Was heißt Europäische Sicherheits- und Friedenspolitik?

1. Einleitung – Eine Welt im Umbruch

„Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster“ – mit diesen Worten beschrieb der italienische Kommunist und Philosoph Antonio Gramsci die weltpolitischen Umbrüche zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs im Jahr 1918 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1939. Auch heute erleben wir wieder Zeiten großer Umbrüche und globaler multipler Großkrisen: Der Aufstieg neuer und alter Mächte, der Krieg in Europa, die Klimakrise, die Folgen der Pandemie, die Entwicklung neuer Technologien und der Wandel von Wirtschaft und Arbeit. Wir sind mitten in einer Zeitenwende der Weltpolitik. Die internationale Ordnung sortiert sich neu. Nach fünf Jahrhunderten westlicher Dominanz beanspruchen aufstrebende Mächte in Asien, Afrika und Lateinamerika die internationale Ordnung mitzuprägen und mitzugestalten. Das globale Mächtegleichgewicht verschiebt sich deutlich in Richtung indopazifischer Raum und jener Länder, die wir einst abschätzig als „Dritte Welt“ bezeichneten. Noch ist ungewiss, wie die Gestalt der neuen, sich herausbildenden Weltordnung des 21. Jahrhunderts im Einzelnen aussehen wird. Doch spätestens seit dem Abzug aus Afghanistan und dem Krieg in der Ukraine steht fest: Die liberale Ordnung, die der Westen und insbesondere die USA nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Fall der Berliner Mauer errichtet haben, neigt sich ihrem Ende zu. Die Welt ist endgültig multipolar geworden.

 

2. Der neue Wettbewerb der Großmächte im multipolaren Zeitalter

Als Katalysatoren dieser epochalen Veränderungen wirken insbesondere der Krieg in der Ukraine und der Aufstieg Chinas zu einer Weltmacht ersten Ranges. Manche Zeitgenossen wähnen den Westen bereits in einem neuen „Kalten Krieg 2.0“. Allerdings ist die heutige weltpolitische Lage – trotz einiger Ähnlichkeiten – eine völlig andere. Gewiss: Die strategische Rivalität zwischen China und den USA wird die Welt grundlegend prägen und verändern – vielleicht sogar tiefgreifender als die Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch die multipolare Welt des 21. Jahrhunderts unterscheidet sich zugleich in wesentlichen Aspekten von der Welt des Ost-West-Konflikts. Der Kalte Krieg war geprägt von Bipolarität und einem Ideologiekonflikt zwischen zwei großen euro-atlantischen Ideen: dem Kapitalismus im Westen und dem Kommunismus im Osten.

 

Heute gibt es indes keinen vergleichbaren ideologischen oder intellektuellen Wettbewerb zwischen China, Russland und dem Westen. Der Grundkonflikt zwischen Autokratien und Demokratien ist zwar vorhanden aber nicht systemprägend. Denn das im Westen gegenwärtig dominante Narrativ einer neuen Systemkonfrontation zwischen Autokratien und Demokratien trifft nur bedingt zu. Es ist richtig, dass Demokratien bereits seit geraumer Zeit weltweit unter Druck stehen. Laut dem „Democracy Report 2023“[3] des V-Dem Instituts der schwedischen Universität Göteborg gab es im Jahr 2022 zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahrzehnten mehr geschlossene Autokratien als liberale Demokratien. Autokratien umfassen inzwischen rund 72 Prozent der Weltbevölkerung (5,7 Milliarden Menschen) und erwirtschaften 46 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die in den drei Jahrzehnten seit dem Fall des Eisernen Vorhangs weltweit erzielten demokratischen Fortschritte wurden in den vergangenen Jahren fast völlig rückabgewickelt. Am dramatischsten ist dabei der Abbau demokratischer Ordnungen im asiatisch-pazifischen Raum, der auf den Stand von 1978 zurückgefallen ist. Selbst innerhalb der Europäischen Union (EU) und in den USA konnten wir in den letzten Jahren das Abgleiten ehemals stabiler Demokratien und das Erstarken illiberaler Kräfte beobachten.

 

Doch so besorgniserregend diese Entwicklung auch sein mag, sie stellt keinen neuen Wettbewerb der Ideologien dar. China, Russland, Nordkorea und Iran sind allesamt autokratische Diktaturen, doch haben sie ideologisch und ideell letzten Endes wenig gemein. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ebenfalls nicht das Ergebnis einer neuen Systemkonfrontation zwischen Autokratien und Demokratien, sondern vielmehr eines ungeklärten Verhältnisses zwischen russischer Nation und russischem Imperium und einer seit Jahrhunderten fortwährenden imperialen Logik der russischen Elite. Auch Pekings Außenpolitik wird weniger von Ideologie bestimmt als von purer Interessenpolitik und der Suche nach ökonomischen, technologischen und machtpolitischen Vorteilen. Kommunistisch ist an der Kommunistischen Partei Chinas (KPCH) eigentlich nur noch ihr Aufbau. Auch aufstrebende demokratisch-geführte Länder, wie beispielsweise Indien und Brasilien, lehnen eine Einteilung der Welt in Demokratien und Autokratien ab. So ist Indien – immerhin die größte Demokratie der Welt – zugleich Mitglied der Quad-Gruppe (USA, Australien, Indien, Japan) sowie der BRICS-Staaten, der von Peking dominierten Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Ideologische Konflikte und Werte spielen offenbar in der Welt des 21. Jahrhunderts nur noch eine nachrangige Rolle und werden zunehmend durch Macht- und Interessenpolitik ersetzt.

 

Im Gegensatz zur bipolaren Welt des Kalten Krieges spricht deshalb vieles dafür, dass die neue Welt des 21. Jahrhunderts eine multipolare Welt mit verschiedenen globalen Zentren sein wird, die auf unterschiedliche Art und Weise Macht und Einfluss ausüben. Zu diesen Zentren gehören sicherlich die „großen Fünf“: die USA, China, die EU, Indien und – zumindest in militärischer und rohstoffpolitischer Sicht – ein wenig stabiles und zunehmend an Bedeutung verlierendes Russland („Tankstelle mit Atomwaffen“). Daneben wird es noch weitere einflussreiche regionale Pole geben, wie z.B. Brasilien, Mexiko, Indonesien und die ASEAN-Staaten, Iran, Saudi-Arabien, Nigeria und Südafrika. Diese neuen, aufstrebenden Länder des Globalen Südens werden sich zu Recht mit einer neuen uni- oder bipolaren Ordnung nicht abfinden oder irgendeinem Land unterordnen. In Europa und in den USA wird oft vergessen, dass der Kalte Krieg nur im Westen und innerhalb der Sowjetunion „kalt“ blieb und vor allem in den Ländern des Globalen Südens ausgetragen wurde. Zwischen 1945 und 1989 fanden in der damaligen „Dritten Welt“ mehr als 150 größere bewaffnete Konflikte statt – oftmals von den USA und der UdSSR angefachte sogenannte „Stellvertreterkriege“. Mehr als 20 Millionen Menschen kamen Schätzungen zufolge bei diesen, zum Teil langwierigen militärischen Auseinandersetzungen in der „Dritten Welt“ ums Leben.

 

Auch der „unipolare Moment“ (Charles Krauthammer) nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde in den Ländern des Globalen Südens keineswegs als eine Ära des Friedens und der Stabilität wahrgenommen. Dazu trugen nicht nur die gescheiterten westlichen Interventionen im Nahen Osten und Afrika bei, sondern auch, dass der Westen hinter den selbst geweckten Erwartungen oftmals zurückblieb und durch die Missachtung internationaler Normen und der einseitigen Kündigung von Abrüstungsverträgen wichtiges Vertrauen verspielte. Dies erklärt in Teilen, warum selbst ein Jahr nach Kriegsbeginn viele Staaten dieser Welt Russlands Angriffskrieg nach wie vor nicht eindeutig verurteilt haben. Nicht wenige Staaten des Globalen Südens sehen die Verantwortung für den Krieg in der Ukraine nicht nur bei Russland, sondern auch im Westen. Auch wenn nichts Putins Überfall rechtfertigt, sollten wir uns offener für die Frage zeigen, ob der Westen nach dem Ende des Kalten Krieges alles Mögliche unternommen hat, um Russlands imperialer Besessenheit keinen zusätzlichen Nährboden zu geben.

 

Bei der dritten Abstimmung in der UN-Generalversammlung am 23. Februar 2023 stimmten zwar wie bereits vor einem Jahr erneut 141 Staaten für eine Resolution zum Ende des Krieges und den Rückzug Russlands aus der Ukraine. Doch haben sich nach wie vor bislang nur 35 Staaten den westlichen Sanktionen gegen Moskau angeschlossen. Dies bedeutet nicht, dass diese Staaten Russlands Angriffskrieg gutheißen oder dass die Anziehungskraft aus Moskau und Peking im Globalen Süden größer ist als die des Westens. Aber wir müssen anerkennen, dass es in anderen Weltregionen offenkundig andere Interessen und Sichtweisen auf den Krieg in der Ukraine gibt als in Washington oder Brüssel.

 

Der Westen sollte deshalb nicht versuchen, die Länder des Globalen Südens zu einer Entscheidung zwischen Russland, China und dem Westen zu zwingen. Eine solche Strategie würde die Fähigkeiten des Westens übersteigen und wäre letzten Endes zum Scheitern verurteilt. Viel zu lange hat der Westen den Interessen und Bedürfnissen des Globalen Südens nicht ausreichend Beachtung geschenkt. Internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen, der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank spiegeln nach wie vor die machtpolitischen Realitäten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und nicht die von heute wider. Der Globale Süden fordert deshalb bereits seit langem eine institutionelle Neuordnung, die die Interessen der Länder des Globalen Südens stärker einbezieht und repräsentiert. Längst versuchen die BRICS-Staaten sich in diesem Zusammenhang als Gegenmodell zum Westen zu positionieren. Bereits im Jahr 2015 gründeten die BRICS die „New Development Bank“ (NDB) als Alternative zur Weltbank und dem IWF. Zu der NDB gehören mittlerweile neben den fünf BRICS-Staaten auch Ägypten, Bangladesch, Uruguay und die Vereinigten Arabischen Emirate. Bei dem 15. Treffen der BRICS-Staaten vom 22. bis zum 25. August 2023 in Johannesburg in Südafrika beschlossen die BRICS zudem die Aufnahme von sechs neuen Mitgliedsstaaten. Demnach treten zum 1. Januar 2024 Ägypten, Argentinien, Äthiopien, die Vereinigten Arabischen Emirate sowie die zwei Erzrivalen Saudi-Arabien und Iran dem Verbund von Schwellenländern bei. Darüber hinaus sollen über 20 weitere Staaten ihr Interesse an einer BRICS-Mitgliedschaft bekundet haben. Dies zeigt deutlich: Immer mehr Staaten des Globalen Südens – selbst (einstige) strategische Partner des Westens wie Saudi-Arabien – suchen zunehmend die Nähe zu den BRICS oder wollen sich zumindest mehrere Optionen offenhalten. Wie groß der Einfluss der BRICS-Staaten letzten Endes sein wird bleibt dennoch abzuwarten. Anders als die G7 setzen sich die BRICS aus sehr unterschiedlichen politischen Systemen und Volkswirtschaften zusammen und konkurrieren darüber hinaus noch untereinander um Macht und Einfluss. Hinzu kommt, dass sich einige BRICS-Mitgliedstaaten wie Indien und Brasilien weiterhin keinem Lager eindeutig zuordnen wollen. Unterschätzen sollte der Westen die gegenwärtigen Entwicklungen im Rahmen der BRICS und der SOZ dennoch nicht, denn die BRICS-Staaten eint ein gemeinsames Ziel: Die Transformation der Weltordnung hin zu einer weniger westlichen und zunehmend multipolaren Welt.

 

Wenn der Westen den Globalen Süden nicht an Russland und China verlieren möchte, ist es daher unerlässlich, dass wir die internationalen Institutionen reformieren und eine gerechtere Ordnung gemeinsam mit den Ländern des Globalen Südens errichten. Dabei müssen wir auch nicht bei Null anfangen. Bereits vor mehr als 40 Jahren entwickelte der erste sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt mit dem Nord-Süd-Bericht eine wegweisende Strategie, um den Nord-Süd-Ausgleich voranzubringen. Ganz in dieser Tradition agiert auch heute Bundeskanzler Olaf Scholz, wenn er gerechte Partnerschaften und neue Formen der Zusammenarbeit mit den Ländern des Globalen Südens fordert. Dazu gehört die Einladung von Indien, Südafrika und den Vorsitzländern der Afrikanischen Union und der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten zum G7-Gipfel in Elmau im vergangenen Jahr, ebenso wie die Initiative zur globalen Mindeststeuer, der Klimaclub und der Aufbau von neuen, beidseitig vorteilhaften Partnerschaften im Bereich der Energieversorgung („Just Energy Transition Partnerships“) und in der Entwicklungszusammenarbeit.

 

Der Globale Süden hat wie der Westen ein fundamentales Interesse am Erhalt einer multilateralen und regelbasierten Ordnung, in der die Stärke des Rechts gilt und nicht das Recht des Stärkeren. Eine multipolare Ordnung schafft nicht automatisch eine gerechtere und sicherere Welt. Im europäischen Großmächtekonzert des 19. Jahrhunderts waren kleinere und mittelgroße Staaten oftmals nur Spielfiguren auf dem geopolitischen Schachbrett der fünf Großmächte. Ohne einen globalen Rahmen von internationalen Normen, Regeln und Gesetzen sowie Institutionen, um diese aufrechtzuerhalten, werden sich die kleinen und mittleren Mächte auch im 21. Jahrhundert der Logik des Großmächtewettbewerbs nicht entziehen können.

 

3. Europäische Sicherheits- und Friedenspolitik im neuen Konzert der Mächte

Auch für Europa stellt sich die Frage, ob es im globalen Mächtekonzert der Zukunft ein eigenständiger Machtpol oder ein Spielball geopolitischer Großmachtrivalität sein wird. Vor allem der russische Überfall auf die Ukraine hat die Frage der Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit Europas so deutlich ins Licht gerückt wie noch nie zuvor seit 1945. Der Krieg in der Ukraine bedeutet das endgültige Ende der europäischen Nachkriegs- und Friedensordnung und leitet eine neue, weitere Phase des Misstrauens und der Aufrüstung in den internationalen Beziehungen ein, die das politische Gesicht der Welt für viele Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, verändern wird.

 

Wie und wann der Krieg enden wird ist selbst eineinhalb Jahre nach Kriegsbeginn weiterhin ungewiss. Vieles deutet gegenwärtig auf einen langen Zermürbungskrieg hin. Doch bereits heute lässt sich konstatieren, dass Putin mit seiner imperialen Rekonstruktion gescheitert ist. Trotz enormer menschlicher und materieller Verluste ist es Putin weder gelungen, die Ukraine zu erobern noch den Westen zu spalten. Im Gegenteil: Der Krieg hat die ukrainische Gesellschaft zusammengeschweißt und zu einer Renaissance der militärischen Sicherheitspolitik geführt. Sowohl die Europäische Union als auch das nordatlantische Bündnis sind heute weitgehend geeint und geschlossen wie seit langem nicht mehr. Insbesondere die NATO, noch vor wenigen Jahren von US-Präsident Trump als „obsolet“ und vom französischen Präsidenten Macron als „Hirntot“ bezeichnet, ist wieder das wichtigste sicherheitspolitische Bündnis in Europa. Bei dem jüngsten NATO-Gipfel in Vilnius am 11. und 12. Juli wurden wichtige Weichen für die Verteidigungspolitik der Allianz und zur langfristigen Unterstützung der Ukraine gestellt. Darüber hinaus hat die Türkei nach langem Widerstand dem Beitritt Schwedens zur NATO zugestimmt. Der Beitritt Finnlands und nun Schwedens nach vielen Jahrzehnten bzw. Jahrhunderten der Bündnisfreiheit ist ein historischer Schritt, der noch vor kurzem undenkbar schien.

 

Die Wiederbelebung des atlantischen Bündnisses ist einerseits sicherlich auf die völlig veränderte Sicherheitslage in Europa und auf die Veränderungen in der internationalen Ordnung zurückzuführen. Mindestens ebenso wichtig war allerdings die Rückkehr der amerikanischen Führungsrolle unter der derzeit amtierenden Biden-Administration, mit der auch die Bundesregierung sehr eng zusammenarbeitet. Die Welt würde heute gewiss anders aussehen, wenn Donald Trump am Morgen des 24. Februars 2022 noch im Oval Office des Weißen Hauses gesessen hätte. Der russische Überfall auf die Ukraine hat den Westen nach einer tiefen Krise während der Trump-Jahre wieder zusammengeführt, aber er hat uns zugleich unsere Abhängigkeit von den USA nochmals auf besonders grausame Weise vor Augen geführt. Darüber hinaus sollten wir uns nichts vormachen: Präsident Biden könnte der letzte US-Präsident sein, der sein Hauptaugenmerk auf Europa richtet. Die USA werden sich künftig vorrangig noch mehr zu Asien und dem Indopazifik hinwenden – mit weitreichenden Folgen für die europäische Sicherheit.

 

Europa steht vor einer Weggabelung. Wir können im Wettbewerb der Großmächte nur bestehen, wenn es uns gelingt, ein geopolitisches und strategisch souveränes Europa zu gründen. Der Krieg in der Ukraine und die geopolitischen Verwerfungen der letzten Jahre haben deutlich gezeigt, dass wir die europäischen Institutionen stärken und die Balance zwischen Intergouvernementalismus und Supranationalismus innerhalb der Europäischen Union neu definieren müssen. Wir müssen zwischen den einzelnen Bereichen und Ebenen der EU-Außenpolitik mehr Synergiemöglichkeiten und Gemeinsamkeiten schaffen, vom Militärischen bis hin zum diplomatischen Dienst und wirtschaftlicher Integration. Dazu gehört auch die Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips bei außen- und sicherheitspolitischen Fragen. Europa muss lernen, mit einer Stimme zu sprechen und seine geopolitischen Interessen gegenüber anderen Großmächten effektiver zu vertreten. Die USA bleiben dabei ohne Zweifel unser wichtigster Verbündeter. Gleichzeitig sollte sich aber die EU nicht in einen neuen Hegemonialkonflikt zwischen den USA und der Volksrepublik China hineinziehen lassen. Statt auf Entkoppelung und Konfrontation zu setzen, sollte die EU alles dafür tun, die regelbasierte Ordnung zu retten und das Denken in Nullsummenspielen zu überwinden. Deshalb war es richtig, dass sich Bundeskanzler Olaf Scholz beim letzten G7-Gipfel in Hiroshima erfolgreich für „de-risking“ und konstruktive und stabile Beziehungen mit China einsetzte. Dies bedeutet allerdings keinesfalls, dass Europa eine Position der Äquidistanz zwischen Peking und Washington einnehmen sollte. Die transatlantische Zusammenarbeit bleibt gerade in Zeiten des Umbruchs eine wichtige Säule der internationalen und regelbasierten Ordnung. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass unsere Interessen in einer multipolaren Weltordnung nicht immer mit jenen in Washington identisch sein werden. Unser Ziel sollte es daher sein, die transatlantische Partnerschaft zu stärken und zugleich unsere europäische Souveränität auszubauen und mehr strategische Verantwortung zu übernehmen.

 

All dies zeigt deutlich: Auf die entstehende multipolare Weltordnung wird es keine einfachen Antworten geben. Wir dürfen die Welt jedoch nicht in ein neues Schwarz-Weiß-Denken aufspalten. Seit der Corona-Krise und dem Krieg in der Ukraine können wir eine zunehmende Fragmentierung der Welt und eine Veränderung der Globalisierungsmuster beobachten. Vor allem die sich zuspitzende machtpolitische Rivalität zwischen den USA und China macht eine wirksame Zusammenarbeit bei zentralen globalen Menschheitsaufgaben, wie der Bekämpfung des Hungers, dem Klimawandel und Pandemien immer schwieriger. Gleichzeitig steht die globale vertragsbasierte Rüstungskontrolle vor ihrem Ende. Ein neuer Rüstungswettlauf sowohl bei konventionellen wie auch nuklearen Waffen und Waffen mit künstlicher Intelligenz ist längst im Gange. Bereits heute verfügen Russland, China und auch der Westen über zahllose Waffensysteme, die die Welt, in der wir leben, zerstören können. Dennoch ist laut dem Jahresbericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri die Zahl gefechtsbereiter nuklearer Sprengköpfe im Vergleich zum Vorjahr nochmals gestiegen[4]. Vor allem die Volksrepublik China baut ihr nukleares Arsenal weiterhin massiv aus. Dem SIPRI-Bericht zufolge könnte China bis Ende dieses Jahrzehnts über genauso viele ballistische Interkontinentalraketen verfügen wie die USA und Russland. Diese Entwicklungen zeigen, dass wir die Rüstungskontrolle grundlegend neu ausrichten müssen. Wir brauchen neue Rüstungskontrollforen und Regelwerke, die sowohl neue wichtige Akteure wie China als auch neue technologische Entwicklungen, insbesondere in den Bereichen Künstliche Intelligenz, Autonomie, Cyber und Weltraum, stärker mit einbinden.

 

Die Zeitschrift „Bulletin of the Atomic Scientists“ hat angesichts der gegenwärtigen tiefgreifenden geopolitischen Verwerfungen und geopolitischen Verschiebungen vor kurzem den Zeiger der Weltuntergangsuhr auf 90 Sekunden vor Mitternacht vorgestellt – so nah an einer globalen Katastrophe wie noch nie seit ihrer Einführung im Jahr 1947[5]. Deshalb ist umso wichtiger, dass wir immer wieder versuchen, gemeinsame Interessen zu finden und auch schwierige Partner in multilaterale Ansätze einbinden. Gerade in Zeiten globaler Großkrisen, machtpolitischer Verwerfungen und geopolitischer Spannungen brauchen wir eine internationale Ordnung, die auf gemeinsamen Regeln und Gesetzen, auf Kooperation und Multilateralismus gründet. Ansonsten werden sich noch mehr Monster unserer Welt bemächtigen.

 

[1] Dieser Artikel ist erstmals in einer leicht veränderten Fassung am 14. Juni 2023 im Blog der Republik erschienen. Siehe: Mützenich, Rolf (2023): „Die Zeit der Monster: Vom unipolaren Moment zurück zum globalen Mächtkonzert“, Blog der Republik, online aufrufbar unter: https://www.blog-der-republik.de/die-zeit-der-monster-vom-unipolaren-moment-zurueck-zum-globalen-maechtekonzert-ein-gastbeitrag-von-rolf-muetzenich/ [letzter Abruf: 29.8.2023].

[2] Dr. Rolf Mützenich ist seit 2019 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Er gehört seit 2002 dem Deutschen Bundestag an.

[3] Evie Papada, David Altman, Fabio Angiolillo, Lisa Gastaldi, Tamara Köhler, Martin Lundstedt, Natalia Natsika, Marina Nord, Yuko Sato, Felix Wiebrecht, and Staffan I. Lindberg. 2023. Defiance in the Face of Autocratization. Democracy Report 2023. University of Gothenburg: Varieties of Democracy Institute (V-Dem Institute), online aufrufbar unter: https://www.v-dem.net/publications/democracy-reports/ [letzter Abruf:29.8.2023].

[4] SIPRI Yearbook 2023: Armaments, Disarmament and International Security, SIPRI. Oxford: Oxford University Press, 2023.

[5] The Bulletin of the Atomic Scientists: A time of unprecedented danger: It is 90 seconds to midnight, 2023 Doomsday Clock Statement, 24. Januar 2023, online aufrufbar unter: https://thebulletin.org/doomsday-clock/current-time/ [letzter Abruf: 29.8.2023].

 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Gastbeitrag
Veröffentlicht: 
Zeitschrift für sozialistische Wirtschaft und Politik, 256 – 03/23, S. 13-18.