Die Einigung zwischen Fatah und Hamas - palästinensischer Frühling oder politische Totgeburt?
Bislang schien im Nahen Osten ein ungeschriebenes Gesetz zu gelten, das da lautete: Ohne die Lösung des israelisch-palästinensischen Kernkonflikts werde in der Region nichts vorangehen. Dieses "Expertenpostulat" wurde durch den arabischen Frühling ebenso eindrucksvoll widerlegt, wie das Bild von den apathischen und unpolitischen Massen, die sich mit ihren autoritären Unterdrückungsapparaten abgefunden zu haben scheinen. Die Menschen auf den Straßen haben zudem die These, arabische Staaten seien nicht demokratiefähig, als Vorurteil entlarvt. Sie wollen kein Kalifat und auch keine andere Theokratie, sondern ein Leben in Würde, mit individuellen Rechten und demokratischen Freiheiten - und Chancen auf Wohlstand und Fortkommen. Doch auf dem weiten Weg zum neuen Nahen Osten türmt sich immer noch das alte Kernproblem der Region auf: der israelisch-palästinensische Konflikt. Auch dem amerikanischen Präsidenten Obama ist es nach fast zweieinhalb Jahren im Amt trotz vieler Ankündigungen nicht gelungen, Israel und die Palästinenser an den Verhandlungstisch zu bringen. Gescheitert ist er dabei vor allem an Benjamin Netanjahu.
Die Einigung von Kairo
Angesichts dieser Sackgasse kam es für viele überraschend, als die palästinensischen Fraktionen Fatah und Hamas in Kairo am 04. Mai 2011 verkündeten, den jahrelang andauernden Konflikt beider Parteien mit einem Einheitsabkommen beenden zu wollen. Vier Jahre der innerpalästinensischen Zerrissenheit zwischen dem Westjordanland und dem Gazastreifen sollten durch eine neue Übergangsregierung endlich beendet werden.
Während die Einigung in den Palästinensischen Gebieten als politischer Durchbruch gefeiert wurde, stand die internationale Gemeinschaft der palästinensischen Versöhnung mit gemischten Gefühlen gegenüber. Die Skepsis ist nicht unbegründet. Denn die die mit großem Aplomb angekündigte palästinensische Einheit steht bislang nur auf dem Papier. Die wochenlang andauernden Gespräche und Verhandlungen zur Bildung der neuen Übergangsregierung haben bisher lediglich zu einer nicht enden wollenden Abfolge von ernüchternden Aufschüben geführt. Die Streitigkeiten in den Palästinensischen Gebieten gehen fast ungebremst weiter. Die größte Hürde ist nach wie vor die Ernennung eines neuen Premierministers. In Kairo einigten sich die Fraktionen auf ein Kabinett von Technokraten, das unabhängig von Parteiprogrammen Wahlen und den Wiederaufbau des Gazastreifens in Angriff nehmen sollte. Trotz dieses technokratischen Ansatzes stellt sich die Suche nach einem Premierminister als hochgradig schwierige und äußerst umstrittene Kraftprobe dar. Dabei handelt es sich zweifelsohne um eine Schlüsselposition, deren Besetzung schon deswegen besonders wichtig ist, um die internationalen Geldgeber der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) nicht zu verschrecken.
Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas hat sich deshalb deutlich für eine weitere Amtsperiode des derzeitigen Premierministers Salam Fayyad ausgesprochen, der folglich auch zum offiziellen Fatah-Kandidaten gekürt wurde. Der ehemalige IWF-Ökonom hat sich in den vergangen Jahren große internationale Anerkennung für seine Politik des Staatsaufbaus erworben. Das Westjordanland konnte zuletzt Wachstumsraten im zweistelligen Bereichen vorweisen. Ungeachtet dessen lehnt die Hamas Fayyad als einen »Handlanger der USA« ab und versucht damit offensichtlich, ihre Verhandlungsmasse bei der Besetzung anderer wichtiger Ministerposten zu vergrößern. Dabei kommt der Hamas die Skepsis einzelner Fatah-Funktionäre gegenüber Salam Fayyad gerade recht.
Auch bei weiteren Fragen dominieren fundamentale Meinungsverschiedenheiten. Zwar haben sich beide Seiten in Kairo auf die Einrichtung eines "Höheren Sicherheitsrates" verständigt, der die Zusammenführung der Sicherheitskräfte organisieren und koordinieren soll, zugleich machen beide Seiten keinerlei Anstalten, die Kontrolle über ihre jeweiligen Sicherheitsapparate abzugeben. Auch in der Frage der politischen Gefangenen gibt es bislang keinerlei Bewegung - sie bleiben weiterhin in Haft.
Die Umsetzung des Einheitsabkommens droht zudem an administrativen Hürden zu scheitern. So bleibt nach wie vor unklar, wie die bislang verabschiedeten Gesetzesvorhaben in Gaza und in der Westbank harmonisiert werden können. Schließlich hat das in Gaza tagende Rumpf-Parlament der Hamas seit 2007 dutzende Gesetze verabschiedet, die das öffentliche Leben in Gaza nachhaltig geprägt haben, gleiches gilt für Ramallah. Ein Ende des legislativen und administrativen Neben- und Durcheinander ist deshalb nicht in Sicht. Zudem stellt sich die Frage, wie mit den zehntausenden überflüssigen Staatsdienern zu verfahren ist. Angesichts der anhaltend hohen Arbeitslosenquote ist dies eine Frage, die über Wohl und Wehe tausender Familien entscheidet.
Auch die in Kairo geweckte Hoffnung auf demokratische Wahlen in den Palästinensergebieten scheint sich nicht zu erfüllen. Obwohl im Einheitsabkommen vereinbart wurde, binnen Jahresfrist vor die Wähler zu treten, ist der einzige konkrete Schritt zu dem man sich bislang entschließen konnte, die Verschiebung der ursprünglich für den Sommer angesetzten Kommunalwahlen auf unbestimmte Zeit. Dies schwächt nicht nur die Autorität von Mahmud Abbas, sondern die Demokratie in Palästina insgesamt. Die Palästinenser bewegen sich derzeit in einem Dreieck aus Zoll- und Währungsunion mit Israel, massiver Subventionierung durch westliche Geberländer und einer Vielzahl verdeckter und illegaler Finanzströme, über welche auch der Iran und Syrien politisch Einfluss nehmen. Der Libanon sollte allen als Warnung dienen.
Auf dem Weg zu einem palästinensischen Staat?
Eines steht jedenfalls fest: Ein Einheitsabkommen, welches das Papier nicht wert ist, auf dem er unterzeichnet wurde, schwächt nicht zuletzt das politische Momentum der Palästinenser im Hinblick auf den Gang vor die Vereinten Nationen im September diesen Jahres. Zwar wurde dieser Staat schon 1988 in Algier vom damaligen PLO-Chef Jassir Arafat ausgerufen, ließ aber alle Eigenschaften einer Staatlichkeit vermissen. Dennoch firmiert die PLO-Delegation bei den Vereinten Nationen unter "Palästina" und hat mehr Rechte als andere bei den UN vertretenen Organisationen. In den vergangenen Jahren erreichte die Palästinensische Autonomiebehörde Anerkennung bei über 100 Staaten der Welt.
Für eine offizielle Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen sieht die Charta der Völkergemeinschaft ein klares Prozedere vor. Zunächst müssen mindestens zehn der 15 Mitglieder des Sicherheitsrates mit Ja stimmen, und keines der fünf ständigen Mitglieder darf sein Veto einlegen. Damit empfiehlt der Sicherheitsrat quasi die Aufnahme. Ist diese Hürde genommen, muss die UN-Vollversammlung aller 192 Staaten mit zwei Dritteln ihrer Stimmen die Aufnahme befürworten. Die zweite Hürde scheint für die Palästinenser leichter zu nehmen - nach ersten Schätzungen könnte Abbas mit bis zu 150 Stimmen rechnen. Nach dem heutigen Stand werden aber die USA im UN-Sicherheitsrat ihr Veto einlegen. Großbritannien und Frankreich haben sich noch nicht festgelegt.
Sollte die Aufnahme am UN-Sicherheitsrat scheitern, bestünde theoretisch die Möglichkeit, dass die Vollversammlung in einer eigenen ?Uniting für peace?-Resolution die Aufnahme Palästinas beschließt. Dieses Verfahren ist für dringende Fälle vorgesehen, in denen sich der Sicherheitsrat wegen eines Streits unter den ständigen Mitgliedern als unfähig erweist, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Die Vollversammlung könnte auch beschließen, dass die Palästinenser bei den Vereinten Nationen einen Status erhalten, wie ihn derzeit der Vatikan-Staat hat (und bis zu ihrem Beitritt 2002 die Schweiz) innehatte. Damit ließen sich auch Rechte verbinden, die sonst nur Staaten zukommen, wie der Beitritt zum Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Das ist den Palästinensern ein Anliegen, weil sie in Den Haag gerne mutmaßliche israelische Kriegsverbrechen verfolgt sähen. Als ?Beobachterstaat? ließe sich später mit der Hilfe der UN-Vollversammlung auch leichter ein neuer Antrag auf Vollmitgliedschaft stellen, falls es in diesem September nicht klappen sollte.
Die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft
Die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft auf das Fatah-Hamas-Abkommen sind bislang zurückhaltend bis skeptisch. Die Versuche, Palästinenser und Israelis an den Verhandlungstisch zurückzubringen, damit es nicht im September bei den Vereinten Nationen zur großen Konfrontation und danach möglicherweise zu einem neuen Ausbruch der Gewalt kommt, wirken fast schon verzweifelt.
Eine Schlüsselrolle spielen ohne Zweifel die USA und Israel. Die jüngste Nahost-Rede des amerikanischen Präsidenten Obama war ein wichtiges Signal: Obama hatte sich in seiner Ansprache erstmals öffentlich für einen israelischen Rückzug auf die "Linien von 1967" eingesetzt und damit die palästinensische Position unterstützt. Zugleich sprach sich der amerikanische Präsident für einen Gebietsaustausch in beiderseitigem Einvernehmen aus ? auch wenn der israelische Ministerpräsident Netanjahu diesen Vorschlag sofort als inakzeptabel zurück. Zudem hatte Obama empfohlen, zunächst über Grenzen und Sicherheit zu verhandeln und über die Frage der palästinensischen Flüchtlinge und die Jerusalemfrage erst später zu reden.
Die internationale Gemeinschaft nennt vier Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen: Eine Einigung über die Grenzen, basierend auf den Grenzlinien von 1967, die allerdings deutlich durch Landtausch verändert werden müssten, um bestimmte israelische Siedlungen unberührt zu lassen und der palästinensischen Forderung nach Land gerecht zu werden. Zweitens ein Abkommen, das die Sicherheitsbedürfnisse beider Seiten befriedige. Drittens eine "gerechte, faire und einhellige Lösung der Flüchtlingsfrage". Und viertens eine Verhandlungslösung, um den Status von Jerusalem "als die künftige Hauptstadt beider Staaten" zu lösen.
Israel hingegen scheint in autistischer Starre verfallen zu sein. Man hat offenbar keinerlei Strategie, wie man auf die Umbrüche in der arabischen Welt reagieren soll.
Netanjahu selbst hat zudem in Washington nur eines deutlich gemacht: Ihm geht es um die Innenpolitik und seine Koalition. M.a.W.: Viel Bewegungsspielraum gibt es für ihn nicht. In der Frage des israelischen Siedlungsbaus, des Status von Jerusalem und die Anerkennung der Grenzen von 1967 gibt es auf israelischer Seite faktisch keinerlei Bewegung. Netanjahu hat in Washington den amerikanischen Präsidenten brüskiert und die palästinensische Seite desavouiert und provoziert. Die israelische Seite droht einen Fehler historischen Ausmaßes zu machen. Denn der arabische Aufbruch - egal, ob er zum Ziel führt oder stecken bleibt - macht einen Friedensschluss zwischen Israel und den Palästinensern nur noch dringlicher. Doch statt endlich aktiv mit ihren Freunden zusammenzuarbeiten, spielt die Regierung in Jerusalem auf Zeit. Die israelische Obstruktionspolitik lässt den Palästinensern in ihren Augen keine andere Wahl, als im September in der UN Generalversammlung für einen Staat in den Grenzen von 1967 zu werben.
Ausblick
Die andauernde Verschleppung und Uneinigkeit auf palästinensischer Seite hat der internationalen Gemeinschaft bislang die alles entscheidende Gretchenfrage zum Umgang mit der Hamas erspart. Europa und Deutschland handeln in dieser Situation zu zögerlich. Sie müssen stärker als bisher die Hamas und die Fatah ermutigen, eine Regierung der nationalen Einheit der Palästinenser zu bilden. Denn ohne die Einbindung der Hamas kann ein Friedensabkommen nicht gelingen. Dabei gehören die Anerkennung des Existenzrechts Israels, ein Gewaltverzicht und die Einhaltung der geschlossenen Verträge zu den Kriterien der künftigen Zusammenarbeit. Spätestens wenn diese erfüllt sind, muss das Gesprächsverbot gegenüber der Hamas aufgehoben werden. Die Politik der Bundesregierung, die Anerkennung eines palästinensischen Staates in der UN-Vollversammlung bereits jetzt auszuschließen, ist ein Fehler. Es bleibt zu hoffen, dass sie ihre negative Vorfestlegung gegen die palästinensischen Bemühungen bei den Vereinten Nationen aufgibt und statt dessen alle Wege offen hält, die zu einer gemeinsamen europäischen Haltung führen können, einschließlich der Option, von europäischer Seite das palästinensische Ansinnen dann zu unterstützen, wenn Friedensgespräche bis dahin nicht begonnen haben und sich die künftige palästinensische Regierung dazu bekennt, dass sie das Existenzrecht Israels anerkennt, Gewaltverzicht garantiert und der Gültigkeit der bisherigen Abkommen zustimmt. Ebenfalls ein Ausweg könnte eine Sicherheitsratsresolution basierend auf der Erklärung von Februar 2011 sein, die Großbritannien auch mit Zustimmung Deutschlands im Sicherheitsrat vorgetragen hatte.
Wenn eine Wiederaufnahme von Friedensgesprächen vor Beginn der nächsten Generalversammlung nicht zustande kommt, dann scheint der Gang der Palästinenser zu den Vereinten Nationen nicht mehr abwendbar zu sein.
Es bleibt nur zu hoffen, dass sich das berühmte Zitat, "die Palästinenser versäumen niemals eine Gelegenheit, eine Gelegenheit zu verpassen" (the Palestinians never miss an opportunity to miss an opportunity) nicht ein weiteres Mal bewahrheitet - und zwar auch in Bezug auf die israelische Seite. Ob der palästinensische Frühling tatsächlich zu einer Einheitsregierung und zu einer Ausrufung eines palästinensischen Staates bei der UN-Vollversammlung im September 2011 führen wird, steht derzeit jedenfalls in den Sternen.