Grundlinien der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik aus sozialdemokratischer Sicht

Rüstungskontrolle und Abrüstung - viele assoziieren diese Begriffe immer noch mit einer längst vergangenen Zeit, mit Gipfeltreffen der Supermächte in Wien und Reykjavik und der KSZE-Schlussakte von Helsinki. Es sind aber immer noch und seit neustem wieder ganz aktuelle Themen. Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sind Kernpunkte sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik. Während der Entspannungs- und Ostpolitik waren sie Instrumente der Krisenbewältigung und Plattform für einen institutionalisierten Dialog zwischen unterschiedlichen politischen Systemen und Weltanschauungen.

Nach einem Jahrzehnt der Abrüstung, das 1987 mit dem INF-Vertrag begann und 1997 mit der Chemiewaffenkonvention endete, steigen die Militärausgaben seit 1998 wieder deutlich an. Laut SIPRI-Jahrbuch 2008 wurden im Jahr 2007 ca. 900 Milliarden Euro weltweit für militärische Zwecke ausgegeben ? 3,5 Prozent mehr als 2005. In den letzten zehn Jahren sind die Rüstungsausgaben damit weltweit um 37 Prozent gestiegen. Die USA liegen dabei mit großem Abstand an der Spitze: Auf sie entfallen mit 396,2 Milliarden Euro, 42 Prozent der globalen Rüstungsausgaben. Auch beim internationalen Waffenhandel ist seit 2002 ein Anstieg um 50 Prozent zu verzeichnen.

20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges lagern weltweit immer noch gut 32.000 nukleare Sprengköpfe. Die mehrfache Vernichtungskapazität der Menschheit hat sich seit 1989 also nur unwesentlich verringert. Dafür ist die Verbreitung (Proliferation) der Massenvernichtungswaffen brisanter geworden. Und in den Planungsstäben der Großmächte erlebt die Atombombe eine strategische Renaissance. Nahezu unbemerkt von der Weltöffentlichkeit befinden sich die führenden Militärmächte wieder längst in einem neuen atomaren Rüstungswettlauf, der dringend gestoppt werden muss. Zwar hat die Gefahr eines "nuklearen Weltkrieges" abgenommen, gleichzeitig treten aber an die Stelle dieser klar zu bestimmenden Bedrohung bisher unbekannte Gefahren für die internationale Sicherheit: schwache und instabile Staaten, die mit Massenvernichtungswaffen ausgerüstet sind, oder nicht-staatliche Akteure, die immer mehr an Bedeutung gewinnen. 

Nach dem Ende der Bush-Ära sind die USA und Russland nun offenbar wieder bereit zu kooperieren. Dies ist überfällig und angesichts der Probleme in der Welt nur vernünftig. Damit geht die jahrelange Eiszeit, die mit der Ankündigung des US-Raketenschildes in Osteuropa und dem Krieg um Südossetien zuletzt noch kälter geworden war hoffentlich ihrem Ende entgegen. Die neue US-Administration jedenfalls geht in Sachen internationaler Sicherheit und Abrüstung nun wieder auf Russland zu. Schon bei seinem ersten Treffen mit dem russischen Präsidenten Dmitrij Medwedjew in London bekräftigte Obama den Willen, binnen weniger Monate mit Moskau einen Nachfolgevertrag für den am 5. Dezember auslaufenden Vertrag zur Reduzierung strategischer Waffen (Start I) von 1991 zu erreichen. Mit diesem Vertrag wurde eine Begrenzung der Zahl der Atomwaffen auf jeweils 6000 Gefechtsköpfe auf 1600 strategischen Trägerwaffen vereinbart. Schon bis zu dem für Juli geplanten Besuch Obamas in Moskau sollen die Grundzüge des neuen bilateralen Vertrages feststehen: Beide Seiten sollen die Zahl der Gefechtsköpfe auf jeweils 1000 reduzieren.

Abrüstung und Rüstungskontrolle sind nach wie vor unabdingbar für die Gestaltung einer friedlichen Weltordnung bleiben. Wenn sie konsequent angewandt werden, können sie die Zusammenarbeit und das friedliche Zusammenleben stärken. Voraussetzung dafür ist und bleibt allerdings der politische Wille, an dem es in den vergangenen Jahren ganz offensichtlich gemangelt hat und der nun wieder vorhanden zu sein scheint.

Die Krise des atomaren Nichtverbreitungsregimes überwinden

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts werden Kernwaffen nicht mehr als letztes Mittel der Abschreckung gesehen, sondern zunehmend wieder als Kriegsführungswaffen. Mit der fortwährenden Modernisierung ihrer Arsenale stellen nicht nur die USA, sondern auch Russland, China, Frankreich und Großbritannien die Abrüstungsverpflichtung aus Art. VI des Atomwaffensperrvertrages (NPT) in Frage und rücken von dem durch die Überprüfungskonferenz 2000 im Konsens verabschiedeten 13 Punkte-Aktionsplan für nukleare Abrüstung ab. Trotz gegenteiliger Bekenntnisse im UN-Sicherheitsrat sind immer weniger Kernwaffenstaaten bereit, Zusicherungen des Nichteinsatzes abzugeben und behalten sich weiterhin das Recht vor, diese auch präventiv einzusetzen. Statt dem im Atomwaffensperrvertrag festgehaltenen Ziel einer "nuklearwaffenfreien Welt" droht eine "Renuklearisierung" der Weltpolitik. Wir brauchen deshalb dringend neue Impulse bei der nuklearen Abrüstung. Ein Scheitern der NPT-Überprüfungskonferenz 2010 muss verhindert werden. Die 13 Punkte enthalten die notwendigen Maßnahmen für weitere Schritte im Bereich der nuklearen Abrüstung. Dazu gehören das rasche Inkrafttreten des Atomteststopp-Abkommens (CTBT), die Aufnahme von Verhandlungen über ein Verbot von spaltbarem Material für Waffenzwecke (FMCT) sowie die Mahnung an die fünf offiziellen Atommächte ihre Abrüstungsverpflichtung umzusetzen. (Artikel VI des NPT) Das multilaterale Vertragssystem wird weiter erodieren, wenn bestimmte Staaten oder Staatengruppen Vertragspflichten und -rechte einseitig zu ihren Gunsten interpretieren.

Nordkorea und Iran jedenfalls haben aus dem Irakkrieg die Lehre gezogen, dass es die beste Versicherung gegen eine US-Invasion ist, möglichst rasch selbst zur Atommacht aufzusteigen. Schnell könnten die Atomprogramme dieser beiden Problemländer eine verheerende Kettenreaktion auslösen. Japan und Südkorea werden kaum untätig zusehen und auch die sunnitischen Herrscher Saudi-Arabiens und Ägyptens dürften es kaum in Kauf nehmen, dass sich der schiitische Iran mit Atomraketen zur unangefochtenen Regionalmacht aufschwingt.

Für eine Null-Lösung bei den taktische Nuklearwaffen

Während man über den vermeintlichen Nutzen von strategischen Nuklearwaffen trefflich streiten kann, sind sich eigentlich alle Experten darüber einig, dass die taktischen Nuklearwaffen nach Ende des Ost-West-Konflikts keinerlei sicherheitspolitische Bedeutung mehr haben. Es geht dabei nicht nur um die wenigen Atomwaffen, die noch in Deutschland lagern, sondern um die taktischen Kernwaffen insgesamt. In zwei Artikeln hat u.a. Amerikas früherer Außenminister Henry Kissinger (Wall Street Journal vom 4.1.2007 und 15.1.2008) die Führer der Welt dazu aufgerufen, schnellstens alle taktischen Atomwaffen abzuschaffen, wenn sie keinen nuklearen Schlagabtausch riskieren wollten. Die neue nukleare Ära drohe »prekärer, psychologisch verwirrender und wirtschaftlich sogar noch teurer« zu werden als der Kalte Krieg. Die Unterzeichner des Artikels sind vier Politiker, die über jeden Verdacht pazifistischer Blauäugigkeit erhaben sind. Neben Kissinger gehören William Perry, George Schultz und Sam Nunn zu den Unterzeichnern. Der Appell enthält acht konkrete Vorschläge. Sie reichen von einer parteiübergreifenden Initiative im Kongress zur Ratifizierung des umfassenden atomaren Teststoppvertrages (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT) bis zur weltweiten Kontrolle der Urananreicherung und zur globalen Beendigung der Herstellung von waffenfähigem spaltbarem Material. Die vier Elder Statesmen fordern darüber hinaus eine wesentliche Reduzierung der Nuklearwaffen, die vollständige Beseitigung aller atomaren Kurzstreckenraketen sowie die Ratifizierung des Teststoppabkommens.

Unterstützung erhielt die Initiative Anfang 2009 von den vier deutschen Elder Statesmen Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Egon Bahr und Hans-Dietrich Genscher. Auch sie betonen Kooperation als Grundprinzip der Sicherheit und fordern darüber hinaus die Wiederherstellung des ABM-Vertrages, die Ratifizierung des AKSE-Vertrages, den Verzicht auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen sowie eine ernsthafte Diskussion über eine neue europäische Sicherheitsarchitektur.

Kontrolle von Kleinwaffen und leichten Waffen verbessern, Streumunition verbieten

Hier sollten die vorhandenen Ansätze im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Vereinten Nationen weiter verfolgt und intensiviert werden. Nach wie vor gilt: Kleinwaffen sind die wahren Massenvernichtungswaffen. In Afghanistan und in Zentralafrika sterben ungezählte Opfer an Geschossen aus alten, gebrauchten Kalaschnikows, Uzis oder G3-Gewehren. Nach Schätzungen werden jedes Jahr eine halbe Million Menschen durch Kleinwaffen getötet, davon 300.000 in bewaffneten Konflikten vor allem im Afrika südlich der Sahara und in Asien. Jedes Jahr werden mehrere Millionen Kleinwaffen produziert. Laut Jahresbericht des Schweizer Projekts "Small Arms Survey" sind derzeit mindestens 875 Millionen Kleinwaffen, also Pistolen, Gewehre und auch tragbare Panzerfäuste im Umlauf. Waffen, die nach der Auflösung der sowjetischen und anderen Armeen nach 1989 in Massen verschwunden sind. Auch hier scheitert eine wirksame (Export-)Kontrolle von Kleinwaffen bislang am Widerstand der Waffenlobby wichtiger Länder wie Russland, China und den USA.
Ein weiteres wichtiges Ziel bleibt die Umsetzung der in Oslo am 03.12.2008 von über 100 Staaten unterzeichneten völkerrechtlichen Ächtung von Streumunition. Auch hier haben zivilgesellschaftliche Organisationen maßgeblich zum Erfolg beigetragen.

Die Krise des KSE-Vertrages überwinden

Die jüngste Entwicklung zum KSE-Vertrag zeigt, dass die akute Gefahr besteht, dass ein weiteres ausgefeiltes Instrumentarium in Bereich der konventionellen Rüstungskontrolle ohne Not aufs Spiel gesetzt wird. Der 1990 geschlossene KSE-Vertrag zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt gehört zu den wichtigsten Vereinbarungen zur Rüstungskontrolle. Er begrenzt die Zahl der Waffensysteme vom Ural bis zum Atlantik und ermöglicht umfangreiche und regelmäßige gegenseitige Inspektionen. Hintergrund der russischen Aussetzung ist der Streit um die amerikanischen Raketenabwehrpläne und die ausstehende Ratifizierung des angepassten KSE-Vertrags (AKSE) von 1999 durch die NATO-Staaten. Der Westen macht dies bislang von einem Abzug russischer Truppen aus den früheren Sowjetrepubliken Moldawien und Georgien abhängig. Auch wenn man in Moskau betont, dass die Entbindung Russlands von seinen Vertragspflichten keine automatische Aufrüstung der russischen Streitkräfte an der Westgrenze bedeute, stürzt Russland das KSE-Regime damit in eine tiefe Krise. Es muss nun alles dafür getan werden, den angepassten KSE-Vertrag (AKSE) zu ratifizieren und das KSE-Regime zu retten. Dazu bedarf es der Bewegung auf allen Seiten und die Fortsetzung des von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier in Bad Saarow begonnenen konstruktiven Dialogs, der im Juni 2009 fortgesetzt werden soll. Auch wenn der Georgienkrieg eine Lösung der festgefahrenen Situation deutlich erschwert hat, liegt es im Interesse Deutschlands und Europas, dass Russland wieder in das KSE-System eingebunden wird und der KSE-Vertrag als zentrales Element der rüstungskontrollpolitischen Vertrauensbildung in Europa erhalten bleibt.

Resümee

Barack Obama hat mit seiner Prager Rede ein neues Kapitel aufgeschlagen. Wenn seine Vision von der atomwaffenfreien Welt Wirklichkeit werden sollte, dann ist die Menschheit endlich von der drückenden Last der drohenden eigenen Vernichtung befreit.

Dass dies nicht von heute auf morgen geschehen kann und dabei noch viele Widerstände aus dem Weg geräumt werden müssen, zeigen nicht nur die verhaltenen Reaktionen in Moskau und Peking. Auch Nordkoreas Raketentest verdeutlicht, wie weit Obamas Versprechen einer atomwaffenfreien Welt noch entfernt ist.

Die ersten praktischen Schritte müssen nun folgen: Ein START-I-Nachfolgeabkommen zur Reduzierung der strategischen Arsenale, die Ratifizierung des Atomteststoppvertrages durch die USA, ein Erfolg bei der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages 2010, ein weltweites Verbot von Mittelstreckenraketen, die Rettung des KSE-Regimes und eine Nulllösung bei den taktischen Nuklearwaffen stehen konkret auf der Tagesordnung. Bis zu einer atomwaffenfreien Welt ist es noch ein weiter Weg. Dass der Präsident der Welt- und Atommacht USA ihn gehen möchte, gibt Anlass zur Hoffnung. Die Voraussetzung für nukleare Abrüstung und eine Wiederbelebung der Rüstungskontrolle sind jedenfalls so gut, wie schon lange nicht mehr.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Zur Renaissance der Rüstungskontrolle
Veröffentlicht: 
In: AK Sicherheitspolitik und Bundeswehr der NRW SPD, Newsletter 2/2009, S. 5-8.