ESVP und der Primat des Zivilen

Europa wird sich bald eine eigene Verfassung geben.

Dies ist ein historischer Meilenstein. Kriege, Vertreibungen und Misstrauen gehören damit endgültig der Vergangenheit an. Demokratische Teilhabe, Rechtssicherheit, soziale Gerechtigkeit und Gewaltenteilung treten an die Stelle einer schrecklichen Vergangenheit. Ein nie zuvor gekanntes politisches Gebilde wird für künftige Generationen zur Selbstverständlichkeit. Europa wird sich primär als eine zivile Macht konstituieren.

Die Diskussionen und die Entscheidungen über eine europäische Verfassung finden in einer Zeit statt, in der sich das internationale System wandelt. Möglicherweise sind wir Zeugen eines elementaren Bruchs, der aus einem unterschiedlichen Sicherheitsempfinden auf beiden Seiten des Atlantiks resultiert. Man kann dies in einem Bild skizzieren: Das Zahlenpaar 9 und 11 ist in Europa und in den USA mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen verbunden: In der amerikanischen Kalenderschreibweise steht die Kombination nine-eleven für den 9. September 2001, dem Tag der Anschläge in New York und in Washington. Dagegen markiert der 9.11. in Europa das Ende des Ost-West-Konflikts und den Beginn der deutschen und europäischen Wiedervereinigung.

Hinter diesem Bild einer zufällig gleichen Zahlenverknüpfung verbirgt sich somit eine unterschiedliche Sicht auf die internationale Politik: Für Europa ist die Öffnung der innerdeutschen Grenze das entscheidende Datum für den Beginn eines geistigen und institutionellen Zusammenwachsens zwischen West und Ost. Die gemeinsamen Erfahrungen noch während der ideologischen Teilung des Kontinents basieren auf Kooperation, Ausgleich und Verständigung. Für die USA ist dagegen seit dem Morgen des 11. Septembers nichts mehr so, wie am Abend zuvor. Seitdem symbolisiert der 9.11. die Bedrohung der Vereinigten Staaten durch internationalen Terrorismus, autoritäre Regime sowie die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägermitteln. Nine/eleven steht allerdings auch für den endgültigen Durchbruch einer neuen Sicherheitsdoktrin. Die Regierung in Washington hat angesichts einer unerreichbaren Stärke und einer veränderten Sicherheitslage die Schlussfolgerung gezogen, auf jegliche Bedrohung der eigenen Handlungsfähigkeit reagieren zu müssen - auch mit (einseitiger) militärischer Gewalt. Regelwerke und internationale Organisationen werden nur so lange akzeptiert, wie sie die Autonomie der USA nicht begrenzen.

Im Gegensatz zu Europa sind die amerikanischen Entscheidungsträger zu der Überzeugung gelangt, dass das Ende des Ost-West-Konflikts allein durch die eigene Überlegenheit bewirkt wurde. Kann Europa die zukünftige Weltordnung mit den eigenen Erfahrungen und einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) beeinflussen? Welche Antworten halten die Mitglieder des Konvents und die Staats- und Regierungschefs bereit? Im Verfassungsentwurf werden in drei Artikeln die Bestandteile einer europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik erörtert. Demnach entwickelt die Union aufgrund gemeinsamer Interessen eine Schrittfolge, an deren Ende europäische Außenpolitik nationale Außenpolitik ablöst. Die Erörterungen und die Entscheidungen finden im Europäischen Rat und im Ministerrat statt. Beschlüsse werden einstimmig gefasst. Mit Hilfe zugewiesener oder eigener Mittel gestaltet die Union die europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Entsprechende Operationen stützen sich auf zivile und militärische Fähigkeiten. In einer Beistandsklausel sind weitere Verpflichtungen festgehalten. Zivile und militärische Mittel greifen also ineinander. Das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen wird gestärkt, weil Missionen außerhalb der Grenzen der Union nur dann möglich sind, wenn der Sicherheitsrat derartige Operationen autorisiert.

Obgleich der Entwurf für eine europäische Verfassung zweifelsohne Elemente für eine multilaterale Weltordnung beinhaltet, stellen sich dennoch Fragen hinsichtlich der gegenwärtigen Praxis. Zurecht schließt die ESVP seit dem Grundsatzbeschluss vom Dezember 1999 eine militärische und nicht-militärische Komponente ein. Letztere umfasst die Bereitstellung von Polizei, Rechts- und Verwaltungsexperten sowie von Mitgliedern aus dem Bereich des Katastrophenschutzes. Während der militärische Aufbau im Rahmen der ESVP rasch voranschreitet und durch die Verfassung einen weiteren Schub erhalten wird, ist die Entwicklung eines breitgefächerten zivilen Ansatzes jedoch ins Stocken geraten. Die Mission im Kongo bedarf beispielsweise in jedem Fall einer (späteren) nicht-militärischen Begleitung. Damit würde sich das europäische Eingreifen von dem der USA abheben und den Bemühungen der UN zuarbeiten. Es hätte einen schlechten Beigeschmack, würde die ESVP lediglich nach dem Motto verfahren: Was die USA oder die NATO kann, können wir auch. Darüber hinaus ist nach dem allgemeinen Charakter einer solchen Politik zu fragen. Außenminister Fischer unterstellt, dass eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Lackmustest dafür ist, ob die europäischen Staaten "partnerschaftsfähig" sind. Dies stellt die historische Entwicklung der Union allerdings auf den Kopf, standen doch ursprünglich ganz andere Aspekte der Gemeinschaftsbildung im Vordergrund. Der zivile Charakter der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik wird sich auch daran messen lassen müssen, welche Aufgaben dem "Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten" zugewiesen werden.

Es ist zumindest ungewöhnlich, dass eine solche Institution Verfassungsrang erhält. Solange das Amt Synergieeffekte ermöglicht, ist an dieser Zuweisung nichts auszusetzen. Problematisch wäre dagegen, wenn die Einrichtung die militärischen Fähigkeiten nur auf die Luft- und Raumfahrtindustrie konzentriert. Europa braucht nicht in erster Linie satellitengestützte Fähigkeiten, sondern Truppen, die im Rahmen von Friedenseinsätzen schnell verlegt und eingesetzt werden können. Und letztlich wird sich die Frage der demokratischen Kontrolle stellen. Das Europäische Parlament hat zwar ein Anhörungsrecht, erforderlich wäre aber ein Mitwirkungs- und Entscheidungsrecht. Eine Außen- und Sicherheitspolitik, die sich als zivile Gestaltungsmacht versteht, muss vom Vertreter des Souveräns kontrolliert und gegebenenfalls korrigiert werden können. Hier muss der Verfassungsentwurf noch nachgebessert werden.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Verfassung für Europa; Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Veröffentlicht: 
Berlin, 24.06.2003