Die Freiheit nicht auf dem Altar der Sicherheit opfern!
Die flächendeckende elektronische Überwachung durch US-Geheimdienste, bei der angeblich allein aus Deutschland monatlich 500 Millionen Datensätze abgeschöpft werden, hat zu massiven transatlantischen Verstimmungen und Irritationen geführt. Dabei muss man sich auf deutscher Seite nicht naiver stellen, als man ist. Dass befreundete Geheimdienste Daten sammeln und austauschen müssen, um Gefahren abzuwehren, steht außer Frage und ist zudem nichts Neues. Die terroristischen Anschläge des 11. September haben verständlicherweise die Sicherheitsbedürfnisse der USA erhöht. Mittlerweile werden jedoch in einem erschütternd großen Ausmaß Daten abgefischt, mit denen Profile zu Bewegungen, Konsum, Gesundheit, Netzwerken, Meinungen und private Beziehungen abgebildet werden können. Das ist eine neue Qualität von verdachtloser Überwachung, die sich aus der technologischen Entwicklung der Digitalisierung der vergangenen Jahre ergeben hat. Die Tatsache, dass diese Schnüffeleien auch innerhalb der EU-Bürokratie stattfanden nährt den Verdacht, dass es dabei nicht nur um Terror- und Gefahrenabwehr, sondern schlicht auch um Wirtschaftsspionage geht. Dies belastet zweifellos die Verhandlungen um die dringend notwendige Euro-Atlantische Freihandelszone.
Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit ist ein Grundanliegen aller Demokratien und ein zentrales Thema für den transatlantischen Dialog. Auch in den USA wächst die Kritik an der Überwachungspraxis der NSA. So sind 56 Prozent der Amerikaner der Meinung, dass die Gerichte der Telefon- und Internetüberwachung nicht die nötigen Grenzen gesetzt haben. Sicher: Die Rechtskulturen beider Staaten sind sehr unterschiedlich. Vielen Menschen in Deutschland, wo es bislang keinen Anschlag mit Tausenden von Toten gab, erscheint der Drang des Staates nach mehr Sicherheit als das eigentliche Problem. Für die USA hingegen steht seit dem 11. September die Sicherheit ihrer Bürger im Mittelpunkt. Die Beweislast für Zugriffe des Staates wird dabei zunehmend in die Sphäre des Privaten verschoben: Nicht der Staat muss sich rechtfertigen, dass er auf Privates zugreift, sondern der Bürger muss begründen, warum er der Gemeinschaft etwas vorenthält. Wenn Geheimdienste im Namen des Staates Grundrechte der Bürger aushöhlen, st die Demokratie in Gefahr. Geheimdienste müssen sich auf dem Boden des Rechtsstaats bewegen. Sie sind dem Schutz der Bürger verpflichtet und dürfen keine Methoden anwenden, die ihr demokratisches Mandat übersteigen.
Deutschland hat das Recht, in der NSA-Affäre von Washington Aufklärung zu verlangen, zumal wenn die Spähangriffe der NSA deutsche Grundrechte massiv verletzt haben. Ein gesamteuropäisches Abkommen mit den USA ist überfällig. Vertrauen schaffen können indes allein die einzelnen Staaten. Das geht nur über größtmögliche Transparenz, die Ächtung von Daten-Übergriffen und mehr Rechtssicherheit. Wir sollten deshalb so schnell wie möglich ein Datenschutzabkommen zwischen der EU und den USA erarbeiten, in dem Standards für die Datenverwendung und Kontrollmechanismen festgeschrieben werden. Da Geheimdienste grenzübergreifend arbeiten, müssen sie auch grenzübergreifend kontrolliert werden. Die Datenschutzrichtlinien müssen erweitert werden und klare, einklagbare Regeln für den Datenfluss auch außerhalb Europas mit den USA und auch mit London getroffen werden. Immerhin schöpfen die Briten den transatlantischen Datenverkehr nicht wie die USA von außen, sondern von innen ab. Das Überwachungssystem Tempora des britischen Geheimdienstes steht in Sachen Datengier den Amerikanern um nichts nach. Dabei ist Großbritannien als EU-Mitglied aufgrund europäischer Verträge zum Datenschutz verpflichtet.
Nötig ist jetzt ein "code of conduct", der regelt, wie sich Nachrichtendienste bei befreundeten Staaten verhalten dürfen, und vor allem: wie nicht. Die Balance zwischen Sicherheitsgewinn und Freiheitsverlust muss dabei gewahrt bleiben. Über die Einhaltung dieser Balance dürfen nicht Geheimdienste entscheiden. Die Debatte und Entscheidung darüber ist vielmehr Aufgabe der Parlamente. Dies bedeutet, dass die parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste effizienter werden muss - auf beiden Seiten des Atlantiks. Es stimmt deshalb hoffnungsvoll, dass der amerikanische Kongress offenbar gewillt ist, die Regierung und die Geheimdienste stärker zu kontrollieren.
Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen. Die Sicherheit hat der Freiheit zu dienen, nicht umgekehrt. Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus darf nicht den Rechtsstaat selbst in Frage stellen. In einem Staat, der seine Bürger unter Generalverdacht stellt, werden Bürgerrechte zum Kollateralschaden. Benjamin Franklins kluger Satz gilt nach wie vor: "Wer die Freiheit zugunsten der Sicherheit aufgibt, verliert am Ende beides".