praktische Gültigkeit bekommen wird. Welche revolutionäre Auswirkungen dies für die internationale Politik haben würde, kann am besten durch einen Rückblick auf die Grundzüge des Internationalen Systems nach Ende des Zweiten Weltkrieges verdeutlicht werden.

Geprägt von der Zäsur der Kuba-Krise formulierte der damalige US-Präsident, John F. Kennedy, in seiner "Friedensrede" am 10. Juni 1963 die Bedingungen eines neuen Sicherheitssystems: Wir "wollen die Vereinten Nationen stärken, ihre finanziellen Probleme lösen helfen, sie zu einem wirksamen Instrument des Friedens machen, sie zu einem echten Sicherheitssystem für die Welt entwickeln - einem System das in der Lage ist, Meinungsverschiedenheiten auf der Basis des Rechts beizulegen, die Sicherheit der Großen und Kleinen zu garantieren und Bedingungen zu schaffen, unter denen die Waffen schließlich abgeschafft werden können."(1) Die hegemoniale Rolle der USA war auch in diesem Konzept verankert. Allerdings waren deren Handlungen institutionell eingebunden, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zumindest bis Anfang der achtziger Jahre anerkannt und die in Jalta festgelegten Einflusszonen akzeptiert.

Unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts wurde die Sicherheitspolitik der USA nicht nur durch die Fähigkeit zum atomaren Zweitschlag, sondern auch durch internationale Organisationen, Rüstungskontrollverträge, Verifikationsapparate, Handelsverträge sowie die Einbeziehung des gesellschaftlichen Sektors in der Bearbeitung internationaler Konflikte bestimmt. Die Regimebildung prägte immer stärker die Gestalt des Internationalen Systems. Auch andere Regionen entwickelten entsprechende Muster der Konfliktbearbeitung. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts erlahmte hingegen das Interesse der USA an derartigen Strukturen. Die Politik der "soft power" wurde mehr und mehr durch einseitige Handlungen der einzig verbliebenen Weltmacht abgelöst. Mit der konservativen Revolution im US-Kongress wurde der Bruch endgültig: In der Folge wurden verbindliche Klimastandards abgelehnt, ein Übereinkommen zur Kontrolle von Kleinwaffen behindert, die Entwicklungshilfe reduziert, Schulden gegenüber den Vereinten Nationen nicht beglichen und Schutzzölle für einheimische Produkte eingeführt.

Im Bereich der Rüstungskontrolle wurden ebenfalls entscheidende Fortschritte blockiert: So wurde die Chemiewaffen-Konvention nur mit Einschränkungen akzeptiert und der ABM-Vertrag zugunsten einer nationalen Raketenabwehr mit dem Recht, eine neue Generation von Atomwaffen zu entwickeln, gekündigt. Darüber hinaus wurden der Internationale Strafgerichtshof geächtet und Sonderabkommen mit Staaten hinsichtlich der Verfolgung von US-Bürgern geschlossen; der Vertrag über das Verbot von Landminen nicht anerkannt; ein Verifikationssystem für die Biowaffen-Konvention boykottiert, sowie der Umfassende Teststopp-Vertrag und die Seerechts-Konvention nicht ratifiziert. Dieser Prozess begann bereits weit vor Amtsantritt der Bush-Administration. Die neue Qualität und die damit verbundene Herausforderung für das Internationale System besteht jedoch darin, dass wichtige Entscheidungsträger der neuen US-Regierung mittlerweile auch offiziell eine neokonservative, imperiale Politik stützen.

Die neue "Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika" vom September 2002 stellt in diesem Zusammenhang einen wichtigen Einschnitt dar. Aus deren Blickwinkel erfreut sich das Land "gegenwärtig beispielloser militärischer Stärke und eines großen wirtschaftlichen und politischen Einflusses"(2) Die amerikanische Regierung ist von der Überlegenheit des eigenen politischen und wirtschaftlichen Systems überzeugt. Ihre Mission sieht sie in der Übertragung dieser Vorzüge auf andere Regionen. Dabei müssen die USA jederzeit unabhängig und frei entscheiden können. Internationale Bindungen und Verträge sind nur dann zweckmäßig, wenn sie die eigene Handlungsfreiheit und -fähigkeit nicht beschränken. In der Bedrohungsanalyse ging man bereits vor dem 11. September 2001 von einer umfassenden, aber asymmetrischen Gefahr amerikanischer Interessen aus.

Die VR China rückte rasch als neuer, aufstrebender Rivale ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Höhepunkt war die Krise um das nach einer Kollision mit einem chinesischen Abfangjäger in China notgelandete US-Aufklärungsflugzeug im April 2001. Aber auch sogenannte "Schurkenstaaten" wurden als Bedrohung identifiziert. Eine Verbindung zum internationalen Terrorismus wurde zwar unterstellt, rückte aber erst mit den Anschlägen in New York und Washington D.C. in den Mittelpunkt. Die Schlussfolgerung der Bush-Administration war eindeutig: Sowohl potentielle Konkurrenten als auch Proliferatoren und Regierungen, die mit global agierenden Terrornetzwerken zusammen arbeiten, sollten künftig bekämpft und in Schach gehalten werden. Dieses Ziel soll in erster Linie durch militärische und sicherheitspolitische Instrumente erreicht werden. Anhand der "Nationalen Sicherheitsstrategie" lassen sich dabei drei Elemente identifizieren, die die Überlegenheit der USA garantieren sollen: Abschreckung, Prävention und Präemption.

Im Zentrum der Politik der Abschreckung stehen weiterhin Kernwaffen. Auch nach der russisch-amerikanischen Verabredung über die weitere Reduzierung von Atomwaffen haben die USA nach wie vor ein überdimensioniertes Nukleararsenal zur Verfügung, welches zudem durch neue Komponenten modernisiert werden wird. Damit soll jeglichen militärischen Provokateuren signalisiert werden, dass die Vereinigten Staaten auf jede Aktion eine überlegene Antwort bereit halten. Auch der frühzeitige Einsatz von Kernwaffen ist in diesem Konzept vorgesehen. In diesen Zusammenhang reiht sich auch der Aufbau einer Raketenabwehr ein. Konkurrenten mit einer begrenzten Zahl an strategischen Trägersystemen sollen daran gehindert werden, den potentiellen Kriegsschauplatz auf den nordamerikanischen Kontinent auszuweiten. Dadurch wird die militärische Handlungsfreiheit der USA in allen Regionen geschützt. Das Konzept der Prävention hingegen richtet das Augenmerk auf künftige militärische Bedrohungen der USA. Diese sollen bereits im Keim erstickt werden, in dem man die Absicht und das Verhalten des Gegners quasi im Voraus antizipiert. Die neue US-Strategie geht somit weit über die traditionelle Abschreckung hinaus, weil nicht mehr nur die Aussichtslosigkeit einer militärischen Handlung vermittelt werden soll. Vielmehr sollen bereits die Möglichkeiten jedweden Gegners behindert werden - auch dann, wenn dieser durch Aufrüstung lediglich begrenzte politische Ziele im regionalen Umfeld verfolgt. Somit kann bereits der bloße Verdacht zu unüberlegten Reaktionen führen. Bei der Präemption geht es schließlich um die Zerstörung derartiger militärischer Fähigkeiten, bevor diese einsatzfähig und möglicherweise gegen US-Interessen eingesetzt werden können. Darunter fällt auch die Weitergabe von Massenvernichtungswaffen an oder die Zusammenarbeit mit international operierenden Terrorgruppen. Multilaterale Verabredungen, Rüstungskontrolle und Verifikation spielen in diesem Konzept lediglich eine untergeordnete Rolle. Internationale Organisationen sind darin nur insoweit akzeptabel, wie sie den Bewegungsspielraum der USA nicht behindern.

Ein möglicher Krieg gegen den Irak wäre somit auch der erste Schritt zur Umsetzung der neuen "Nationalen Sicherheitsdoktrin". Aus Anlass der Verabschiedung der Resolution 114 durch den Kongress am 16. Oktober 2002 zur "Ermächtigung zum Einsatz der amerikanischen Streitkräfte gegen den Irak" betonte George W. Bush erneut im offenen Widerspruch zur Charta der Vereinten Nationen die "verfassungsgemäße Autorität des Präsidenten, Gewalt einzusetzen zur Abschreckung, Vorbeugung oder als Reaktion auf Aggressionen oder andere Bedrohungen amerikanischer Interessen".(3) Präemption und Prävention greifen dabei ineinander. Dass der Irak mit herkömmlichen militärischen Mitteln die USA unmittelbar angreifen kann, unterstellen selbst die dortigen Regierungsstellen nicht. Vielmehr rückt die Gefahr der Weitergabe des irakischen Chemie- und Biowaffenpotentials an terroristische Gruppen in den Mittelpunkt der amerikanischen Bedrohungsanalyse. Ein entsprechender Beweis oder auch nur die Präsentation von Anhaltspunkten sind bisher jedoch nicht gelungen. Entscheidend bleibt somit das Ziel, zu verhindern, dass Saddam Hussein in absehbarer Zeit über Kernwaffen und weiterreichende Trägersysteme verfügt.

Weil die Irakpolitik der Bush-Administration zugleich der Testfall für die neue nationale Sicherheitsdoktrin ist, fällt ihr das Einlenken auf zivile Verifikations- und Abrüstungsmaßnahmen auch so schwer. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass die amerikanische Weltordnungsstrategie bereits erste Risse bekommt: So lässt sich die Politik der Eindämmung gegenüber Nordkorea mit der neuen Programmatik nur schwer in Einklang bringen. Zudem ist es offensichtlich, dass in verschiedenen Regionen bereits Aufrüstungsprozesse in Gang gekommen sind - nicht trotz der neuen US-Politik sondern als Reaktion darauf. Nicht zuletzt wurde auch die NATO einer großen Belastungsprobe ausgesetzt, während die Vereinten Nationen vor der Alternative zwischen Folgsamkeit oder Unabhängigkeit stehen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Ansehensverlust der US-Politik weltweit dramatisch zugenommen hat und selbst innerhalb der Vereinigten Staaten die Irakpolitik der Bush-Regierung zunehmend auf Widerstand stößt. Da aber zumeist der subjektive Faktor den Ausschlag in der Entscheidungsfindung gibt, bleibt Skepsis angebracht: In der Irakkrise steht nicht nur die Durchsetzungsfähigkeit der amerikanischen Außenpolitik auf dem Spiel, sondern ebenso die Glaubwürdigkeit ihrer Entscheidungsträger. Und wenn diese von ihrer Mission so überzeugt sind, wie die Mannschaft um George W. Bush, steht das Ergebnis zumeist bereits vorher fest.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Irak-Krieg; Analyse möglicher Auswirkungen im internationalen System
Anmerkungen: 

1 Rede des Präsidenten John F. Kennedy vor der American University, Washington D.C., am 10. Juni 1963, abgedruckt in: Ernst-Otto Czempiel/Carl-Christoph Schweitzer: Weltpolitik der USA nach 1945. Einführung und Dokumente (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 276), Bonn 1989 (aktualisierte Neuausgabe), S. 277-283, hier S. 281.

2 Die Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika (President of the United States), September 2002, S. 2.

3 Die Vereinigten Staaten sprechen mit einer Stimme, Präsident George W. Bush über die Irak-Resolution des Kongresses, 16. Oktober 2002 (www.unembassy.de/us-botschaft-cgi/ad-detail.cgi?lfdnr=1508)

Veröffentlicht: 
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft, Heft 130, 2/2003