Frage des Überlebens
Seitdem Präsident Trump im Stil eines Paten seinen ukrainischen Kollegen Selenskyj auf offener Bühne demütigte und die Unterstützung der USA zeitlich einstellte, herrschen in Deutschland und anderen Ländern Fassungslosigkeit und Besorgnis. Mit Sorgenfalten und einem weinerlichen Unterton wird das mögliche Ende der transatlantischen Beziehungen, der Ausverkauf der Ukraine und das Ende der regelbasierten Ordnung beklagt. Das Ausmaß der Reaktionen überrascht, denn immer wieder wurde behauptet, wir seien auf eine zweite Präsidentschaft Donald Trumps gut vorbereitet.
Natürlich kann man in Europa die derzeitigen Entwicklungen bedauern. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob der US-Präsident und seine Entourage nicht genau das tun, was sie stets angekündigt haben. In den Plänen für das Project 2025 der Heritage Foundation konnte man bereits seit Längerem nachlesen, dass kein Stein auf dem anderen bleiben solle. Es hätte natürlich auch anders kommen können: Die Demokraten hätten die US-Präsidentschaftswahlen gewinnen oder zumindest das Repräsentantenhaus mehrheitlich kontrollieren können. Doch ob uns das wirklich von weiterreichenden Fragen entbunden hätte, steht auf einem anderen Blatt.
Fest steht jedoch: Europa steht vor einer weiteren Zeitenwende. Bei den aktuellen Gesprächen über ein mögliches Ende des Krieges scheinen die Europäer bislang nur Zaungäste zu sein – nicht zuletzt weil nur wenige in Europa von Beginn an einen breiteren Ansatz wagten. Umso dringlicher ist es, dass die EU nun eine gemeinsame Strategie und einen kohärenten Plan entwickelt, wie der Krieg auch unter Berücksichtigung europäischer und ukrainischer Interessen beendet werden kann. Lange dienten Fragen der militärischen Ausrüstung und Strategie als Ersatz für eine umfassendere Politik, die militärische Unterstützung und diplomatische Lösungsansätze gleichermaßen berücksichtigt.
Während die Trump-Administration jetzt über die Köpfe vieler hinweg Tatsachen schafft, beginnt Europa endlich über eine eigene Initiative zur Beendigung des Krieges zu diskutieren. Dabei hätte die umfassende Unterstützung der Ukraine mit militärischen, wirtschaftlichen und humanitären Mitteln von Beginn an auch das Nachdenken über Szenarien wie Feuerpausen, demilitarisierte Zonen und deren Überwachung ohne die Vorwegnahme von Gebietsabtretungen einbeziehen müssen.
Selbst jetzt ist es jedoch für einen solchen Ansatz nicht zu spät. Europa verfügt über die notwendige Erfahrung, um einen eigenständigen Plan zu entwickeln, der einen Waffenstillstand ermöglicht und zugleich den Fortbestand der Ukraine als souveräne Demokratie sichert. Im Mittelpunkt muss dabei der Erhalt der Institutionen und Regeln stehen, die in solchen Konflikten bereits erprobt wurden. Auf die Vereinten Nationen, die OSZE, eine Kontaktgruppe und ein ratifiziertes Abkommen zu verzichten und stattdessen einem faulen und unausgegorenen Deal den Vorzug zu geben, wäre fatal.
Ein europäisches Konzept muss zugleich eine militärische Rückversicherung als auch Formen der Koexistenz mit den Ländern umfassen, die nicht unsere politischen Werte teilen. Zudem müssen Sicherheitsgarantien und Friedenstruppen auch jene Staaten umfassen, die zukünftig die internationale Ordnung nachhaltig prägen werden. Das sind bekanntlich auch Länder außerhalb des sogenannten „Westens“. Dabei gilt es, über den Tellerrand der gegenwärtigen Debatte hinauszudenken.
Präsident Trump hat in den vergangenen Wochen nicht nur russische Narrative übernommen. Er hat im selben Atemzug Abkommen und Rüstungsbegrenzungen mit Russland und China in Aussicht gestellt, einschließlich des Abbaus atomarer Kapazitäten. Aus Sicht Washingtons und Moskaus geht es dabei vor allem um weit reichende, strategische Potenziale. Das kann nicht das vorrangige Interesse Europas sein. Dahingegen wäre es klüger, sich auf die Reduktion der viel gefährlicheren Atomwaffen mit kurzer Reichweite auf beiden Seiten zu konzentrieren. Die geplante Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen bis 2026 in Deutschland bietet hierfür einige Ansatzpunkte. Falls Europa aber weiterhin so agiert wie in den letzten Tagen und Wochen, wird es noch weiter an den Rand gedrängt werden.
Stattdessen steht jedoch erneut die Frage über den Aufbau eines europäischen Atomwaffenschirms im Zentrum sicherheitspolitischer Diskussionen. Es ist unbestritten, dass Europa seine Eigenständigkeit und Autonomie stärken muss. Dazu gehört sicherlich auch eine gemeinsame europäische Verteidigung. Doch es ist fraglich, ob eine eigenständige nukleare Abschreckung der erste Schritt in diese Richtung sein sollte. Es mag sein, dass dies mittel- bis langfristig möglich ist. Doch eine ehrliche Debatte muss auch die damit verbundenen Risiken und Herausforderungen benennen.
Präsident Macron mag es ernst meinen und nicht nur an eine finanzielle Lastenteilung ohne echte politische Mitsprache denken. Doch ebenso ist es möglich, dass wir uns bald einer französischen Präsidentin Le Pen gegenübersehen, die das französische Atomwaffenarsenal möglicherweise im Sinne Moskaus behandeln wird. Hinzu kommt, dass in der französischen Innenpolitik die Einbettung der Force de Frappe in eine europäische Verteidigungsstrategie umstritten ist. Selbst europäische Politiker, wie der ehemalige Präsident Hollande, lehnen den Ansatz von Macron ab.
Daher sollten wir uns primär auf die Frage konzentrieren, wie eine breit aufgestellte konventionelle Verteidigungspolitik aussehen könnte, zumal die Unterscheidung zwischen beiden Ebenen heute oftmals nur noch eine weitgehend akademische Debatte ist. Die Zielgenauigkeit und die Zerstörungskraft konventioneller Waffen erreichen mittlerweile fast das Niveau nuklearer Systeme. Der Gedanke der Abschreckung kann also auch konventioneller Natur sein.
Es bleibt absolut notwendig, der Ukraine weiterhin zu helfen und gleichzeitig die Verteidigungsfähigkeit unserer Union gegenüber Russland herzustellen. Das bleibt eine Frage des Überlebens und einer Politik, zu der nur Demokratien in der Lage sind. Gleichzeitig dürfen wir bei der aktuellen und notwendigen Debatte über die europäische Verteidigung nicht vergessen, dass strategische Autonomie und Souveränität weit über militärische Aspekte hinausgehen.
Sicherheit und Resilienz im 21. Jahrhundert bedeutet auch Schutz der Umwelt, Wert der Arbeit, Chancengerechtigkeit und die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit Ländern aus dem sogenannten Globalen Süden. Hinzu kommen die Stärkung des demokratischen Rechtsstaats und eine kulturelle Vielfalt, die Pluralität sowie individuelle und kollektive Selbstbestimmung sicherstellen. Derzeit sieht es nicht danach aus, dass wir zu einer solchen Debatte bereit sind. Dennoch wäre es klug, endlich aus dem Schatten der USA und den eingeübten und festgefahrenen innenpolitischen Ritualen von Schwarz und Weiß herauszutreten.