Der Faktor Persönlichkeit in der internationalen Politik: Einsichten aus der politischen Praxis eines Außenpolitikers

FRAGEN EINES LESENDEN ARBEITERS

Wer baute das siebentorige Theben? 

In den Büchern stehen die Namen von Königen. 

Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? 

Und das mehrmals zerstörte Babylon,

Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute? 

Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war, Die Maurer? Das große Rom Ist voll von Triumphbögen. Über wen Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis Brüllten doch in der Nacht, wo das Meer es verschlang, Die Ersaufenden nach ihren Sklaven. 

Der junge Alexander eroberte Indien. 

Er allein? 

Cäsar schlug die Gallier. 

Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? 

Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte Untergegangen war. Weinte sonst niemand? 

Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer Siegte außer ihm? 

Jede Seite ein Sieg. 

Wer kochte den Siegesschmaus? 

Alle zehn Jahre ein großer Mann. 

Wer bezahlte die Spesen?

So viele Berichte, 

So viele Fragen.

Berthold Brecht, Gedichte

 

Einleitung

 „Männer machen Geschichte.“ Dieses Benito Mussolini zugeschriebene Zitat scheint heute – leider – wieder aktueller denn je. Die Persönlichkeit, das Charisma, der (zunehmend autistisch-pathologische) Charakter und die Machtfülle von Männern –und selbstverständlich auch von Frauen – spielt nach wie vor eine entscheidende Rolle in der internationalen Politik. Internationale Beziehungen sind immer auch ganz konkret Beziehungen und Interaktionen zwischen Staats- und Regierungschefs, mögen sie nun Trump, Putin, Xi, Merkel, Macron, Johnson oder Erdogan heißen. Und natürlich spielen hier – wie im normalen Leben auch – Sympathien und Antipathien eine ganz wesentliche Rolle. Die deutsche Einheit wäre ohne Gorbatschow und ohne das Vertrauensverhältnis, welches Helmut Kohl zu den damals relevanten Staatsmännern (vor allem George H.W. Bush und Francois Mitterand) aufgebaut hatte, womöglich nie gekommen. Die Rolle von George Bush d.Ä. ist ein Beispiel dafür, dass historische Konstellationen, so bedeutsam sie auch sein mögen, von politischen Akteuren genutzt werden müssen, sonst sind sie am Ende nur verpasste Gelegenheiten. Die USA gewannen den Kalten Krieg in jenen Tagen auch, weil sie im Herbst 1989 auf Triumphfeiern und Demütigungen Moskaus verzichteten. Diplomatie setzt voraus, die Welt mit den Augen des anderen zu sehen – eine Fähigkeit, die heute zunehmend verlorengegangen zu sein scheint. Das Vertrauensverhältnis, welches Bush und sein Außenminister Baker zu ihren Pendants Gorbatschow und Schewardnadse aufgebaut hatten, ermöglichte nicht nur die Einigung Deutschlands in einem geeinten Europa, sondern auch dessen Mitgliedschaft in der NATO. Man stelle sich nur einmal vor, Präsident Trump und einer seiner zahllosen Außenminister wären damals in Amt und Würden gewesen. Anstatt der deutschen Einigung hätten wir wahrscheinlich eine massive neue Konfliktformation, wenn nicht sogar den Dritten Weltkrieg bekommen.

Diese Beobachtungen bedeuten nun nicht unkritisch einer personalisierten Geschichtsschreibung oder gar einer Heroisierung oder Idealisierung von historischen Persönlichkeiten das Wort zu reden und die Rolle von Struktur- und Gesellschaftsgeschichte zu vernachlässigen (Steinweg und Wellmann 1990). Natürlich haben der relative Aufstieg Chinas und der relative Abstieg der USA auch strukturelle und gesellschaftspolitische Gründe und Ursachen, ebenso wie die Erfolgs- und derzeitige Krisengeschichte der europäischen Integration. Gleichwohl spielt der Faktor „Persönlichkeit“ gerade in den Krisen, denen sich die internationale Politik derzeit gegenübersieht, eine wichtigere Rolle denn je, kulminierend in der Person und dem Charakter des amerikanischen Präsidenten Donald Trump.

Während meiner Zeit im Bundestag habe ich seit 2002 viele internationale Krisen miterlebt: den wachsenden Afghanistaneinsatz der Bundeswehr, den Irakkrieg von 2003, den Krieg zwischen der Hisbollah und Israel 2006, den Georgienkrieg 2007, die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, den Libyenkrieg 2011, den syrischen Bürgerkrieg seit 2011, die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ostukraine 2014, die „Flüchtlingskrise“ 2015, den Brexit seit 2016 und die Rückkehr der „starken Männer“, mögen sie nun Trump, Putin, Xi, Erdogan, Johnson, Kaczynski oder Orbán heißen. Ich habe sowohl den „Basta-Kanzler“ Gerhard Schröder wie die moderierende „Konsens Kanzlerin“ Angela Merkel aus nächster Nähe beobachten und begleiten dürfen. Ich bin überzeugt davon, dass die unglaubliche Popularität von Angela Merkel bei der Mehrheit der deutschen Bevölkerung, aber auch ihr enormes internationales Ansehen und Prestige, auch daraus resultiert, dass sie den rationalen, weiblichen und vor allem gänzlich uneitlen Gegenentwurf zu all den Männern verkörpert, die teilweise vor Kraft kaum laufen können. Neben der präpotenten, pfauenhaften Machoattitüde von Putin, Trump, Erdogan oder Berlusconi wirkt Angela Merkels an der Sache orientierte, bedachte und vorsichtige Politik beruhigend und vertrauensbildend – auch wenn ich zugebe, dass ich mir manchmal weniger vorsichtiges Abwägen und mehr zupackendes visionäres Handeln gewünscht hätte – vor allem in der Europapolitik. Ich bin deswegen froh, dass sich dies als Folge der Corona-Pandemie offenbar zu ändern beginnt.

Die multiplen Krisen des Multilateralismus, der EU, der transatlantischen Beziehungen und die Erosion der liberalen Weltordnung, denen wir gegenüberstehen, lassen sich trotz aller strukturellen Gründe und Ursachen meines Erachtens geradezu exemplarisch an den Persönlichkeiten von Donald Trump, Xi Jinping, Wladimir Putin, Recep Erdogan, Boris Johnson und Viktor Orbán auffächern. Es drängt sich dabei der Eindruck auf, dass die Krise des Multilateralismus auch eine Krise der alten weißen Männer ist. Die geradezu „toxische Männlichkeit“ dieser Persönlichkeiten geht zugleich einher mit einer Kompetenz- und Führungskrise, verbunden mit einem unstillbaren Machtverlangen und Machterhalt um jeden Preis – auch unter Beihilfe krimineller Seil- und Machenschaften. Der vorliegende Essay basiert auf Beobachtungen, Gesprächen und Erfahrungen direkter und indirekter Art, die ich in den letzten knapp 20 Jahren in meinen Funktionen als abrüstungs-, nahost- und außenpolitischer Sprecher sowie als stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Fraktionsvorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion gemacht habe. Besonders schmerzt mich, dass sich in den Bereichen Abrüstung- und Rüstungskontrolle alle Bemühungen der letzten Jahrzehnte in Rauch aufzulösen drohen. So wird die Kündigung des iranischen Atomabkommens, bei dessen schwieriger Entstehungsgeschichte ich unmittelbar dabei sein durfte, dazu führen, dass das nahöstliche Pulverfass noch explosiver werden wird; und mit der Kündigung des INF-Vertrages und des Open Skies-Abkommen durch Donald Trump drohen weltweit neue Rüstungswettläufe.

1. Boris Johnson und Viktor Orbán: Die multiplen Krisen der EU

Die vielfältigen Krisen der EU lediglich auf bestimmte Personen zurückzuführen, würde natürlich zu kurz greifen. Gleichwohl lassen sich anhand der Persönlichkeiten von Boris Johnson, dem pathologischen Lügner und Vabanque Spieler und Viktor Orbán, dem skrupellosen Machtpolitiker, die Brexit-, Flüchtlings- und Wertekrise der EU exemplarisch beschreiben. Alle drei Krisen verdeutlichen zudem, dass das bisherige Erfolgsrezept der Europäischen Union, welches Frieden durch Integration und wachsenden Wohlstand versprach, im letzten Jahrzehnt an seine Grenzen gestoßen ist. Zum einen, weil es weniger Wohlstandsgewinne zu verteilen gab, zum anderen, weil die verantwortlichen Staats- und Regierungschefs nicht mehr das große Ganze, sondern zunehmend ihre nationalen Partikularinteressen oder ihren persönlichen Vorteil im Sinne hatten und haben. Insofern ist hier durchaus nicht nur staatsmännisches, sondern auch persönliches Versagen der relevanten Akteure zu konstatieren. Das vergangene Krisenjahrzehnt hat Europa politisch und ökonomisch tief gespalten, zu einem Aufstieg des Nationalismus und des Protektionismus, zu einem Verlust an Solidarität und Vertrauen und zu politischen Fliehkräften geführt, die heute eine grundlegende Bedrohung für die Europäische Union darstellen, ganz zu schweigen von den inneren Verwerfungen in den Ländern.

Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Brexit, bei dem Boris Johnson – neben David Cameron – ohne Zweifel eine zentrale Rolle gespielt hat und nach wie vor spielt. Als nach Jahren des Streitens und Hoffens Großbritannien am 31. Januar 2020 die Europäische Union verließ, war dies ein Schock für die EU. Und nach wie vor stecken die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien fest. Die Gefahr wächst, dass Europas zweitgrößte Volkswirtschaft Ende des Jahres ohne umfassendes Handelsabkommen mit der EU dasteht. Der Brexit droht doch noch zum Desaster zu werden, nicht nur für die Briten, sondern auch für die EU.  Immerhin hat sich die Befürchtung, dass andere Mitgliedsstaaten Großbritanniens Vorbild folgen könnten, zerschlagen. Erstaunlicherweise führte der Brexit zum Gegenteil. Statt die EU zu spalten, ließ er sie enger zusammenrücken. Das jahrelange Gewürge um den Brexit und die damit verbundene „Selbstverzwergung“ der einst stolzen Weltmacht hatte ganz offensichtlich abschreckende Wirkung auf die europäischen Populisten. Während sich noch Ende 2016 anderthalb Dutzend politische Parteien in Europa für Volksabstimmungen zum Austritt entweder aus der EU oder aus der Euro-Zone einsetzten, gibt es heute praktisch keine einzige größere Partei in Europa mehr, die offen für einen Austritt wirbt. Dies hat sicherlich auch damit zu tun, dass sich seit dem Referendum von 2016 Großbritannien auf fast unvorstellbare Weise verändert hat. Ivan Krastev fällt hier ein hartes Urteil: „Es ist provinziell, orientierungslos und irrelevant geworden.“(Krastev 2020)  All diejenigen, die auf beiden Seiten des Kanals immer noch auf einen „Breturn“ hoffen, einer Rückkehr des Vereinigten Königreichs in die EU, verdrängen jedoch die Realität. Hauptziel der EU muss derzeit sein, sicherzustellen, dass die Handelsgespräche mit dem Vereinigten Königreich die Beziehungen zwischen beiden Seiten nicht vergiften. In einer Welt, die zunehmend von der Großmachtrivalität zwischen den USA und China geprägt werden wird, bleibt Großbritannien der wichtigste strategische Partner der EU. Ohne die (militärischen) Fähigkeiten der Briten kann die Union ihr Ziel, ein autonomes Machtzentrum zu werden, niemals erreichen – zumal angesichts wachsender Unsicherheit über die Rolle der USA in Europa.

Für die EU ist das Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit konstitutiv und Teil der europäischen Identität. In der jüngsten Vergangenheit haben einzelne Mitgliedsländer diesen Bogen immer wieder überspannt, am dreistesten sicherlich Ungarn und Polen, die wohl beide heute nicht mehr in die EU aufgenommen würden, weil sie die sogenannten „Kopenhagener Kriterien“[1] nicht mehr erfüllen würden. Vor etwa zehn Jahren tauchten auf der politischen Bühne der Visegrád-Staaten Parteien auf, die den verunsicherten Menschen Schutz vor Korruption und Globalisierung versprachen. Sie präsentierten sich als die Verteidiger einer vermeintlich bedrohten nationalen Identität in einer von Paris und Berlin dominierten EU. Das war der Auftakt zur „Orbánisierung" Ostmitteleuropas – und das Ende der mit Vaclav Havel und anderen verbundenen revolutionären Bewegungen, die nach 1989 nationale Identität noch mit Europa gleichsetzten und in einer Friedenszone der Charta von Paris verantwortlich handeln wollten.

Während der polnische Präsident Jaroslaw Kaczynski ein religiös-national geprägter Überzeugungstäter ist, geht es Viktor Orbán vor allem um Machterhalt und persönliche Bereicherung. Beide haben in der Vergangenheit immer wieder die Grenzen der EU getestet. Orbáns Provokationen gingen dabei immer haarscharf bis zu der Grenze, ab der konkrete Sanktionen drohten. Dann zog er zumeist zurück. Seine Dreistigkeit, mit EU-Subventionen Wahlkampf gegen die EU zu machen, die Skrupellosigkeit, mit der er sich, seine Familie und seine Entourage bereicherte, all dies lässt ihn eher als russischen Oligarchen denn als demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt erscheinen. Gleiches gilt für seine Rolle während der Flüchtlingskrise, die er (zusammen mit Österreich) eskalieren ließ. Er lässt zudem keine Gelegenheit aus, Fremdenfeindlichkeit und Antiziganismus im Land zu schüren. Die Tatsache, dass seine Fidesz-Partei immer noch Mitglied der EVP ist, stellt ein Armutszeugnis für die konservative Parteienfamilie in Europa dar. Ich habe deshalb dafür plädiert, bei der anstehenden Erstellung des mehrjährigen Finanzrahmens für die EU, der in diesem Jahr beschlossen werden muss, darauf zu achten, dass die EU-Mittel nicht unabhängig von Rechtsstaatsdefiziten gezahlt werden (Oldenburger Onlinezeitung 2020). Die ungarische Regierung pflegt zudem ein besonders inniges Verhältnis zu China und verhindert dadurch oft ein entschlosseneres Auftreten der EU. Auch deshalb geht innerhalb der EU die Geduld mit Budapest langsam zu Ende.

Viktor Orbán ha­t es zudem meis­ter­haft ver­stan­den, den Kon­flikt mit seinen west­li­chen Kri­ti­kern in ei­ne Art Kul­tur­kampf um­zu­deu­ten. Er inszeniert sich als Ver­tei­di­ger ei­nes au­then­ti­schen Ver­ständ­nis­ses von Christ­de­mo­kra­tie und be­haup­tet im­mer wie­der, man kritisiere sei­ne Re­gie­rung al­lein des­halb, weil sie – im Gegensatz zum dekadenten Westeuropa – die wah­ren kon­ser­va­ti­ven Wer­te er­folg­reich ver­wirk­li­che: ein tra­di­tio­nel­les Fa­mi­li­en­bild, Schutz der hei­mi­schen Wirt­schaft, Ver­eh­rung der Na­ti­on als Schick­sals­ge­mein­schaft. Im­mer wie­der hat er die west­eu­ro­päi­sche Rech­te auf­ge­for­dert, mu­tig sei­nem Bei­spiel zu fol­gen, an­statt sich von An­ge­la Mer­kel in ein li­be­ra­les Nie­mands­land füh­ren zu las­sen, wo von gleich­ge­schlecht­li­cher Ehe bis zu of­fe­nen Gren­zen ver­meint­lich al­les mög­lich ist. Der ungarische Schriftsteller György Konrád sah schon früh die Gefahr, dass in Osteuropa mangels historischer Voraussetzungen nicht die liberale Demokratie den Kommunismus ablösen werde, sondern der nationalistische Ordnungsstaat, Orbáns illiberale Demokratie.[2]

Das vergangene Jahrzehnt zeigt auch, dass ein schwaches, zerstrittenes und handlungsunfähiges Europa im zunehmend aggressiven Systemwettbewerb zwischen den USA und China unter die Räder gerät. Deutschland kann nur als Teil eines starken, geeinten Europas seine nationalen Interessen wahren. Und es zeigt, dass es ein kluger Multilateralismus, der europäische Werte und Interessen schützt, unerlässlich macht, dass Europa als dritte Macht mit den USA und China am Verhandlungstisch sitzt. Auch hier wird es auf die handelnden Personen ankommen. In erster Linie auf Emmanuel Macron, Angela Merkel und Ursula von der Leyen aber auch auf die übrigen europäischen Staats- und Regierungschefs.

2. Donald Trump und Recep Erdogan: Die Krise der transatlantischen Beziehungen 

Donald Trump, der Narzisst und Rassist im Weißen Haus, der erste Präsident seit Jahrzehnten, der die Idee einer auf multilateralen Bündnissen beruhenden internationalen Ordnung ablehnt, steht nicht zufällig im Mittelpunkt der beiden nächsten Kapitel. Ich muss zugeben, wenn mir jemand prophezeit hätte, dass ein Mensch wie Donald Trump, der weder Empathie noch Anstand kennt, der hetzt, statt zu versöhnen und seinen krankhaften Narzissmus zur Staatsräson erhoben hat, einmal amerikanischer Präsident werden könnte, ich hätte den- oder diejenige für verrückt erklärt. Und in jeder Woche seiner Amtszeit, in der man glaubt, es könne nicht mehr schlimmer kommen, setzt das laut Eigeneinschätzung „sehr stabile Genie“ noch einen drauf. Ich habe in meiner Zeit als Bundestagsabgeordneter drei US-Präsidenten erlebt: George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump. Die tiefe Spaltung der amerikanischen Gesellschaft begann zweifelsohne bereits unter Clinton und Bush. Unter Donald Trump hat sie allerdings ein Ausmaß erreicht, welches ich nicht für möglich hielt. Bei vielen Gesprächen mit US-amerikanischen Politikerinnen und Politikern in Washington wurde mir schmerzlich bewusst, dass es zwischen Demokraten und Republikanern keinerlei Gemeinsamkeiten mehr zu geben scheint – bis auf die tiefe Verzweiflung über das Handeln und Agieren ihres Präsidenten.

Es lässt sich nicht leugnen, dass sich die deutsch-amerikanischen und die transatlantischen Beziehungen in der tiefsten Krise ihrer Geschichte befinden. Neben Trump hat dazu maßgeblich auch der ehemalige amerikanische Botschafter Richard Grenell beigetragen, der ebenso wie sein Präsident für seine unangebrachten Interventionen und teils unflätigen Auslassungen berüchtigt ist. Grenell belehrte die deutsche Politik in schöner Regelmäßigkeit, was sie zu tun habe, und führte sich eher wie ein römischer Statthalter auf als wie der Botschafter eines engen Bündnispartners – unterstützt von willfährigen deutschen Medien.

In gleicher Weise agiert sein Chef gegenüber der NATO nicht wie ein „gütiger Hegemon“, sondern wie ein Schutzgeldeintreiber. Die Äußerung Trumps, Deutschland schulde der NATO und den USA große Summen, ist und bleibt schlichter Unfug, und die damit verbundene Gleichsetzung von NATO und USA sagt einiges über ihn aus. Kluge internationale Politik bemisst sich nicht nach Haben und Soll. Die NATO ist kein Inkassobüro, sondern ein Militärbündnis. Die vielzitierte Vereinbarung der NATO-Staaten von Wales zu den Militärausgaben im Jahr 2014 drückt unter dem Eindruck sinkender Ausgaben lediglich eine politische Erwartungshaltung aus: Die „Verteidigungsausgaben sollen sich innerhalb von zehn Jahren auf den Richtwert von 2 Prozent zubewegen“ (NATO 2014, S. 5). Im Übrigen war es anfänglich ein Mittel, um Beitrittsländer so lange wie möglich außerhalb des Bündnisses zu halten. Eine apodiktische Festlegung auf zwei Prozent wurde demnach weder vereinbart, noch ergibt eine solche pauschale Festlegung des Anteils am Bruttoinlandsprodukt Sinn. Für Deutschland würde der Zwei-Prozent-Anteil nahezu eine Verdoppelung unserer derzeitigen Militärausgaben bedeuten. Damit hätten wir einen höheren Wehretat als die Atommächte Frankreich und Großbritannien. Dies galt zumindest vor der Corona-Pandemie. Eine direkte Folge des Wirtschaftseinbruchs wird nämlich sein, dass sich die deutschen Verteidigungsausgaben in diesem Jahr vermutlich in Richtung 1,8 Prozent des BIP bewegen werden. Davon abgesehen gilt: Über den deutschen Verteidigungsetat bestimmt nicht der US-Präsident, sondern der Deutsche Bundestag. Schon jetzt geben die NATO-Mitglieder mit rund 900 Milliarden Dollar dreimal so viel für ihre Armeen aus, wie Russen und Chinesen zusammen. Das Letzte, was die hochgerüstete Welt angesichts der Pandemie braucht, ist ein globaler Rüstungswettlauf, der Ressourcen absorbiert, die dringend für andere Ausgaben, etwa in Bildung, Forschung, Abrüstung, Gesundheit, Infrastruktur, Umwelt- und Klimaschutz, benötigt werden. 

Ob die NATO und die transatlantischen Beziehungen eine zweite Amtszeit von Donald Trump überleben werden, ist jedenfalls nicht sicher. Trumps inkompetente, quacksalberische Kommentare zur Seuchenpolitik und sein Schüren des Rassenhasses markieren einen vorläufigen historischen Tiefpunkt in seiner an Tiefpunkten wahrlich nicht armen Amtszeit.

Wie es weiter mit einer NATO gehen soll, deren einstige Vormacht sich immer mehr von dem Grundgedanken einer transatlantischen Politik- und Wertegemeinschaft entfernt, ist offen. Trump ist der erste Präsident seit Jahrzehnten, der die Idee eines auf multilateralen Bündnissen beruhenden Ordnungssystems ablehnt. Für die meisten NATO-Staaten in Europa hingegen ist das Bündnis immer noch die logische Konsequenz aus den Erfahrungen der beiden Weltkriege. In den USA spielt diese Vorstellung kaum noch eine Rolle. Zudem wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sich zwischen den USA, Russland und China die West-Ost-Ost-Konkurrenz verschärft. Darauf müssen die europäischen NATO-Staaten eine gemeinsame Antwort finden – sei es durch eine Neuausrichtung der NATO, sei es durch eine europäische Sicherheitsallianz.

Deutschland und andere Partner der USA müssen sich dar­auf einstellen, dass der Streit über sicher­heits­politische und militä­rische Lasten­teilung in der NATO an Heftig­keit und Virulenz gewinnen wird – unabhängig davon, ob der nächste Präsident Biden oder Trump heißen wird. Dabei gilt festzuhalten: Die NATO ist nicht nur im europäischen, sondern durchaus auch im amerikanischen Interesse auch und gerade dann, wenn Trump mit dem Abzug der US-Truppen aus Deutschland und Europa droht und den Eindruck erweckt, als seien die amerikanischen Soldaten auf dem Kontinent eine Art Caritas-Verband, getrieben allein von altruistischer Selbstlosigkeit.  

Bei aller berechtigter Kritik an Trump sollten wir zudem darauf achten, dass sich diese nicht auf Defätismus, Selbstgerechtigkeit (für die es angesichts des Zustands der EU keinerlei Grund gibt) und Antiamerikanismus beschränkt. Wir müssen alles dafür tun, dass es nach Donald Trump eine institutionalisierte Zusammenarbeit noch gibt. Dabei muss es auch darum gehen, die EU im Zweifelsfall gegen Amerikaner und Briten zusammenzuhalten – die beiden ehemaligen transatlantischen Führungsmächte.

Der beklagenswerte Zustand, in dem sich die transatlantischen Beziehungen befinden – Emmanuel Macron hat gar den „Hirntod“ der NATO diagnostiziert –, ist jedoch nicht nur dem US-Präsidenten anzulasten. Auch der türkische Präsident Recep Erdogan hat dazu seinen erheblichen Teil beigetragen.

Dabei haben die autoritären Züge der Türkei unter Präsident Erdogan in letzter Zeit nicht nur die Beziehungen zwischen Istanbul und Brüssel abkühlen lassen. Washington beäugt mit Sorge die wachsenden Interessengegensätze zu Ankara, das in Syrien die Kurden-Miliz YPG als Terroristen bekämpft, während die USA die kurdischen Kämpfer weiterhin mit Waffen beliefern. Während Erdogan ursprünglich als Reformer startete, hat sich die Türkei schrittweise in den letzten Jahren und endgültig zu einem autoritären Staat verwandelt. Erdogan missbrauchte offenkundig den Putschversuch von 2016 als Vorwand, politische Gegner ins Gefängnis zu werfen und unliebsame Kritiker mundtot zu machen. Auch die Bertelsmann-Stiftung stuft in ihrem aktuellen „Tranformationsindex“ die Türkei erstmals als „Autokratie“ ein, und zwar „aufgrund massiver Einschränkung der Pressefreiheit, grober Missachtung von Bürgerrechten und Aushebelung der Gewaltenteilung“ (zitiert nach Güsten 2020).

Die transatlantischen Beziehungen werden durch die Türkei ebenfalls schwer belastet. Ankara mischt im syrischen Bürgerkrieg völkerrechtswidrig als Kriegspartei in Nordsyrien mit, verfolgt die Kurden im eigenen Staatsgebiet. Mit dem Kauf von russischen Luftabwehrraketen und der Ankündigung, wegen Angriffen aus Nordsyrien den Bündnisfall ausrufen zu wollen, hat es sich innerhalb der NATO vollständig isoliert. Die NATO-Staaten sind jedenfalls nicht gewillt, sich durch die Türkei als Kriegspartei in den syrischen Bürgerkrieg ziehen zu lassen. Artikel 5 gilt nur im Fall eines Angriffs und nicht nach einem Gegenschlag auf eine eigene Offensive. Hinzu kommen Grenzstreitigkeiten über Erdgasvorkommen im Mittelmeer mit dem NATO-Partner und Nachbarn Griechenland und die Instrumentalisierung der Flüchtlingsfrage, mit der Erdogan die EU und Deutschland unter Druck zu setzen versucht. Der Fairness halber muss man aber der Türkei zugestehen, dass sie mehr Flüchtlinge als jedes andere europäische Land aufgenommen – nämlich fast drei Millionen – und diese auch, im Gegensatz zu anderen Staaten, unter halbwegs menschenwürdigen Bedingungen untergebracht hat.

Weil die türkischen Gesetze die Verfolgung kritischer Äußerungen ohne Gewaltaufruf als „Terrorismus“ erlauben, sitzen viele Regierungskritikerinnen und -kritiker im Gefängnis, die lediglich ihre Meinung geäußert haben. Dies gilt auch für Erdogan-kritische deutsche Staatsbürger, die zum Teil seit Jahren ohne triftigen Anklagegrund in türkischen Gefängnissen festsitzen. Als Beobachter mehrerer Prozesse in Istanbul konnte ich mir in den letzten Jahren selbst ein Bild vom „Rechtsstaatsverständnis“ des türkischen Präsidenten und einer dem Führer vorauseilenden Justiz machen.

Festzuhalten bleibt, dass sich die Türkei unter Erdogan von einem verlässlichen Partner des Westens und Europas zu einem Ort der Instabilität und einer „loose Canons“ zwischen Europa und dem Nahen Osten, zwischen Russland und dem Westen verwandelt hat.

3. Xi Jinping und Donald Trump: Das Ende der liberalen Weltordnung?

„Die Welt ist aus den Fugen“, die schon leicht abgegriffene und viel zitierte Formel von Frank-Walter Steinmeier beschreibt ganz gut die immer schnellere Abfolge von Krisen, wenngleich die Welt im Kalten Krieg Stabilität und Frieden ebenfalls nicht kannte. Immerhin gab es ein Korsett für Verabredungen und Regeln. Die multilaterale Weltordnung, welche die letzten siebzig Jahre währte, zeigt jetzt deutliche Risse – ja sogar deren Ende rückt in den Bereich des Denkbaren. Statt eine neue globale Ordnung zu schaffen, in der Staaten gemeinsam die großen Probleme zu lösen versuchen, marschieren viele wichtige Mächte zurück in die Welt des 19. Jahrhunderts. In dieser Welt der Nationalstaaten betreiben alte und neue Mächte offener denn je pure Interessenpolitik, getrieben von der Suche nach dem kurzfristigen ökonomischen oder machtpolitischen Vorteil. Nicht selten geht es ganz schlicht darum, sich und seine korrupte Clique an der Macht zu halten. Internationale Werte und die uneingeschränkte Gültigkeit von internationalen Abkommen werden zunehmend in Frage gestellt – und dies beileibe nicht nur von Donald Trump.

Wird es künftig ein Bündnis der starken Männer (Trump, Xi Jinping, Putin) geben, die über die Köpfe der anderen Nationen hinweg ihre Einfluss- und Interessenssphären abstecken? Alle drei Machtmenschen haben bereits klargemacht, dass für sie Regeln und das internationale Recht nur dann gelten, sofern diese ihren Interessen nicht im Weg stehen. Putin mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und seinem militärischen Eingreifen in der Ostukraine und im Syrienkrieg, Präsident Xi mit völkerrechtswidrigen Gebietsansprüchen und militärischen Provokationen im südchinesischen Meer und Präsident Trump mit seiner Aufkündigung der vertraglichen Verpflichtungen der USA (TPP, WTO, Iranisches Atomabkommen, INF-Vertrag, WHO etc.). Überhaupt scheint diese sich herausbildende neue „Oligarchie der Autokraten“ in erster Linie bilaterale Beziehungen von Staat zu Staat statt komplizierter multilateraler Verhandlungen zu bevorzugen. Dabei muss man weniger Kompromisse schließen, sondern es gewinnt zumeist der Stärkere. In Moskau – und seit dem 20. Januar 2017 ganz offensichtlich auch in Washington – wird Außenpolitik zunehmend als Nullsummenspiel betrachtet, bei dem nationale militärische Stärke und Einflusszonen immer Vorrang vor vertragsgestützter, kooperativer Sicherheit haben.

Die USA unter Trump sehen in China eine durchweg revisionistische Macht, die im indo­pazifischen Raum nach regionaler und langfristig nach weltweiter Hegemonie strebt. Die Trump-Adminis­tration scheint infolge der Corona-­­Pandemie entschlossener denn je, den machtpolitischen und ideo­logischen Konflikt mit China offensiv auszutragen und hat mit der bisherigen Linie der China-Politik ge­brochen, die aus einer Mischung aus politischer und wirtschaftlicher Kooperation sowie militärischer Abschreckung bestand. Die global geführte Auseinandersetzung mit China ist ganz offensichtlich zu einem neuen strukturierenden Prinzip amerikanischer Außenpolitik geworden (Rudolf 2019). Ke­vin Rudd, der ehe­ma­li­ge aus­tra­li­sche Pre­mier­mi­nis­ter, warnte bereits, dass sich aus den Rui­nen des jet­zi­gen Zer­würf­nis­ses we­der ei­ne neue Pax Si­ni­ca noch ei­ne er­neu­er­te Pax Ame­ri­ca­na er­he­ben wer­de. Bei­de Staa­ten steu­er­ten vielmehr die Welt ei­nem höchst ge­fähr­li­chen Zu­stand „in­ter­na­tio­na­ler An­ar­chie“ ent­ge­gen (Rudd 2020).

Richtig ist, dass das China Xi Jinpings zunehmend machtpolitischen Gestaltungswillen zeigt und sich als global erfolgreiches, alternatives Entwicklungsmodell mit einem historischen Anspruch auf eine Führungsrolle im internationalen System präsentiert. Statt die Welt für sich einzunehmen, stößt China sie mit aggressivem Auftrumpfen zunehmend vor den Kopf. Peking beschwört den Freihandel und agiert doch in Wahrheit noch protektionistischer als Trumps USA. Hinter dem Handelskrieg, den Donald Trump führt, steckt ganz offensichtlich eine längerfristige „Containment-Strategie“, um Chinas weiteren Aufstieg zur Weltmacht zu bremsen und das Land einzudämmen. Dass die USA den ökonomischen und politischen Druck auf das Land erhöhen, ist nicht nur die Folge von Donald Trumps America-First-Agenda, sondern Ergebnis der aggressiveren Politik Pekings in den vergangenen Jahren. Denn Chinas KP hält sich nur dort an die Regeln, wo sie ihr passen. Auch die Seidenstraßen-Initiative ist keine völkerverbindende Nostalgie im Geiste Marco Polos, sondern knallharte Interessenpolitik, die aber zunehmend auf Widerstand stößt.

Es besteht aber kein Grund zur Panik oder gar für Sinophobie oder offene Aggressivität. China ist und bleibt zweifelsohne eine Herausforderung. Aber ob sein Aufstieg wirklich so unaufhaltsam ist, wie viele glauben, bleibt fraglich. Nach Angaben der Vereinten Nationen wird das alternde Land bis 2050 ein Drittel seiner Arbeitskräfte verlieren und als Ergebnis der Ein-Kind-Politik die älteste Bevölkerung unter den Industrieländern haben – die USA dagegen die zweitjüngste nach Indien. Wenn China langfristig wachsen will, ist es auf innenpolitische und internationale Stabilität angewiesen – ebenso wie auf die Technologie und die Absatzmärkte des Westens. Auch die Großprojekte, die Chinas Wirtschaft neuen Schwung geben sollten, sind keine Selbstläufer. Die „Neue Seidenstraße“ sollte der Volksrepublik Ressourcen und Absatzmärkte sichern, erweist sich aber bislang in vielen Ländern als Milliardengrab.

Ebenso wie der Aufstieg Chinas nicht unausweichlich ist, ist aber auch der schon häufig prophezeite Niedergang der Vereinigten Staaten nicht zwangsläufig, trotz Donald Trump und der offensichtlichen Schwächen und Dysfunktionalitäten des politischen Systems. Gerade gegenüber dem Rivalen China überwiegen die Stärken und langfristigen Machtvorteile der USA. Die Geographie, die Energievorkommen, der Dollar als Weltwährung, die Demographie, die technologische Dynamik, die Attraktivität seiner Spitzenuniversitäten bis hin zur militärisch-technologischen Suprematie, all dies spricht dafür, dass den USA – zumindest mittelfristig – keiner den Rang der größten und mächtigsten Macht wird streitig machen können.

Europa und der Rest der Welt sollten sich also weder in eine Hysterie über eine neue gelbe Gefahr hineinsteigern, noch das verfrühte Ende der USA an die Wand malen. Es ist aber höchste Zeit, die geballte Wirtschafts- und Regulierungsmacht Europas auch als Machtinstrument einzusetzen und eine klare Haltung gegenüber China und den USA zu beziehen, statt sich gegeneinander ausspielen zu lassen. Die EU hat mit ihrer neuen China-Strategie immerhin erstmals den Anspruch formuliert, China als eigenständiger und homogener Akteur gegenüberzutreten und dem chinesischen Weltordnungsmodell das europäische politische und gesellschaftliche Modell entgegenzusetzen und dessen Errungenschaften selbstbewusst zu verteidigen. Brüssel reagiert damit auch auf die widersprüchliche Politik Pekings, das die EU einerseits als Wirtschaftspartner und für den Aufbau einer „multipolaren Weltordnung“ umwirbt, andererseits mit regionalen Sonderformaten und bilateralen Verträgen deren Zusammenhalt zu untergraben versucht. In den vergangenen Jahren war es Peking immer wieder gelungen, einstimmige Beschlüsse der EU etwa zur Verurteilung der Menschenrechtslage in China zu verhindern, da Ungarn und Griechenland mehrfach per Veto eine gemeinsame Haltung der EU blockiert haben. Auch beim Thema „Freihandel“ hat Peking bislang vor allem leere Versprechungen gemacht, statt endlich mit der Öffnung seines Marktes ernst zu machen und die Benachteiligung ausländischer Unternehmen zu beenden. Reziprozität, also gleiche Bedingungen, lautet hier die zentrale Forderung der EU, denn nach wie vor sind europäische Unternehmen weitgehend vom chinesischen Markt ausgeschlossen.    

Zurzeit ist China beides zugleich – strategischer Partner und systemischer Rivale. In welche Richtung das Pendel letztlich ausschlagen wird, hängt nicht zuletzt vom künftigen Verhalten Pekings ab. Auch ich habe als Mitglied und Delegationsleiter des deutsch-chinesischen Sicherheitsdialoges das zunehmend wachsende Selbstbewusstsein der Vertreter der KP Chinas bei unseren jährlichen Treffen in Peking beobachten können. Das Verhalten Pekings während der Corona-Pandemie dürfte das weltweite Misstrauen gegenüber dem Land weiter wachsen lassen. Es besteht kein Zweifel daran, dass China aktuell versucht, die Covid-Krise zu seinem geopolitischen Vorteil zu nutzen. Es spricht auch vieles dafür, dass sich die Pandemie besser hätte eindämmen lassen, wenn China nicht den Informationsfluss gebremst hätte. Der BND geht davon aus, dass durch die Informationspolitik Pekings vier bis sechs Wochen verloren gegangen sind.

In der Corona-Krise haben weder die alte noch die neue Weltmacht besonderen Vorbildcharakter oder gar ein überzeugendes Modell der Krisenbewältigung gezeigt. Amerika zeigt sich gelähmt durch politisches Missmanagement und gesellschaftliche Spaltung und China wirkt abstoßend durch Repression, Desinformation und diplomatische Übergriffigkeit. „Angesichts der Quacksalberei und Inkompetenz des Chefs im Weißen Haus sind Rufe nach amerikanischer Führung selbst unter den transatlantischen Partnern verstummt.“ (Lau 2020) Doch Donald Trump ist beileibe nicht allein. Die autoritäre „Internationale der Populisten“ (Mützenich 2014) eskaliert die Corona-Krise überall auf der Welt, vorneweg Jair Bolsonaro in Brasilien und Wladimir Putin in Russland. Das autoritäre Prinzip wirkt in dieser Krise offenbar wie ein Katalysator, es befördert das Virus und das Virus wiederum fördert das Autoritäre. 

Angesicht dieser Bestandsaufnahme ist die Versuchung groß, in den resignativen Seufzer des schwedischen Staatsmannes Axel Oxenstierna (1583–1654), „Du weißt nicht, mein Sohn, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird“, miteinzustimmen. Der Kampf gegen die postfaktischen Populisten, Nationalisten und Rassisten innerhalb und außerhalb Europas ist jedoch wichtiger denn je, mögen sie nun Trump, Putin, Bolsonaro, Erdogan, Orbán oder Kaczynski heißen. Denn die Krise der Europäischen Union, des Atlantizismus und der liberalen Weltordnung kann nicht mit den Rezepten von vorgestern, mit nationalen Alleingängen, Abschottung und Protektionismus gelöst oder bekämpft werden.

4. Europas Selbstbehauptung in einer Welt der autoritären Populisten

Die Pandemie hat uns nachdrücklich vor Augen geführt, dass die internationalen und globalen Herausforderungen für Europa und erst recht für Deutschland zu groß sind. Um sie zu lösen, müssen wir auch versuchen, die autoritären Welt- und Großmächte China und Russland soweit möglich mit einzubeziehen. Dies kann jedoch kein Ersatz für eine erneuerte und gleichberechtigte transatlantische Partnerschaft sein. Trump ist nicht das ganze Amerika und er wird nicht ewig regieren. Am 3. November 2020 werden die Amerikaner die wohl wichtigste Wahl in ihrer Geschichte treffen. Und Wladimir Putin ist gerade dabei, sich seine Amtszeit bis 2036 verlängern zu lassen. Angesichts dieser Aussichten muss Europa – so pathetisch es klingen mag – sein Schicksal stärker in die eigenen Hände nehmen. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch (sicherheits-) politisch.

Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir an den über Jahrzehnten geschaffenen Regeln und Normen der internationalen Politik festhalten, sie stärken und anpassen. Wir brauchen eine internationale Ordnung, die auf gemeinsame Interessen, auf Einvernehmen, auf Kooperation, Mitgestaltung und friedlichen Wandel gründet. Diese Errungenschaften dürfen trotz aller Rückschläge und Bedrohungen nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Die globalen Zukunftsaufgaben sind nicht durch nationalistische Alleingänge, sondern nur gemeinsam zu bewältigen.

Durch den Rückzug der USA und das mediale Dauerfeuer von Donald Trump; die Bedrohungen von Innen durch den Brexit und die illiberalen Populisten und nicht zuletzt die Herausforderungen und Destabilisierungsversuche von außen durch China und Russland ist die EU im vergangenen Jahrzehnt mächtig unter Druck geraten. Doch darin liegt auch eine Chance. Die Bewältigung der Corona-Krise und die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 bieten ein „Fenster der Gelegenheit“. Auch wenn es vermutlich zu früh ist, von einem „Hamilton-Moment“ zu sprechen, kann das Wiederaufbaupaket der EU in Höhe von 750 Milliarden Euro als Blaupause nicht nur für den Wiederaufbau, sondern auch für ein starkes und geeintes Europa dienen. Und auch dabei wird es wieder auf Persönlichkeiten ankommen.

 

Literatur

Güsten, Susanne. 2020. Erdogans Regierung teilt erneut gegen Zivilgesellschaft aus. Der Tagesspiegel, 02.05.2020.

Krastev, Ivan. 2020. Kollektiver Selbstmord. Die EU muss alles dafür tun, dass London engster Verbündeter bleibt. DIE ZEIT, 30.01.2020.

Lau, Jörg. 2020. Donald gegen den Drachen. Der Konflikt zwischen Washington und Peking ist kein neuer Kalter Krieg. China nutzt geschickt die Schwäche der wankenden Supermacht. DIE ZEIT, 20.05.2020.

Mützenich, Rolf. 2014. Die Internationale der Populisten. IPG. https://www.ipg-journal.de/kolumne/artikel/die-internationale-der-populi.... Zugegriffen: 16.06.2020.

NATO. 2014. Gipfelerklärung von Wales. Treffen des Nordatlantikrats auf Ebene der Staats- und Regierungschefs in Wales. Veröffentlicht am 5. September 2014.

Oldenburger Onlinezeitung. 2020. Mützenich droht Ungarn wegen Notgesetzen mit Kürzung von EU-Mitteln. https://www.oldenburger-onlinezeitung.de/nachrichten/muetzenich-droht-un.... Zugegriffen: 16.06.2020.

Rudd, Kevin. 2020. The Coming Post-COVID Anarchy. The uncomfortable truth is that China and the United States are both likely to emerge from this crisis significantly diminished. Foreign Affairs. https://www.foreignaffairs.com/articles/united-states/2020-05-06/coming-.... Zugegriffen: 16.06.2020.

Rudolf, Peter. 2019. Der amerikanisch-chinesische Weltkonflikt. SWP-Studie 2019/S 23.

Steinweg, Reiner und Christian Wellmann, Hrsg. 1990. Die vergessene Dimension internationaler Konflikte: Subjektivität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.

[1] Die Kopenhagener Kriterien sind die 1993 in Kopenhagen vom Europäischen Rat festgelegten Voraussetzungen, die beitrittswillige Länder erfüllen müssen, um Mitglied der EU zu werden. Dazu gehören u.a. stabile demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte und Minderheitenschutz, eine funktionierende und wettbewerbsfähige Marktwirtschaft und die Übernahme des gesamten EU-Rechts.

[2] Im Ju­li 2014 hielt der un­ga­ri­sche Mi­nis­ter­prä­si­dent Vik­tor Orbán sei­ne all­jähr­li­che Grund­satz­re­de bei ei­ner Som­mer­uni­ver­si­tät in Sie­ben­bür­gen. Er ver­kün­de­te, aus Un­garn ei­nen „il­li­be­ra­len Staat“ ma­chen zu wol­len; auf un­gläu­bi­ge Nach­fra­gen prä­zi­sier­te er, da­mit sei in der Tat auch ei­ne „il­li­be­ra­le De­mo­kra­tie“ ge­meint.

 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Einsichten aus der politischen Praxis eines Außenpolitikers
Veröffentlicht: 
In: Ohnesorge, Hendrik W. und Gu, Xuewu (Hrsg.), Der Faktor Persönlichkeit in der internationalen Politik: Perspektiven aus Wissenschaft, Politik und Journalismus. Heidelberg, 2021. S.173-188